Interview | Pianist und Komponist Stephan Graf von Bothmer - "Je spannender das Spiel ist, desto dramatischer wird die Musik"
Normalerweise vertont Stephan Graf von Bother Stummfilme. Aktuell begleitet er EM-Spiele auf Orgel und Klavier. Ein Gespräch über Public Viewing in Kirchen, Dur-Akkorde nach Toren, tanzende Spieler und den Rhythmus der deutschen Mannschaft.
rbb|24: Herr von Bothmer, wie klingt ein Tor beim Fußball, wenn Sie an der Orgel sitzen?
Stephan Graf von Bothmer: Ein Tor ist natürlich ein Jubelmoment. Da muss natürlich erst mal Dur gespielt werden, zwei oder drei Dur-Akkorde hintereinander, die besonders jubelnd sind. Und dann spiele ich meistens die Nationalhymne von dem Land an, das das Tor geschossen hat. Wenn das nicht funktioniert oder zu viel wird, spiele ich auch mal "Freude schöner Götterfunken" und andere Jubelmelodien.
Sie spielen nicht erst seit der diesjährigen EM unter anderem in Kirchen sogenannte Fußball-Konzerte auf der Orgel und dem Klavier. Was erwartet einen dort?
Es ist Public Viewing. Wir gucken live und in Echtzeit das Spiel, das gerade läuft – aber es gibt keinen Ton, der Kommentator bleibt komplett stumm. Und da ich ja Filmkomponist bin, vertone ich das live an der Orgel oder eben am Flügel. Fußball ist großes Kino, meine Begleitung also wirklich wie Filmmusik. Je spannender das Spiel ist, je näher das Tor, desto dramatischer wird die Musik.
Normalerweise sind Sie allen voran für das Vertonen von Stummfilmen bekannt. Wie wird man da zum musikalischen Fußballkommentator?
Am Fußball haben mich schon immer die Emotionen gereizt. Ich bin zwar keiner, der alle Spieler beim Namen kennt, aber die Emotionen finde ich unglaublich. Ich war mal bei einem Spiel in Kolumbien, vor dem mich alle gewarnt haben, nicht zwischen die beiden Fan-Lager zu geraten. Ich fand das total geil. Das Spiel war so emotional, die Fans aus dem Häuschen und die Stimmung waberte hin und her. Das fand ich cool.
Einmal abgesehen von Dur-Akkorden nach Toren, wie lässt sich ein Fußballspiel vertonen?
Zuallererst bekommt die Mannschaft, die besser spielt die bessere Musik. Selbst wenn Deutschland verliert, gibt es keine Trauerakkorde. Ich spiele ja auch keine Kirchenmusik, sondern eher rhythmische Filmmusik. Elemente vom "Phantom der Oper" oder "Oops I did it again", wenn ein Spieler zum dritten Mal den Ball verliert.
Ein klassischer Fußballkommentator begleitet ein Fußballspiel sehr intuitiv, muss spontan sein. Wie viel improvisieren Sie während eines Spiels?
Ich würde sagen 80 Prozent sind Improvisation – mindestens, eher mehr. Ich musste natürlich üben, schnell umzuschalten, eine zuvor aufgebaute Melodie und Spannung sofort abbrechen zu können. Aber es braucht auch Glück und Intuition. Wenn ich mir denke, ich spiele jetzt mal dramatisch, und prompt passiert etwas Dramatisches. Oder ich spiele einen Schmerzensakkord exakt in dem Moment, in dem ein Foul begangen wird. Obwohl es beim Fußball keinen Regisseur gibt, funktioniert das erstaunlich gut. Ich habe viel Experimentierlust, aber natürlich auch formale Dinge, die sich wiederholen. Beispielsweise beim Passspiel immer dann die Harmonie zu ändern, wenn ein Spieler den Ball annimmt.
Was genau versuchen Sie, mit Ihrer Musik zum Fußball-Erlebnis Ihrer Zuhörerinnen und Zuhörern beizutragen?
Es ist wie beim Film: Du sollst mit der Musik mehr sehen als ohne sie. Klar soll Musik die Stimmungen verstärken, aber es ist mehr als das. Ich kann mit zwei unterschiedlichen Melodien die Aufmerksamkeit der Menschen auf unterschiedliche Dynamiken und Filmschnipsel lenken. Ich habe mal "An der schönen blauen Donau" gespielt und auf einmal war es, als würden die Spieler anfangen zu tanzen.
Haben Sie eine ein Konzert in Erinnerung, in der Sie eine perfekte Symbiose aus dem Spiel auf dem Rasen und Ihrem Spiel herstellen konnten?
Ich habe einmal die Melodie von "Smoke on the Water" zu einem englischen Angriff gespielt. Das hat perfekt funktioniert, jeder Ballwechsel war im Rhythmus. Es war, als wäre die Mannschaft nach der Musik gelaufen. Auch die Spanier haben einen Rhythmus in ihrem Spiel, der sich gut vertonen lässt. Die Deutsche Mannschaft zu vertonen, macht sowieso immer Spaß, weil die Stimmung einfach eine andere ist. Auch, wenn "Smoke on the Water" im Eröffnungsspiel letzte Woche gar nicht ging…
Wie meinen Sie das?
Im Vergleich zu den Engländern, aber auch zu früher, hatte die deutsche Mannschaft im Ballbesitz eine besondere Ruhe. Die haben die entspannteren Phasen des Passspiels richtig genossen, sind in eine Schönheit gekommen – als ob sie die Energie in sich sammeln, um im Angriffsmoment voll präsent zu sein. Manchmal ist das Passspiel viel zu kurz, zu unrhythmisch, um daraus musikalisch etwas zu machen. Im Eröffnungsspiel hatte ich viel mehr Möglichkeiten und mehr Zeit, vielseitig zu spielen.
Und was machen Sie, wenn ein Spiel sportlich richtig langweilig ist?
Niemand will bei einem langweiligen Spiel auch noch musikalische Langeweile hören. Aber ich will das Publikum ja auch nicht mit künstlicher Spannung verarschen. Einmal wusste ich bei einem sehr langweiligen Deutschland-Spiel nicht wirklich weiter, also habe ich mir eine Mundharmonika umgeschnallt. Ich hatte das noch nie ausprobiert, aber dachte, das wäre bestimmt lustig. Die Deutschen spielten sehr langsam, waren am Verlieren, aber der Saal hat getobt. Die Leute waren aus dem Häuschen und ich hatte wieder eine Verbindung von Spiel und Musik.
Bei der diesjährigen EM müssen sie hoffentlich weniger Langeweile überbrücken. Sieben Konzerte spielen Sie in den kommenden Wochen allein in Berlin noch. Was für ein Publikum erwartet Sie dort?
Es ist kein klassisches Konzertpublikum, aber ich mache ja auch keine klassische Musik. Den Musikgeschmack der Gäste kann ich gar nicht genau skizzieren, die Fußballbegeisterung aber schon. Es kommen tatsächlich richtige Fußballfans, aber nicht so viele. Die größte Gruppe sind Fans, die übers Jahr nicht ständig Fußball gucken, aber zu WMs und EMs Feuer und Flamme sind. Normalerweise wollen Menschen bei einem Konzert bedient werden. Der Musiker kommt nach vorne, spielt das Konzert und das Publikum ist ruhig. Bei mir wird das Publikum emotional aufgeladen und merkt schnell, dass es laut sein darf.
Gibt es da ein Fan-Erlebnis von einem Ihrer Konzerte, das Ihnen besonders im Kopf geblieben ist?
Bei einem Spiel gegen Italien saß ich mit meiner Orgel vor, statt hinter dem Publikum. Die Deutschen waren auf bestem Wege zu verlieren und spielten dabei sehr, sehr langsam. Auf einmal sprang ein Zuschauer auf, rannte ein paar Schritte auf mich zu und brüllte: "Spiel schneller, Mann!" Der hatte wirklich das Gefühl, dass die Spieler schneller laufen, wenn ich in Berlin schneller spiele. Als Deutschland bei der EM 2016 wieder gegen Italien spielte, wollte ich mir das nicht nochmal sagen lassen. Ich glaube, es hat noch nie ein Pianist 90 Minuten lang in so einem Tempo gespielt, wie ich damals.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr von Bothmer.
Das Interview führte Jakob Lobach, rbb Sport.
Sendung: DER TAG, 17.06.2024, 18 Uhr