Sigmund Jähn - Der Space-Jesus aus dem Erzgebirge

NVA-Offizier, großer Freund der Sowjetunion und noch größerer SED-Fan: Eigentlich sind das Dinge, für die Ostdeutsche nach der Wende mit ewiger Missachtung bestraft wurden - nicht Sigmund Jähn. Er war für immer Kosmonaut. Von Stefan Ruwoldt
Wenn Kinder einen Berufswunsch angeben, ist Raumfahrer meistens ganz vorne mit dabei, etwa auf einer Höhe mit Superstar. Doch sehr schnell sehen die meisten ein: Das wird nüscht. Sigmund Jähn aber hat es geschafft. Er war der erste Deutsche, der in den Orbit flog, ein Ausflug, der ihm ewigen Ruhm sicherte und damit ein bisschen zum Superstar machte.
Dabei hätte er ebenso leicht im tiefen Nichts der Erinnerung verschwinden können, denn Jähn war NVA-Offizier, war ein großer Freund der Sowjetunion und schwer privilegiert. Doch wann immer auf Sigmund Jähn die Sprache kommt, denken die Ostdeutschen an den Kosmonauten, der den so bedrohten blauen Planeten von oben gesehen hat und der später dann, zurück auf der Erde, für den Frieden auf diesem blauen Planeten warb.
Aus Morgenröthe-Rautenkranz in den Orbit
Das Datum von Jähns Himmelfahrt ist der 26. August 1978. An diesem Spätsommertag wurde er von einem DDR-Armeeoffizier im Feldgrau zu einer Art Erscheinung, zum Missionar für das Gute, zu einer Figur, die bei Unterhaltungsabenden in netter Runde ebenso beklatscht wurde wie in den Hörsälen der Unis. Er ist der Kosmonaut von nebenan – der Space-Jesus aus dem Erzgebirge.
Es wurden Postkarten mit Kosmonaut Jähn gedruckt, Schulen, Kindergärten, Straßen und Patenbrigaden nach ihm benannt, Jähn-Museen errichtet, Jähn-Nachwuchsraumfahrtzentren für Pioniernachmittage gebaut und Jähn-Briefmarken in Millionenauflage verklebt – überall war der erste und einzige Kosmonaut der DDR dran, drin und drauf. Auf manchen Abbildungen ist Jähn allein zu sehen, oft aber sitzt neben ihm Valeri Bykowski, also jener sowjetische Kosmonaut, mit dem Jähn in der Sojus-31-Rakete zur Raumstation Solut 6 geflogen war. Für Bykowski war es bereits die dritte Mission. Er war sozusagen im All zuhause und konnte so Jähn an die Hand nehmen und ihm alles zeigen.

Jähn im Himmel über den sozialistischen Arbeitsplätzen
Die Jähn-Bewunderung und die Erinnerung und Würdigung seiner Expedition nahmen nahezu religiöse Züge an. Es ging in den Berichten über Jähns Mission nicht so sehr um die Entdeckungen im Weltraum, als vielmehr um eine mediale Wiederholung und Würdigung der Tat an sich. Jähn grüßte aus dem Orbit und bewies damit, dass im Himmel über den Arbeitsplätzen der Werktätigen ein Territorium existierte, das die Kosmonauten für die Zukunft eroberten: das sozialistische Jenseits.
In dieses Jenseits hatte Jähn ein Sandmännchen mitgenommen, mit dem er in Filmaufnahmen aus dem Raumschiff die Kinder in der DDR begrüßen wollte. Es war als kleiner Witz gedacht, aber eigentlich auch ganz pfiffig: Einschlafen und träumen vom Sandmännchen und von Sigmund Jähn.
Die Daten dieses DDR-Jungfernflugs wurden dann für die Kinder und Jugendlichen im Land zu einer Art Katechismus, der in den Klassenräumen abgefragt wurde, vergleichbar vielleicht mit den Routinen der Christenlehre.
Kleiner Raumfahrt-Katechismus
Wie hieß die Rakete mit der Jähn ins All flog? – Sojus 31
Wie hieß die Raumstation, an die Bykowski und Jähn mit ihrem Raumschiff andockten? - Saljut 6
Wie lange dauerte Jähns Ausflug ins All? - Sieben Tage, 20 Stunden und 49 Minuten.
Aus welchem Ort kam Jähn? - Aus dem sächsischen Erzgebirgsort Morgenröthe-Rautenkranz.
Welcher irdischen Beschäftigung ging Jähn nach, bevor er zum Piloten und Raumfahrer ausgebildet wurde? - Buchdrucker.
Wie hieß das Gerät, mit dem Jähn und Bykowski bei diesem Flug ganz besondere Aufnahmen für die Erdfernerkundung machten? – Die Multispektralkamera, entwickelt in der DDR.

Ein Kosmonaut in Strausberg
Nach der Rückkehr auf die Erde wurde Jähn rumgereicht und präsentiert. Er erhielt einen Staatsorden inklusive Ehrenbezeichnung, die eigens für ihn geschaffen wurde, einen Rang, der von da an seinem Namen ähnlich einem Adelstitel angehangen wurde: Fliegerkosmonaut.
Doch nach der Wende schien der Zauber vorbei. Zeitungen stöberten in der Biografie Jähns, fanden wenig Heldenhaftes und machten den Fliegerkosmonauten wieder zum fehlbaren Allerwelts-Ostler mit Stasiakte. Jedenfalls schien es für einige Jahre so.
Doch die Kosmonautenstory hatte sich festgehakt in den Köpfen. Und Jähn war nicht etwa irgendein Altfunktionär, der verbittert auf den Kapitalismus schimpfte. Jähn verschwand aus dem DDR-Alltag, arbeitete für die russische Raumfahrt im Sternenstädtchen und tauchte nur ab und zu in den Zeitungen auf bei runden Geburtstagen und Jubiläen seines Raumflugs. Der Mythos erholte sich und Jähn schaffte es zusammen mit Kati Witt und Achim Menzel auf die Liste "Lieblings-Ossis".
Später lebte Jähn als Rentner in einem Berliner Vorort: Strausberg. Er empfing ab und zu Reporter, zeigte ihnen dann vielleicht die vietnamesische Blumenvase mit seinem und Bykowskis Bild darauf, holte Schwarz-Weiß-Fotos raus, die seine Landekapsel in der kasachischen Steppe zeigen. Und er erzählte, wie er einst daheim das Ehebett umbaute, um sich optimal auf die Schwerelosigkeit vorzubereiten. Jähn, der am 21. September 2019 gestorben ist, war eben der Kosmonaut von nebenan.
Bei diesem Porträt handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung eines Textes, den rbb|24 erstmals im Februar 2017 zum 80. Geburtstag von Sigmund Jähn veröffentlicht hat. Jähn starb 2019.