Protest von Klima-Aktivisten in Berlin - Ist das Mittel der Straßen-Blockade ausgereizt?
Seit Monaten kleben sich Aktivisten der "Letzten Generation" auf Straßen in Berlin - zuletzt besonders oft. Für sie ist es ein Protestmittel, nachdem moderatere gescheitert waren. Doch ein Großteil der Bevölkerung lehnt die Aktionen ab. Eine Zwischenbilanz von Wolf Siebert
Es ist der 17. April 2023. Eine Woche vor Beginn der verstärkten Straßenblockaden in Berlin. Lilly Schubert ist 24 Jahre alt und eine der Pressesprecherinnen der "Letzten Generation". Sie war schon bei Greenpeace und "Fridays for Future" aktiv. Ihre Sorge: Wenn die globale und die deutsche Klimapolitik das 1,5 Grad-Ziel verfehlen, dann wird das unumkehrbare Folgen haben: "Das löst langfristig gesehen Hungersnöte aus, erst in anderen Ländern, dann auch hier, weil wir abhängig sind von Importen; das löst gigantische Migrationsbewegungen und Bürgerkriege aus. Und letztlich einen völligen Kollaps von dem, was wir als Wohlstand und als soziale Systeme kennen."
Für manche ist das "Klima-Hysterie". Andere wie der "Weltklimarat" warnen: Wir haben nur noch wenig Zeit, um zu verhindern, dass es langfristig zu einem Klima-Kollaps kommt. Lilly zählt auf, was die "Letzte Generation" alles unternommen hat, um die Bundesregierung aufzurütteln: Hungerstreik 2021, Gespräch mit Kanzler Scholz, kleinere Blockaden - vergeblich, deshalb die Dauer-Blockaden in Berlin: "Das Problem ist, dass wir politisch gesehen keinen Plan haben, wie wir das 1,5 Grad-Ziel einhalten können. Und dieses Ziel werden wir bis 2030 reißen. Aber jedes Grad mehr ist menschlich gesehen eine Katastrophe: Jedes Grad mehr bedeutet, dass Tausende Menschen jedes Jahr sterben werden."
Das Anliegen der Blockierer rückt in den Hintergrund
Am 24. April setzen sich an 42 Orten in der Stadt Aktivistinnen und Aktivisten in neonfarbenen Westen auf die Straßen, kleben sich fest und blockieren den Autoverkehr. Viele Autofahrer reagieren genervt: "Das ist wirklich nicht okay: Gucken Sie mal, wie weit der Stau reicht! Viele müssen doch zur Arbeit", sagt ein Passant. Auch eine Frau ist empört: "Ich bin fürs Klima und für Umweltbewusstsein. Aber das hier: die Leute zu nötigen, nein, tut mir leid, das dürfen die nicht machen."
Ein anderer Autofahrer sagt: "Ich habe zum Glück keine Termine. Aber ich habe volles Verständnis für die Aktion. Wie wollen wir es denn sonst lernen? Wann soll sich denn was ändern?"
Einer der Aktivisten sagt: "Hier zu sitzen ist für alle unangenehm, auch für mich. Aber was wirklich unangenehm ist, wenn der nächste Hitzesommer Berlin aufheizt und Menschen sterben, das ist unangenehm, und deshalb protestieren wir hier auf den Straßen." Durch den Ärger über die Blockaden gerät das Anliegen der Blockierer bei vielen Bürgern aber in den Hintergrund.
Straßenblockaden: Ist das ziviler Ungehorsam oder Extremismus?
Die CDU bezeichnet die "Letzte Generation" als "extremistisch", die FDP hält sie für "totalitär". Stehen Aktivisten, die Straßen blockieren auf einer Stufe mit Reichsbürgern, und der RAF? Greifen die Blockierer den Staat an oder doch eher das Auto als Freiheitssymbol des vergangenen Jahrhunderts: "Freie Fahrt für freie Bürger" war die Parole - wer das heute antastet, der gilt offenbar schnell als Extremist.
Auf den Straßen hat das Folgen: Auf der A100 kommt es zu ersten Fällen von Selbstjustiz, Autofahrer ziehen Aktivisten an den Haaren von der Straße, auch vor dem Schloss Charlottenburg gibt es rabiate Szenen. Bevor Schlimmeres passiert, warnt die Sprecherin der Berliner Polizei vor Selbstjustiz: "Wir wollen nicht sehen, dass Menschen selbst Hand anlegen. Davor können wir nur warnen. Bitte bewahren sie die Ruhe, wir kümmern uns und sind ziemlich schnell vor Ort. Wer Selbstjustiz übt, kann sich strafbar machen."
Der dritte Tag der verstärkten Straßenblockaden. In den Medien tobt der Meinungskampf: Pro & Contra Präventivgewahrsam für Blockierer. Andere fordern Freiheits- und nicht nur Geld- oder Bewährungsstrafen. Ein Berliner Gericht verurteilt eine Aktivistin der "Letzten Generation" zu vier Monaten Haft. Die junge Frau hatte sich u.a. in der Berliner Gemäldegalerie an einem kostbaren Bild festgeklebt. Das Urteil soll wohl abschreckend wirken, sagen Experten.
In derselben Woche bahnt sich eine andere juristische Entscheidung an. Im sogenannten "Dieselskandal" soll der frühere Audi-Chef nur eine Bewährungs- und eine Geldstrafe bekommen, Voraussetzung ist sein Geständnis.
Anfang Mai gehen die Straßenblockaden in die zweite Woche. Laut dem aktuellen "ZDF-Politbarometer" lehnen 82 Prozent der Befragten die Blockade von Hauptverkehrsstraßen ab. Julia Hensen, Verhaltensökonomin am Deutschen Institut für deutschen Wirtschaft, deutet im rbb die Ablehnung so: "Die entsteht, wenn die Freiheit des Einzelnen ohne sein Zutun eingeschränkt wird. Wenn sie sagen, dass Berlin lahmgelegt wird, dann werden die meisten Menschen damit nicht abgeholt. Die Methoden sind zu radikal. Die "Letzte Generation spricht nicht für die Mehrheit der Bevölkerung, und das ist in einer Demokratie wichtig."
Ist der Protest der "Letzten Generation" also kontraproduktiv? Professor Felix Anderl aus Marburg, der in der "Konfliktforschung" arbeitet, sieht das nicht so: "Die moderaten Teile der Bewegung profitieren eigentlich davon, wenn die Radikalen delegitimiert werden. Weil sich die Moderaten dann als die Vernünftigen darstellen können. Das kann man gut auf die Klimabewegung übertragen, wo "Fridays for Future" eher die moderate Flanke ist und die "Letzte Generation" eher die radikalere. Eine aktuelle Studie aus England ergänzt diese These: Selbst dort, wo radikale Klimaproteste abgelehnt werden, sei das Bewusstsein, mehr für den Klimaschutz tun zu müssen, gewachsen.
Treffen mit Verkehrsminister Wissing
An Tag 9 der Straßenblockaden trifft Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) Aktivisten der "Letzten Generation". Wissings grüner Koalitionspartner wirft ihm vor, beim Klimaschutz auf der Bremse zu stehen, ein Tempolimit auf Autobahnen lehnt er ab. Im Anschluss tritt nur Lea Bonasera von der "Letzten Generation" vor die Presse. Die Straßenblockaden sollen weitergehen: "Ich vergleiche das mit Gewerkschaftsstreiks: Ohne Streiks kein gutes Ergebnis bei Tarifverhandlungen. Das ist auch unser Ansatz. Natürlich werden wir den weiterverfolgen, bis wir eine ehrliche, gute und entschlossene Klimapolitik haben."
An Tag 12 fordert Umweltministerin Steffi Lemke von den Grünen mehr Tempo bei Klimaschutzmaßnahmen im Verkehr. Sonst ließen sich die Klimaziele nicht erreichen. Dabei hatten die Grünen vor kurzem der Aufweichung der Klimaschutzziele zugestimmt. Unklar bleibt, wann von Olaf Scholz der versprochene "Klimawumms" kommt, wie die Koalition ihre ehrgeizigen Klimaziele erreichen will.
Und die "Letzte Generation"? Auch wenn sie sich öffentlich weiter blockadebereit gibt, kann sie die ablehnende Haltung in der Bevölkerung nicht einfach ignorieren. Die Klima-Aktivisten werden deshalb neue Protestformen finden müssen, um die Bevölkerung insgesamt mitzunehmen auf dem Weg zu besserem Klimaschutz. Das Mittel der Blockaden scheint ausgereizt zu sein.
Sendung: rbb24 Inforadio, 09.05.2023, 09:00 Uhr