Paris 2024 - So funktionieren die Klassifizierung und die Startklassen bei den Paralympics

So 25.08.24 | 13:33 Uhr
Para-Schwimmerin Gina Böttcher beim Start bei der Citi Para Swimming World Series in Berlin Anfang Juni 2024 (Bild: Imago Images/camera4+)
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Bei den Paralympischen Sommerspielen in Paris treten Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen teilweise gegeneinander an. Dahinter steckt die Klassifizierung, die faire Wettkämpfe ermöglichen soll. Wie sie funktioniert und was die Startklassen bedeuten.

Warum gibt es die Klassifizierung?

Die Sportlerinnen und Sportler werden klassifiziert, um bei Wettkämpfen eine größtmögliche Chancengleichheit zu schaffen. Das sportliche Können und nicht der Einfluss individueller Beeinträchtigungen soll möglichst über den Ausgang des Wettkampfes entscheiden.

Wieso treten Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen gegeneinander an?

Entscheidend ist, welchen Einfluss die jeweilige Behinderung auf das Ausüben der Sportart hat – nicht die Art der Behinderung. Daher ist es möglich, dass sich im Wettkampf Sportlerinnen und Sportler mit optisch unterschiedlichen Behinderungen gegenüberstehen, weil sie trotzdem vergleichbare Voraussetzungen haben.

Wer legt die Kriterien fest?

Der Paralympische Weltverband (IPC) legt die Kriterien für internationale Wettkämpfe wie die Paralympischen Spiele fest. Sie sind im IPC Athlete Classification Code festgehalten. Die Klassifizierung erfolgt jeweils durch die internationalen Sportverbände. Für jede Sportart gibt es eigene Kriterien. Bei Wettkämpfen auf nationaler Ebene können die Vorgaben abweichen.

Wonach wird bei der Klassifizierung unterschieden?

Der Paralympische Weltverband hat zehn klassifizierbare Beeinträchtigungen festgelegt. Eine Beeinträchtigung ist unter anderem dann klassifizierbar, wenn sie permanent und überprüfbar ist. Auf Sportlerinnen und Sportler, die an internationalen Para-Wettkämpfen teilnehmen wollen, muss mindestens eine Beeinträchtigung zutreffen:

  • Beeinträchtigung der Sehfähigkeit
  • Kleinwuchs
  • Fehlbildung/Fehlen von Gliedmaßen
  • Beeinträchtigung der Muskelkraft (z.B. Querschnittlähmung oder Muskelschwund)
  • Beeinträchtigung der passiven Gelenkbeweglichkeit (z.B. Arthrogryposis oder Kontrakturen)
  • Unterschiedliche Beinlänge
  • Muskelhypertonie (erhöhte Spannung der Muskulatur, z.B. durch Zerebralparese, Hirnverletzungen oder Schlaganfall)
  • Ataxie (Störung der muskulären Bewegungskoordination, z.B. durch Hirnverletzungen, Zerebralparese oder Multiple Sklerose)
  • Athetose (anhaltende, unwillkürliche Muskelbewegungen, z.B. durch Zerebralparese, Hinrverletzungen oder Schlaganfall)
  • Intellektuelle Beeinträchtigung (IQ kleiner oder gleich 75)

Wie läuft die Klassifizierung ab?

Die Sportlerinnen und Sportler reichen ihre medizinischen Unterlagen und Gutachten ein. Dabei ist es wichtig, dass die Diagnose und Beeinträchtigungen möglichst genau und ausführlich beschrieben werden. Es wird bestimmt, ob die Sportlerin oder der Sportler eine klassifizierbare Beeinträchtigung hat.

Im zweiten Schritt wird bestimmt, ob die Sportlerin oder der Sportler die Minimalbeeinträchtigung erreicht. Die Tests sind sportartübergreifend, aber werden sportartspezifisch bewertet. Die Sportlerin oder der Sportler darf eine Begleitperson und einen Dolmetscher mitbringen.

Im letzten Schritt werden die Startklasse und der Klassifizierungsstatus bestimmt. Die Tests sind sportartspezifisch. So wird der Einfluss der Beeinträchtigung auf die jeweilige Sportart gemessen. Je nach Sportart werden die Sportlerin oder der Sportler zusätzlich bei einem Wettkampf beobachtet, bevor die finale Klasse festgelegt wird. Dadurch soll sichergestellt werden, dass die volle Leistung abgerufen wird.

Der Klassifizierungsstatus gibt an, ob und wann die Sportlerin oder der Sportler nochmal zur Klassifizierung muss. Das kann beispielsweise der Fall sein, wenn die Behinderung fortschreitend oder die Person noch im Wachstum ist.

Kann sich die Klassifizierung ändern?

Ja. Wenn sich die Behinderung verändert oder der internationale Verband neue Kriterien festlegt, werden die Sportlerinnen und Sportler neu klassifiziert.

Kann gegen die Klassifizierung Einspruch eingelegt werden?

Ja. Gegen das Ergebnis kann protestiert werden. Der Einspruch muss mit dem internationalen Regelwerk des Sportfachverbands begründet werden. Nur der nationale Verband und nicht die Athletin oder der Athlet kann einen Protest oder eine Beschwerde einreichen.

C5, TH12, B1: Was bedeuten die Zahlen- und Buchstabenkombinationen?

Die Klassifizierungen sind jeweils durch einen Buchstaben gekennzeichnet, der meistens dem (englischen) Anfangsbuchstaben der Sportart entspricht. "S" steht zum Beispiel für Schwimmen, "PR" für "Para Rudern" und "BC" für Boccia.

Der Buchstabe kann aber auch für die Besonderheit der Beeinträchtigung stehen. Im Goalball sind alle Spielerinnen und Spieler sehbehindert. Das "B" bedeutet blind. Es gibt die Klassen B1 bis B3 ("vollblind", "wenig Sehrest" und "sehbehindert").

Grundsätzlich gilt: Je niedriger die Ziffer der Startklasse, desto schwerer ist der Grad der Beeinträchtigung.

Ist jede Sportart für alle Para-Sportlerinnen und -Sportler offen?

Nein. Jede paralympische Sportart verfügt über ihr eigenes Klassifizierungssystem und muss festlegen, für welche Behinderungsgruppen sie Wettkämpfe bereitstellen will. Bei der Leichtathletik und beim Schwimmen sind beispielsweise Sportlerinnen und Sportler aller Behinderungsarten vertreten. An Blindenfußball können nur für Sportlerinnen und Sportler mit der Startklasse B1 (vollblind) teilnehmen.

Auf der Seite der Paralympics gibt es eine genaue Aufschlüsselung, welche Startklassen es für die unterschiedlichen Sportarten gibt: [www.olympics.com].

Wie fair ist das System?

An der Klassifizierung gibt es immer wieder Kritik. Das aktuelle Regelwerk trat 2017 in Kraft. Durch die Veränderung der Kriterien verloren einige Sportlerinnen und Sportler ihre Starterlaubnis, weil sie die Minimalanforderungen nicht mehr erfüllten. Außerdem gab es immer wieder Fälle von Klassifizierungsbetrug.

Die Klassifizierer, die aus der Sportwissenschaft, Physiotherapie oder Medizin kommen, haben die Aufgabe, die Teilnehmenden richtig einzuschätzen. Sie müssen gegebenenfalls aber auch herausfinden, ob jemand absichtlich schlechter bei den Tests abschneidet, um in einer niedrigeren Startklasse eingruppiert zu werden und die eigenen Erfolgschancen zu erhöhen. Für Sportlerinnen und Sportler kann die Klassifizierung sehr emotional sein, weil ihnen vorgeworfen werden kann, dass sie bewusst nicht richtig mitmachen.

Inzwischen wurde ein neuer Klassifizierungskodex entwickelt. Dieser tritt national ab Januar 2025 in Kraft. International soll er erst nach den Winter-Paralympics 2026 angewendet werden.

Sendung: rbb24, 25.08.2024, 21:45 Uhr

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