Theaterkritik | "Das Vermächtnis" beim Theatertreffen - Erst meta, dann klebrig - dann endlich vorbei
Ein hochkonzentriertes Ensemble trägt die siebeneinhalbstündige Eröffnungs-Inszenierung des Berliner Theatertreffens. Doch das ist schon fast das einzig Gute, das sich über "Das Vermächtnis" vom Münchner Residenztheater sagen lässt. Von Fabian Wallmeier
Wie kann man erzählen und wo fängt man damit an? Das fragt sich, ausgehend von Motiven von E.M. Forster, der amerikanische Star-Theaterautor Matthew Lopez. Philip Stölzls siebeneinhalbstündige Münchner Inszenierung von Lopez' vollgestopftem Liebes- und Gesellschaftsdrama "Das Vermächtnis" hat am Freitag das Berliner Theatertreffen eröffnet. Am Ende dieses langen Abends bleibt diese Ausgangsfrage nicht nur unbeantwortet, sondern das zunehmend qualvolle Kuddelmuddel hat sie gewissermaßen zusammengeknüllt, angezündet und weggeworfen.
Dabei ging es doch eigentlich ganz reizvoll los: Das Erzählen selbst wird hier immer wieder kommentiert, hinterfragt und beizeiten auch korrigiert - wobei auch E.M. Forster selbst als Figur auftritt. Das Setting auf der Vorderbühne ist zu Beginn eine Art Schreibwerkstatt im schwarzlackiert gemauerten Ambiente einer Studiobühne.
Neun Männer ringen hier gemeinsam um die Geschichte, um den richtigen Beginn, um das richtige Erzählen. Und allmählich treten sie einzeln, sich beiläufig andere Kostüme überziehend, in die Mitte und schlüpfen selbst in die Rollen, die sie gerade noch eingeführt und kommentiert haben - um im weiteren Verlauf des Abends auch immer wieder auf die Metaebene zurückzukehren.
Das klingt kompliziert, gelingt aber ohne jede Anstrengung. Ganz im Gegenteil: Von Anfang an besteht kein Zweifel daran, dass dieser Abend keine experimentelle Anstrengung ist, sondern durch und durch konventionelles Schauspieltheater. Und je weiter die Inszenierung voranschreitet, desto weniger meta ist sie.
Ausufernde Geschichte
Statt dessen konzentriert sie sich auf die ausufernde Geschichte, die Lopez erzählen will: Ausgehend von der zerbrechenden Liebe zweier Männer in New York geht es um viel: um eine auseinander driftende Gesellschaft im Trump-Zeitalter, um Reichtum und Prekariat, um die Konfrontation mit den eigenen Geheimnissen und Lebenslügen und um das Verhältnis unterschiedlicher Generationen von Schwulen.
Die beiden Männer im Kern des Stücks sind der in der Peripherie des Politikbetriebs arbeitende Eric Glass (Thiemo Strutzenberger) und der Autor Toby Darling (Moritz Treuenfels), der gerade an der Theateradaption seines Debütromans arbeitet. Beide sind zu Beginn Anfang 30 und nicht mit Reichtum gesegnet. Erics luxuriöse Wohnung in bester New Yorker Lage, die er sich nur wegen eines Altmietvertrags seiner Großmutter noch leisten kann, ist Ausgangspunkt der Handlung.
Ein Sterbehaus für Aids-Kranke
Das zweite wichtige Paar des Stücks ist eine Generation älter: Henry Wilcox (Oliver Stokowski) und Walter Poole (Michael Goldberg) sind seit 36 Jahren ein Paar. Henry ist extrem reich und hält sich die Menschen lieber vom Leibe, Walter dagegen hat während der Aids-Krise sein Haus auf dem Lande insgesamt für Hunderte Männer geöffnet, die dort ihre letzten Wochen verbracht haben. Ein Haus, das im Laufe des Abends noch eine gewichtige Rolle einnehmen wird.
Noch zwei weitere Figuren sind zentral. Sie sind wiederum Männer (überhaupt gibt es nur eine einzige Frauenrolle - was für sich genommen schon selbst in einer unter Schwulen spielende Geschichte mehr als irritierend ist). Sie sind wiederum aus einer anderen Generation - und werden beide vom selben Darsteller gespielt (Vincent zur Linden): Adam ist ein junger Schauspieler, der die Hauptrolle in der Theaterfassung von Tobys Roman spielt und in dem Toby sich verliebt - und Leo ein Adam zum Verwechseln ähnlicher Sexarbeiter, der Toby später als Ersatz dient.
Diese sechs Figuren finden nun in verschiedenen Konstellationen zueinander - "Das Vermächtnis" ist über weite Strecken eine schwule Seifenoper mit Sitcom-Anleihen. Schnelle Szenenwechsel lassen selten Langeweile aufkommen und das geschickt funktionale Bühnenbild unterstützt die Rasanz der Erzählung. Vorm Vorhang reichen ein paar Hocker, Stühle und effektvolle Lichtstimmungen, um die vielen Ortswechsel herbeizuführen - und dahinter lässt die Drehbühne die verschiedenen Appartements vorbeirattern.
Hochkonzentriertes Ensemble
"Das Vermächtnis" hat dementsprechend schnelle, pointenreiche Dialoge. Es ist dem wandlungsfähigen, hochtourigen und hochkonzentrierten Ensemble zu verdanken, dass man als Publikum zum einen problemlos folgen kann. Und dass man zum anderen so gut unterhalten wird, dass so manche Seifigkeit und des Textes zunächst nicht weiter ins Gewicht fällt.
Doch je länger der Abend dauert, desto zäher und konfuser wird er. Das Unglück der Figuren wird größer, die Gags werden weniger. Und immer öfter tauchen Nebenfiguren als Stichwortgeber für politisch-gesellschaftliche Themen auf - und verschwinden so rückstandslos wie die Ideen, die sie eingeführt haben.
Erstaunlich ist außerdem ein gewisser Hang zur Kunstfeindlichkeit, den die Inszenierung zur Schau stellt, wenn sie sich zum Beispiel mit Gags aus der Mottenkiste über die vermeintliche Oberflächlichkeit von Tanztheater, sozialen Medien oder jedweden modernen Kunstformen lustig macht. Das stößt besonders sauer auf, wenn man bedenkt, wie wohlig saturiert Stölzl den Abend über weite Strecken gestaltet.
Mehrere Lagen Extrakitsch
Als "Das Vermächtnis" dann schließlich zu Ende geht, bestreichen Stölzl und vor allem Autor Lopez es noch mit mehreren Lagen Extrakitsch. In Walters altem Haus (dem einstigen Refugium für sterbende Aids-Kranke) treffen da drei der Figuren aufeinander. Eine stirbt noch, aber ein Blick in die Zukunft beruhigt uns zugleich: Die Heilung hat begonnen, alles wird gut. Das flockige Wechselspiel mit den Erzählebenen vom Beginn des Stücks ist da längst vergessen. Stattdessen suhlt man sich in ziemlich klebrigem Erbauungsgeraune.
Fünf Jahre ist es her, dass das Theatertreffen zuletzt mit einer dermaßen langen Inszenierung eröffnet wurde: 2018 gab es zum Auftakt sieben Stunden "Faust" von Frank Castorf - mit nur einer Pause. Doch während man damals erschöpft, aber von der Monumentaltheater-Zumutung beglückt und inspiriert aus dem Festspielhaus wankte, sind die siebeneinhalb Stunden des "Vermächtnis" (mit drei Pausen) vor allem eines: endlich vorbei.
Sendung: rbb24 Inforadio, 13.05.2023, 07:00 Uhr