Notruf 112 - Rettungsdienste beklagen Bagatellanrufe - Jüngere werden zunehmend aggressiv
Wer die 112 wählt, sollte eigentlich wissen, dass man die Nummer nur in wirklichen Notsituationen nutzt. Doch trotz umfangreicher Aufklärung hat sich der Missbrauch sogar noch verstärkt. Von Bendrik Muhs
- 116 117 bei akuten Krankheitsfällen anrufen
- 112 nur bei lebensbedrohenden Situationen wählen (Atemnot, Ohnmacht, schwere Unfälle)
- Ziel-Zeit bei echten Rettungseinsätzen wird immer häufiger überschritten
Über eine Million Notrufe gingen bei der Feuerwehr in Berlin 2022 ein - alle 26 Sekunden einer. Nicht einmal die Hälfte davon führte wirklich zu Rettungseinsätzen. Und: Wegen der Überlastung erreichen nur noch 44 Prozent der Rettungskräfte die Ziel-Zeit von 10 Minuten.
In Brandenburg wird die Ziel-Zeit von 15 Minuten noch in 85 Prozent der Fälle erreicht, dennoch beklagen die Feuerwehren auch hier eine Zunahme von unnötigen Notrufen, die im Zweifel echte Rettungseinsätze verzögern.
"Die Bagatelleinsätze haben zugenommen, das spiegelt sich darin wider, dass an einigen Orten Hausärzte und Fachärzte fehlen", so Rüdiger Maus, Einsatzkoordinator der Leitstelle Lausitz, gegenüber dem rbb-Verbrauchermagazin Super.Markt. Zudem sei die Hemmschwelle, den Notruf zu wählen, insgesamt stark gesunken. Allein in den vergangenen fünf Jahren hätte sich die Situation massiv verändert.
Notruf nur bei lebensbedrohlichen Symptomen wählen
Aber was ist streng genommen ein Notfall? Die medizinische Sachlage ist relativ klar: Der Anruf bei der 112 ist nur dann gerechtfertigt, wenn es sich um akute lebensbedrohliche Symptome handelt, also etwa Ohnmacht, Atemnot oder einen allergischen Schock, unkontrollierte Blutungen und schwere Unfälle, aber auch Sprach- oder Sehstörungen und heftigste Brust-, Bauch- und/oder Rückenschmerzen.
Dennoch nutzen vor allem jüngere Menschen den Notruf immer häufiger bei Bagatellfällen. Oft fehle schlicht das Wissen, was eine nicht lebensbedrohliche Krankheitssituationen ist, berichten die Mitarbeiter von Rüdiger Maus. In der Gesellschaft verschiebe sich etwas. Und er selbst ergänzt: "Die Generation, die jetzt alt geworden ist, die weiß noch, damit umzugehen. Die jüngeren Generationen rufen hier an und erwarten, dass der Rettungsdienst kommt. Dabei haben sie sich zum Beispiel mit dem Thema Fieber nie beschäftigt."
Der Rettungsdienst hat in solchen Bagatellfällen auch nur beschränkte Möglichkeiten, so Maus. "Wir können keine Rezepte schreiben, wir können auch nicht einfach schnell drüber gucken, das ist nicht die Aufgabe des Rettungsdienstes."
Anrufer zunehmend aggressiver
Der Einsatzleiter berichtet auch von einer steigenden Aggressivität der Anrufer, wenn man ihnen erklärt, dass ihr Anliegen kein Notfall sei. Für ihn und seine Kollegen in der Leitstelle seien es immer dann schlimme Situationen, wenn sie persönlich angegriffen würden, "weil wir unsere Arbeit machen und ordentlich abfragen". Sie haben oft kein Verständnis dafür, warum so viel abgefragt würde und nicht einfach ein Rettungswagen käme, oder warum ein Patient lieber den Kassenärztlichen Bereitschaftsdienst kontaktieren solle.
Kassenärztlicher Bereitschaftsdienst auch 24 Stunden erreichbar
Der Bereitschaftsdienst ist genau wie die Feuerwehr 24 Stunden am Tag erreichbar und ähnlich organisiert wie die Feuerwehr. Unter der Nummer 116 117 werden Fälle bearbeitet, die zwar akut, aber nicht lebensbedrohlich sind. Er sollte dann genutzt werden, wenn Praxen schon geschlossen sind oder ein Patient sie aus gesundheitlichen Gründen nicht aufsuchen kann. Für Verbraucher bleibt er die beste Alternative zur 112, auch wenn am 24. Oktober die Meldung kam, dass durch ein Urteil des Bundessozialgerichts zu Honorierungsfragen zukünftig weniger Ärzte zur Verfügung stehen werden.
Ein Urteil, dass die Ärzteschaft beunruhigt. "Dieses Urteil des Bundessozialgerichts macht uns allergrößte Sorgen, weil wir davon ausgehen müssen, dass es dadurch zu sehr starken Einschränkungen in der Patientenversorgung kommen kann", so Dr. Burkhard Ruppert, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Berlin. Schon im Dezember wird es seinen Angaben zufolge so sein, dass die KV den ärztlichen Bereitschaftsdienst und auch die Beratungsärzte reduzieren muss.
Der Bereitschaftsdienst ist bereits jetzt überlastet, unter anderem wegen vieler Bagatell-Anrufe. Es gäbe eine Anspruchsmentalität, die letztendlich zu Lasten der Allerschwächsten ginge. "Dass die Ressourcen begrenzt sind, das interessiert viele Patienten nicht. Ich bin wichtig, diese Mentalität herrscht schon", so Anika Pollock, Leitstellendisponentin der KV Berlin.
"Patienten-Navi" soll Notdienst entlasten
Diese dauerhafte Verstopfung des Notdienst-Telefons soll ein neues Online-Tool abmildern, das seit diesem Jahr im Netz verfügbar ist. Im sogenannten Patienten-Navi werden die eigenen Symptome medizinisch eingeordnet, je nach Schwere wird dann weitervermittelt – zu einer Praxis, zum Notdienst oder zu einer weiteren telefonischen Beratung.
Die Lebensretter und Bereitschaftsärzteappellieren an die Patienten, die knappen Ressourcen der 112 und auch der 116 117 zu respektieren und die Nummern wirklich nur in lebensbedrohlichen oder akuten Situationen zu nutzen.
Charlotte Conrad ist Notfall-Sanitäterin, sie gibt Patienten einen einfachen Rat: "Grundsätzlich ist es immer wichtig, erstmal in sich hineinzuhorchen, ob es wirklich so schlimm ist, wie man gerade denkt, oder ob man sich nicht vielleicht wirklich in etwas hineinsteigert". Wer sich hilflos fühle, dem könne es manchmal schon helfen, einen Freund oder ein Familienmitglied auf die Situation anzusprechen.
Sendung: Super.Markt, 06.11.2023, 20:15 Uhr