Ehemaliges Obdachlosenasyl Wiesenburg im Wedding - Das beste Armenhaus der Stadt
Vor gut 100 Jahren hatten es Obdachlose in Berlin besser als heute. In Unterkünften wie der "Wiesenburg" waren sie willkommen und konnten sich von ihrem Überlebenskampf erholen - zu verdanken war das dem Einsatz jüdischer Unternehmer. Von Sebastian Schneider
Diese Stadt wächst jeden Tag, schneller als jede andere im Land: Längst leben mehr Zugezogene hier als gebürtige Berliner. Alle wollen sie in die Metropole an der Spree, aber der Platz reicht nicht: Grundstücksspekulanten und schleppender Wohnungsbau haben die Mieten in die Höhe getrieben. Leute werden raus an den Rand verdrängt oder landen gleich auf der Straße. Dazu kommen die Obdachlosen aus Osteuropa. Die Verwaltung hat kein Konzept, wie sie mit dieser Armut umgehen soll. Berlin im Jahr 1896.
Oben im Wedding aber wollen ein paar reiche Bürger zeigen, dass es auch anders geht: Ihr "Asyl-Verein für Obdachlose" baut eine moderne Unterkunft, die größte der ganzen Stadt. Ein wuchtiger, rotgeklinkerter Komplex an der Wiesenstraße, 13.000 Quadratmeter zwischen Bahngleisen und Panke. Er hat sogar eine eigene Stromversorgung. Die Polizei darf nicht aufs Gelände, die Gäste bleiben anonym. Sie werden in Ruhe gelassen.
Wer heute den zugewucherten Haupteingang betrachtet, die hohen Giebel, den Wasserturm, der versteht, warum dieses Haus von Beginn an "Wiesenburg" genannt wird. Es ist ein Rückzugsort.
Wilder Wein rankt durch die Fensterbögen, schiefe Birken wachsen von Treppenstufen. Joachim Dumkow ist hier groß geworden, der 51-Jährige wohnt im früheren Gesindehaus, einer von rund 20 Mietern auf dem Gelände. Als Künstler nennt er sich "Joe Wiesenburger".
Trifft man ihn zu einem kleinen Rundgang, begegnet man einem großen Mann mit kleinen Brillengläsern, schweren Lederstiefeln und einer herrlich rostigen Erzählerstimme. Dick eingemummelt gegen die Kälte steht Dumkow dort, wo sich früher jeden Nachmittag die Ärmsten Berlins für einen Schlafplatz anstellten. Die Schlange reichte 100 Meter lang. "Die Leute sollten vorne von der Straße weg und hier aufs Grundstück, damit sich die Nachbarn nicht beschwerten. Man wollte bloß keine Angriffsfläche bieten", sagt Dumkow. Gegenüber rauscht die Ringbahn vorbei - wie schon vor 122 Jahren.
Die Ausgesperrten der Industrialisierung
Das Asyl eröffnet im Dezember 1896. Es ist eine Zeit, in der die Industrialisierung Berlin zur Weltmetropole anschwellen lässt. Die meisten Bewohner erleben einen gnadenlosen Verdrängungskampf. Viele teilen sich zu fünft ein Zimmer in einer der Mietskasernen. Um sich ihre Bleibe überhaupt leisten zu können, müssen Familien "Schlafburschen" aufnehmen, Untermieter für ein paar Stunden. Räumungen sind ganz normal, in der Regel gelten Verträge nur für ein Jahr. Die Willkür der Vermieter kann jeden treffen.
Den Ausgesperrten dieses Booms aber begegnet der preußische Staat mit Härte und Zwang - wer kein Zuhause hat, gilt als asozial. Und er macht sich strafbar. Die Wohnungslosen verstecken sich nachts in Bretterbuden vor dem Kottbusser Tor, den Ställen des Zentralvieh- und Schlachthofs an der Landsberger Allee, in Kleingartenlauben und Güterbahnhöfen.
Wer aufgegriffen wird, landet im Polizeigewahrsam am Molkenmarkt. "Die Leute wurden in Kellerräumen zusammengepfercht. Es hat so sehr gestunken, dass die diensthabenden Wachmänner so oft es ging Pfeife rauchten, um den Gestank zu überdecken", sagt Joachim Dumkow.
Kein Geld vom Staat
Weil sie das Elend in ihrer Stadt nicht länger hinnehmen wollen, gründen wohlhabende Berliner 1868 den Asyl-Verein. Die Unternehmer August Borsig und Carl Bolle sind dabei, der Arzt Rudolf Virchow, aber vor allem Bürger jüdischen Glaubens: Paul Singer, Mitbegründer der SPD und Fabrikant von Damenmänteln, die Familien Hirschfeld, Cohn und Aron. Für den Bau der Wiesenburg sammeln und spenden sie etwa vier Millionen Reichsmark in Gold - heute wären das umgerechnet 27 Millionen Euro.
Aber nur Geld zu geben genügt nicht, jeder Stifter muss sich einbringen. "Es gab ein Bewusstsein dafür, was Turbokapitalismus anrichtet. Industrielle wie Singer hatten Verständnis für die sozialen Nöte der Menschen - und taten auch selbst etwas", sagt Joachim Dumkow.
Die Prinzipien der Wiesenburg sind revolutionär: Kein Arbeitszwang, kein Unterschied zwischen selbst- und unverschuldet in Not Geratenen. Keine "Betsäle" wie in kirchlichen Asylen, keine Fragen nach Konfession, Herkunft oder Vorstrafen. Die Regeln: Alkohol, Zigaretten, Lärm und Gewalt sind verboten - und höchstens fünf Übernachtungen pro Monat erlaubt. Damit der Staat sich nicht einmischen kann, verzichtet der Verein auf öffentliche Zuschüsse.
Seiner Zeit weit voraus
Dumkow schließt eine Tür auf, geht an einer Halle vorbei, in der gerade Tänzer proben, duckt sich unter einem Eingang hindurch. Plötzlich glaubt man, in einem kahlen Wald zu stehen. Knöcheltief liegt das Laub, auf einen Stein hat jemand eine winzige Buddhafigur gesetzt. Nur noch die vermoderten Grundmauern erinnern an das, was hier vor den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs gestanden hat: Die Schlafsäle der Obdachlosen.
700 eiserne Betten stehen den Gästen damals zur Verfügung, 50 in jedem Raum. Wilhelm Voigt, der spätere "Hauptmann von Köpenick", ist Stammgast, Autoren wie Erich Kästner, Hans Fallada und Kurt Tucholsky kommen regelmäßig, um über die Wiesenburg und ihre Bewohner zu schreiben. Abends reicht man Suppe und Brot, zum Frühstück zwei Schrippen und Kaffee. Um spätestens sieben Uhr müssen die Gäste wieder gehen.
Vordenker wie Rudolf Virchow haben verfügt, dass in der Wiesenburg extrem auf Sauberkeit geachtet wird: Die Fliesenböden werden täglich durchgewischt, es gibt eine eigene Wäscherei, automatisch belüftete und beheizte Räume mit besonders großen Dachfenstern. Die Männer dürfen ihre Klamotten desinfizieren lassen, warm baden, und duschen.
Es gibt sogar eine kleine Bibliothek. Und wer möchte, kann sich mit Arbeit etwas dazuverdienen. Joachim Dumkows Großvater zum Beispiel hilft in der Küche. Das Projekt ist so innovativ, dass es 1897 auf der Weltausstellung in Brüssel mit einer Goldmedaille geehrt wird.
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"Anreiz für Faule und Drückeberger"
Aber diese modernen Ideen gefallen vielen Zeitgenossen nicht. Von Anfang an werden die Macher angegriffen. Die Wiesenburg sei "Brutstätte für Verbrecher", sie locke Faule und Drückeberger, lauten die Vorwürfe - Belege dafür gibt es nicht.
Den preußischen Landtagsabgeordneten von Bodelschwingh stört vor allem, dass dort kein Zwang ausgeübt wird. Statt die Obdachlosen ins "Asyl-Paradies" Berlin zu lassen, solle man sie lieber rund um die Stadt in "Steineklopfbuden" schuften lassen, fordert er.
Oft ist es aber auch nur blanker Antisemitismus, der aus den Kaisertreuen spricht, sie verachten "dieses jüdisch rote Haus", wie sie die Wiesenburg nennen. "Einem Verein, dem ein 'Singer' angehört, zahle ich keinen Silberling", heißt es in einem Leserbrief nach einem Spendenaufruf.
Abstrakte Kunst im früheren Frauenasyl
1907 wird der Bau um Räume für 700 Frauen und Kinder erweitert. Bald übernachten hier mehr als 300.000 Menschen pro Jahr. Wanderarbeiter aus Pommern und Schlesien, einsame Alte, alleinerziehende Mütter.
Es gibt in Berlin viel mehr Obdachlose als heute - zugleich gibt es aber auch wesentlich mehr Möglichkeiten, sie menschenwürdig unterzubringen. Das Ausmaß des Elends lässt sich schon an der Zahl der Übernachtungen in den Asylen ablesen: Neben der Wiesenburg sind da die christliche "Schrippenkirche" und die städtische "Palme". Allein dort werden jeden Abend bis zu 5.000 Menschen aufgenommen. Wieviele genau auf den Straßen leben, ist nicht bekannt - auch 2018 kann man ihre Zahl nur schätzen.
Joachim Dumkow klopft an eine Stahltür, gegenüber stapelt sich Feuerholz. Es öffnet Thomas Henriksson: Brauner Hut, orangefarbener Schal, Farbflecken auf den Schuhen. Der Maler aus Stockholm bittet herein, man muss den Kopf weit nach hinten recken, um die Decke seines riesigen Ateliers zu sehen. Da oben bollert die Heizung. Wo früher die Wäsche des Frauenasyls durch die Mangel genommen wurde, hängen heute abstrakte Gemälde an den Wänden.
Henriksson und Dumkow rauchen erstmal eine, dann eilen sie plötzlich in den Hinterhof. "Ich muss dir was zeigen", sagt Dumkow triumphierend und deutet auf ein verbogenes Ding, das man zunächst für eine verrostete Skulptur aus dem Fundus seines Freundes halten könnte. Es ist aber nur das letzte Bett eines Schlafsaals. Dumkow hat es aus dem Schutt gerettet.
Die Stadt lässt alle Obdachlosen registrieren
Nach 1918 finden in der Wiesenburg auch zurückgekehrte "Kriegszitterer" Zuflucht. Die schwer traumatisierten Männer werden hier nicht - wie anderswo - ausgelacht und verachtet. Doch der Niedergang des Hauses beginnt: Während der harten Jahre der Weimarer Republik geht den Stiftern allmählich das Geld aus. 1926 springt die Stadtverwaltung ein - sofort macht sie ihren Einfluss geltend. Die Polizei bekommt jetzt Zutritt, alle Obdachlosen werden registriert. Die Spenden gehen zurück, was auch am wachsenden Antisemitismus liegt.
Als die Stadt Berlin 1931 ihre Unterstützung stoppt, ist die Wiesenburg in ihrer ursprünglichen Form Geschichte. Der Regisseur Fritz Lang verewigt sie noch einmal, im gleichen Jahr dreht er hier für seinen Welterfolg "M - eine Stadt sucht einen Mörder". 1933 schließen die Nazis das Heim komplett, zuletzt lebten dort jüdische Bedürftige. In den Werkstätten im Keller werden jetzt Hakenkreuzfahnen gedruckt.
Degewo plant Hunderte Wohnungen
Nach dem Krieg ziehen Familien wie die Dumkows in das einzige Gebäude, das nicht ausgebombt worden ist. Joachim Dumkows Eltern leben noch heute im ersten Stock, sie helfen entscheidend mit, dass inmitten der Ruinen ein Kulturzentrum entsteht. 1995 wird die Wiesenburg denkmalgeschützt. Heute gibt es hier Ateliers und Werkstätten für Bildhauer, Tischler und Metallbauer, Proberäume und ein Tonstudio für Bands.
Die landeseigene Degewo hat das Gelände 2014 übernommen, Hunderte Wohnungen sollen darauf entstehen. Dumkow hat höflich ausgedrückt keine allzu hohe Meinung von den Plänen an der Panke. Er sitzt in seiner warmen Wohnküche, es riecht nach Kaffee und Zigaretten. Dumkow rezitiert Zille und Tucholsky, er erzählt, wie er als Kind durch die Ruinen geklettert ist, über alte Möbel, Autoreifen und Kühlschränke. Unterbrochen wird er nur von dem Gemaunze seiner dicken braunen Katze Fifi. Auch wenn Dumkow fürs Erste nicht rausgeschmissen werden kann: Dieser verwunschene Ort, sein Refugium, ist bedroht.
Was kann die Stadt Berlin aus den Erfolgen der Wiesenburg lernen, Herr Dumkow? "Unkompliziert und schnell Unterkünfte für die Obdachlosen zur Verfügung zu stellen", antwortet er. "Wieso ist es so schwer, die leerstehenden Containerbauten zu öffnen, wenn die sowieso nicht mehr genutzt werden?" In diesem Winter stehen den Wohnungslosen in ganz Berlin etwa 1.200 Schlafplätze zur Verfügung. Was damals möglich war, sagt Joachim Dumkow, kann doch heute nicht unmöglich sein.