Darts-Weltmeisterschaft - Pfeile und herrsche
Die alljährlich zwischen den Jahren stattfindende Darts-WM hat längst die deutschen Wohnzimmer erreicht. Warum der ehemalige Kneipensport so populär ist und dabei sogar vor einem deutschen Naturgesetz nicht Halt macht. Von Ilja Behnisch
Sollen Sie doch erzählen, was sie wollen, die ganzen Darts-Experten. Davon, was für hart und diszipliniert trainierende Athleten das inzwischen sein sollen, diese Darts-Profis. Es bleibt dabei: Dicke Männer sind dicke Männer sind dicke Männer. Und dicke Männer sind nunmal die Ausnahme im Spitzensport. Aber Darts ist ohnehin eine Ansammlung der Ausnahmen und Merkwürdigkeiten.
Der Name zum Beispiel. Darts. Stammt aus dem Französischen und bedeutet so viel wie Wurfspieß oder Speer. Macht auch Sinn, schließlich zielen die dicken Männer mit ihren bis zu 30,5 Zentimeter langen und maximal 50 Gramm schweren Pfeilen auf eine 2,37 Meter entfernte und im Durchschnitt 45 Zentimeter breite Scheibe mit einer Spielfläche von rund 34 Zentimeter im Durchmesser. Was weniger Sinn macht: Dass Darts in Frankreich nicht Darts heißt, sondern "Fléchettes". Aber gut. In Frankreich ist es bis heute streng genommen verboten, sich auf Bahnsteigen zu küssen. Dafür rechtlich möglich, Tote zu heiraten. Vielleicht kann man nicht alles dem Darts-Sport anlasten.
Populär auch ohne deutschen Ausnahmekönner
Der ja auch über die Wortklauberei hinaus so seine Merkwürdigkeiten zu bieten hat. Eine der merkwürdigsten Merkwürdigkeiten: auch in Deutschland ungemein populär zu sein. Und das ganz ohne deutschen Ausnahme-Könner bislang. Denn machen wir uns nichts vor, TV-Deutschland hatte bisher vor allem dann Interesse an einem Sport, wenn die Deutschen dem Rest der Welt zeigten, wie der so geht. So war es bei Steffi Graf und Boris Becker im Tennis. So war es bei Michael Schumacher und Sebastian Vettel in der Formel 1. So ist es beim Biathlon, Skispringen und Basketball.
Darts ist die Ausnahme. Auch wenn der Deutsche Gabriel Clemens im vergangenen Jahr überraschend das Halbfinale der Weltmeisterschaft erreichte und gleich mal eine Rekord-Einschaltquote von 11,8 Prozent mit sich brachte. Doch auch das Finale ohne deutsche Beteiligung landete in ähnlichen Sphären. So wie der alljährliche WM-Wahnsinn im Londoner "Ally Pally", wie der altehrwürdige und einst als Freizeit- und Erholungspark erbaute Alexandra Palace liebevoll genannt wird, schon seit einigen Jahren zur Pflicht-Veranstaltung für Sport-Fans geworden ist. Aber warum eigentlich?
Gemacht von einem Pfiffikus
Eine Antwort darauf hört auf den Namen Barry Hearn, mittlerweile 75 Jahre alt. Ein umtriebiger Sport-Vermarkter ist das, aufgewachsen in einer Sozialwohnung in Dagenham, London. Der Vater Busfahrer, die Mutter Reinigungskraft und er, Barry, ein Pfiffikus. Ein Selfmade-Mann, der erst als Wirtschaftsprüfer Karriere machte und dann in die Vermarktung von Freizeit-Sportarten wechselte.
Der Boom des Darts-Sports ist vor allem auch sein Vermächtnis. Hearn machte die Professional Darts Corporation (PDC), den Ausrichter-Verband der Weltmeisterschaft im "Ally Pally", zur Nummer eins im Darts und Darts zu einem Massen- und Kult-Event. Er baute seinen Schützling, den Rekord-Weltmeister Phil Taylor, zur weltweiten Marke mit dem Nimbus der Unbesiegbarkeit auf. Er holte Darts raus aus der Kneipen-Ecke und rauf auf die große Bühne. Vor allem aber fand er mit der Weltmeisterschaft zur Weihnachtszeit: die perfekte Nische.
Darts läuft außer Konkurrenz
Das liegt an der besonderen Party-Atmosphäre im "Ally Pally". An den (oft witzigen) Gesängen und den schrillen Outfits und Verkleidungen, die zum guten Ton gehören, sobald man Zuschauer bei der Darts-WM ist. An den schmissigen Einlauf-Hymnen der Spieler und ihren teils beknackten Spitznamen ("Snakebite", "Dreamboy", "The Samurai").
Und weil es sonst nichts gibt. Es ist das alte Dorf-Kneipen-Phänomen. Wohin zieht es die Menschen, wenn es nur einen Ort gibt, in den es die Menschen ziehen kann? Eben. Die Darts-WM läuft quasi außer Konkurrenz. Zwischen den Jahren und dann vor allem abends, wenn der Wintersport im Traum die Skier wachst. Und König Fußball (außer in England, aber das ist eine andere Geschichte) pausiert.
Es ist der perfekte Fernseh-Sport für die Feiertage. Frei nach Harald Juhnke: Leicht einen sitzen und Darts im TV. Vor allem in den späteren Runden der Weltmeisterschaft, die dieses Jahr vom 15. Dezember bis zum 3. Januar läuft, vor allem zwischen Weihnachten und Neujahr also, ist Darts der perfekte Freizeitausgleich vom Familienstress der Feiertage. Mit jeder Menge Erholungsinseln.
Käseplatten und Nerven
501 heißt die Spielform der Darts-Profis. Wer diese Anzahl an Punkten zuerst auf exakt Null gestellt hat (und das zum Schluss unbedingt mit einem Wurf auf ein Doppelfeld), gewinnt ein sogenanntes Leg. Wer drei Legs gewonnen hat, gewinnt einen Satz. Im Viertelfinale ("Best of Nine") etwa benötigt ein Spieler fünf gewonnene Sätze oder 15 Legs, um eine Runde weiterzukommen. Im Halbfinale ("Best of 11") und Finale ("Best of 13") dauert die Sache länger.
Viel Zeit also, sich nochmal vom Rotwein nachzuschenken, die Käseplatte auf Lücken zu überprüfen und neue Techniken der Salzstangen-Aufnahme zu testen. Ehe es dann in den entscheidenden Momenten ja tatsächlich großen (Nerven-)Sport zu sehen gibt. Dessen Bewunderung leicht herzustellen ist.
Schließlich hat vermutlich jeder, der da zuschaut, schon einmal versucht, eine "180" zu werfen. Also die höchste Gesamt-Punktzahl im Darts, die mit den drei Pfeilen eines jeden Durchgangs zu erreichen ist. Die erreicht wird, nachdem man aus 2,37 Metern Entfernung drei Mal hintereinander ein acht Millimeter breites Feld getroffen hat. Die von Hobby-Spielern äußert selten bis überhaupt nie erreicht wird. Niemand weiß, wie sich ein Zweikampf mit Lionel Messi wirklich anfühlt. Wie schwer es ist, eine "180" zu werfen, kann man hingegen leicht herausfinden.
Ob mit dickem Bauch oder ohne.
Sendung: rbb24 Inforadio, 23.12.2023, 7:15 Uhr