Bauamt entzieht Nutzungsrecht - Die Trutzburg von Lichtenberg
In Berlin-Lichtenberg fehlt vielen Häusern die Baugenehmigung. Die Dokumente wurden im Krieg zerstört. Trotzdem verlangt der Bezirk von einigen Hausbesitzern diesen Nachweis - andernfalls müssen sie ausziehen. Von Oliver Noffke
Als nächstes möchte er die Fassade dämmen. Oder vielleicht doch die Gasheizung austauschen? Ruwen Wieman ist sich nicht ganz sicher. "Wir würden gern eine Wärmepumpe einbauen oder Solarpanel auf dem Dach anbringen."
Wenn Wieman vom Ausbau des Dachstuhls spricht oder über Elektrokabel, steigt seine Laune. Doch jedes Lächeln, das ihm über die Wangen huscht, fangen seine Mundwinkel schnell wieder ein. Ruwen Wieman weiß: Mehr anpacken, lohnt sich gerade nicht. Er ist ein Macher, der still halten muss.
Gemeinsam mit den anderen Besitzer:innen der Wartenbergstraße 22 steckt er in einem Rechtsstreit mit dem Bezirksamt von Berlin-Lichtenberg. Das hat die Nutzung als Wohnhaus untersagt. Jede Minute, die der junge Familienvater jetzt in den Ausbau steckt, könnte am Ende verschenkt sein; jeder zusätzliche Euro sinnlos ausgegeben. "Solange wir nicht wissen, ob wir hier bleiben dürfen, machen wir das nicht."
Das Bezirksamt sagt, es handele sich gar nicht um ein Wohnhaus. Und verlangt eine Baugenehmigung als Gegenbeweis. Die existiert aber nicht mehr. Genau wie bei vielen anderen Gebäuden im Bezirk, die vor dem Zweiten Weltkrieg gebaut wurden und heute noch stehen. Im Frühjahr 1945 brannte Lichtenbergs Bauamt nieder. Dabei gingen auch massenhaft Akten und Papiere in Rauch auf. Viele Baugenehmigungen wurden vernichtet.
Was Wieman stört, ist, dass dieser Umstand in seinem Fall zum Problem gemacht wird. "Das Amt kann behaupten, dass das hier ein Schwarzbau gewesen sein soll, weil das Bauamt abgebrannt ist. Und wir sind in der Beweispflicht. Wir müssen beweisen, dass es diese ursprüngliche Baugenehmigung mal gab."
Streit um "gewerbliche Prägung"
"Da ist das deutsche Recht etwas starr", sagt Kevin Hönicke. "Das Recht sagt: Der Nutzer oder Inhaber des Gebäudes muss nachweisen, dass seine Nutzung dort richtig ist." Hönicke ist in Lichtenberg als Stadtrat unter anderem für die Bereiche Bauen und Stadtentwicklung zuständig. Meist seien fehlende Baugenehmigungen in Lichtenberg kein Problem, sagt der SPD-Politiker.
In diesem Fall gehe das aber nicht. "Aufgrund der gewerblichen Prägung in dem Bereich", so der Stadtrat. "Deswegen können wir auch nachträglich dort keine Baugenehmigung für Wohnen erlauben." Allerdings existiert für die Gegend gar kein Bebauungsplan, der eine "gewerbliche Prägung" zum Entwicklungsziel erklärt.
"Wir haben den Standpunkt, dass die Nutzungen miteinander verträglich gestaltet werden müssen: Clubs, Gewerbe und Wohnen", sagt Robert Pohle. Er sitzt für Bündnis 90/Die Grünen in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV). Die Grünen wollen, dass entsprechende Regeln in einem neuen Bebauungsplan festgehalten werden. Laut Pohle leben offiziell zwar nur 44 Personen in dem riesigen Areal zwischen den Gleisen, Verdrängung lehne er aber in Zeiten von Wohnraumknappheit ab. "Man versucht hier über die Androhung von Zwangsgeldern, Nutzungen zu verdrängen und das bei einem angespannten Mietmarkt."
Telefonverzeichnisse aus dem Kaiserreich
Vier Etagen, Schmuckelemente an der Fassade - abgesehen vom flachen Dach wirkt das Haus Wartenbergstraße 22 wie ein ganz normaler Bau aus der Gründerzeit. Aus seiner Umgebung sticht es allerdings deutlich hervor. Nebenan befinden sich Garagen, Werkstatthöfe, nur wenige Gebäude haben eine zweite Etage. Vor dem Krieg standen zu beiden Seiten der Wartenbergstraße höhere Häuser. Viele wurden ausgebombt. Zu DDR-Zeiten siedelten sich dann viele kleine Betriebe in der Gegend an.
Drei Bahnlienen schließen die Nachbarschaft ein. Zum Ostkreuz, zur Frankfurter Allee, nach Rummelsburg. An der nördlichen Spitze dieses Dreiecks steht das Haus einsam wie der letzte Zahn in einem ansonsten leeren Gebiss. Trotzdem ist es nicht so, dass in der Nachbarschaft niemand wohnt. Gegenüber wohnt ein Mechaniker über seiner Werkstatt. Alles genehmigt, versichert dieser. Und zwei Häuser weiter konnte ein Anwohner Rechtsstreitigkeiten mit dem Bezirk um Nutzungsrechte für sich entscheiden.
Sie sprechen von der "Wartenburg"
2016 hat Ruwen Wieman mit fünf Freunden und Freundinnen die Wartenbergstraße 22 gekauft. Gemeinsam haben sie das Haus saniert. Das Dach abgedichtet, Leitungen neu verlegt, Bodendielen geschliffen. Etwa zwei Jahre nach dem Einzug beginnt der Streit mit dem Bezirk. Von Anfang an ging es darum, dass hier nicht gewohnt werden sollte. Allerdings änderten sich die Gründe.
Am Anfang hieß es noch, das Haus sei einsturzgefährdet, sagt Wieman. "Dann: Es stehe zu nah an der S-Bahn, obwohl auf der anderen Seite neue Häuser viel näher dran gebaut wurden. In dem Haus wäre nur Gewerbe gewesen. Zuletzt wurde vor Gericht behauptet, dieses Haus sei ein Schwarzbau."
Nun hängt also alles von einer Baugenehmigung ab, die nicht mehr existiert. Was alle Beteiligten wissen. Das Amt, das einen Ersatz ausstellen könnte, will trotzdem das Original sehen. Diese Faktenlage habe im Haus alle angespornt, zu beweisen, dass darin immer gewohnt wurde, sagt Wieman. Die Hausgemeinschaft sei durch diesen - wie sie es empfinden - Angriff enger zusammengerückt. Das Haus ist ihr Schutzort, sie nennen es "Wartenburg".
Im Treppenhaus hängt ein Museum an der Wand. Die gesamte Geschichte des Gebäudes hangelt sich einen Zeitstrahl entlang. "Die ersten Nachweise, die wir gefunden haben, dass hier Leute gewohnt haben, sind von 1893", sagt er. Dem Jahr, in dem das Haus fertiggestellt wurde. Telefonbucheinträge aus sämtlichen Staaten, für die Berlin mal die Hauptstadt war, beginnend beim Kaiserreich. Impfausweise oder Pfändungsanordnungen aus der DDR mit dieser Anschrift. Sowie Briefe vom Finanzamt aus denen eindeutig hervorgeht, wer hier besteuert wurde: Privathaushalte.
So lange es in der Sache kein Urteil gibt...
Baustadtrat Hönicke hält dagegen: "Es gab eine sehr lange historische Betrachtung der Entwicklung dieses Gebäudes: Welche Nutzungen waren da drin? Da gehen die Ansichten des Amtes und der Anwohnenden ein bisschen auseinander." Nach seinen Informationen habe sich in den vergangenen Jahrzehnten hauptsächlich Gewerbe in dem Haus befunden.
Wann es im Rechtsstreit zwischen Bezirk und "Wartenburg" eine Entscheidung gibt, ist nicht ganz klar. Möglicherweise kommt sie erst, wenn die Frist des Bauamts bereits abgelaufen ist. Bevor es in der Sache ein Urteil gibt, muss aber niemand ausziehen, versichert Baustadtrat Kevin Hönicke. "So lange das nicht endlich endgültig entschieden ist, würde ich das auch nicht umsetzen wollen."
Aber selbst wenn die Besitzer:innen vor dem Oberverwaltungsgericht Recht bekommen, wäre ihr Haus noch nicht gerettet. Möglicherweise wird es irgendwann mitsamt seiner Nachbarschaft abgerissen und weggeräumt.
Abschnitt 17
Die Mittagssonne knallt aufs Dach. Ruwen Wieman hält schützend eine Hand über seine Augen. Mit der anderen deutet er Richtung Boxhagener Straße. Gleisstrecken, die zu einer Spitze zusammenlaufen. Dahinter starten Ringbahnzüge aus dem Ostkreuz. Andere brausen hinein. Noch ein Stück weiter weg, wird es interessant, meint Wieman: Direkt neben dem Büroturm einer großen Versicherung könnte irgendwann die A100 zum Sprung über die Spree ansetzen.
Die Autobahn würde anschließend von einer Brücke direkt in einen Tunnel führen; der würde sich erst in eines der quirligsten Ausgehviertel der Republik bohren und schließlich unter den Fundamenten des Ostkreuzes abtauchen. Zurück an die Oberfläche käme der Tunnel dann irgendwo in der näheren Umgebung. Wieman wischt mit der Hand die umliegenden Werkstätten und Kleinbetriebe beiseite. Falls der umstrittene Abschnitt 17 der A100 gebaut werden würde, die Wartenbergstraße 22 wäre eindeutig im Weg.
"Wir glauben, wir müssen hier gehen, weil die Autobahn kommt", sagt Ruwen Wieman. "Und dann ist das Haus, das im Weg steht, eben zufällig auch einsturzgefährdet."
Sendung: rbb24 Abendschau, 22.07.2023, 19.30 Uhr