Interview | Trauerbegleitung - "Trauer ist ein Zusammenspiel aus ganz unterschiedlichen Gefühlen"
Viele Menschen fühlen sich nach dem Tod eines nahen Menschen überfordert. Häufig fehlen im Alltag Zeit und Raum, um sich der eigenen Trauer zu stellen. Das gilt besonders für junge Menschen - mit ihnen arbeitet Trauerbegleiterin Anna Ziegenhagen.
rbb|24: Frau Ziegenhagen, Sie wollten eigentlich in die Seelsorge, und dann wurde es irgendwie Trauerbegleitung, habe ich erfahren...
Anna Ziegenhagen: Ich habe Religions- und Gemeindepädagogik studiert, und dann konnte man an der Hochschule die Ausbildung zur Trauerbegleiterin machen. Und dann habe ich gedacht ja, das mache ich. Es war gar nicht klar, dass ich dann auch in diesem Beruf arbeiten werde. Als ich in den letzten Zügen meiner Masterarbeit war, habe ich die Stellenausschreibung gesehen und habe gedacht, ich probiere es einfach mal und bewerbe mich. Und das hat geklappt.
Trauer ist immer schwer, aber: Ist es denn für gläubige Menschen ein bisschen einfacher?
Das kann man eigentlich nicht so pauschalisieren. Man kann sich im Glauben gehalten fühlen. Aber in so einer Verlustsituation kann es auch ins Gegenteil umschlagen, dass man sich fragt: Warum kann Gott das zulassen? Und dann hadert man damit.
Wie läuft Trauerbegleitung ganz praktisch? Sie kümmern sich zum Beispiel auch um junge Menschen.
Genau. In den Jahren ist die Beratung von jungen Menschen zwischen 20 und 35 zu meinem Schwerpunkt in der Beratungsstelle geworden. Wir haben natürlich auch Gruppen für ältere Menschen.
Es gibt Gruppen- und Einzelgespräche. Zuerst lade ich immer zum Einzelgespräch ein, dann kann ich die Person kennenlernen und sie mich. Sobald ein Platz in der Gruppe frei ist, geht die Person in die Gruppe. Will jemand nicht in die Gruppe oder ist gerade kein Platz frei, begleite ich auch über einen längeren Zeitraum einzeln. Ich gebe dabei keine Ratschläge, jeder ist der Fachmann für sich selbst. Meine Aufgabe ist es, das, was ich von meinen Klienten höre, zurückzuspiegeln.
Ich kann mir vorstellen, dass die Menschen trotzdem das Bedürfnis haben: Ich gehe zu dieser Frau, und die muss mir irgendwie helfen.
Natürlich kommen die Leute auch mit diesem Bedürfnis: 'Sagen Sie mir jetzt bitte, was muss ich machen, damit es mir wieder besser geht?' Ich stelle dann schnell klar, dass ich das nicht kann. Aber ich kann den Menschen Raum geben, um ihre Trauer anschauen zu können. In diesem stressigen Alltag, gerade bei den jungen Erwachsenen, ist es so, dass es wenig Raum gibt. Manche studieren, sind im Referendariat, haben kleine Kinder … Ich versuche, die Trauernden dabei zu unterstützen, die Beziehung zu bewahren, die sie zur verstorbenen Person hatten, oder diesen Verlust ins eigene Leben zu integrieren.
Trauer kann sich doch auch unterscheiden. Je nachdem, ob wir noch irgendwas offen hatten, finde manche keinen Frieden. Wie können Sie helfen?
Dann gilt es, zunächst über diesen Konflikt zu reden. Das sind oft Schuldgefühle. Hätte ich vielleicht das gemacht, dann wäre das und das nicht passiert. Schuldgefühle sind ein ganz zentrales Gefühl vieler Trauernder. Trauer ist kein Gefühl, sondern ein Zusammenspiel aus ganz unterschiedlichen Gefühlen: Wut, Schuldgefühle, Hilflosigkeit, Ohnmacht, aber auch Verbundenheit, Liebe, Dankbarkeit.
Manche haben die Vorstellung, dass Trauer so etwas ist wie eine Erkältung: Kommt irgendwie, bleibt drei Tage und geht dann wieder – dann geht es mir wieder gut. Aber so ist es nicht. Ich sage immer: Die Trauer wird nie vorbei sein, die bleibt bis zum eigenen Lebensende. Aber sie verändert sich. Eine Klientin hatte das mal so schön ausgedrückt. Sie sagte: Am Anfang war es so eine kalte Trauer, die mich gelähmt hat. Und jetzt ist es eher so eine warme Trauer geworden, die mich mit meiner Mutter auch verbindet.
Sie kochen auch zusammen mit trauernden Menschen …
Ja, das ist unser offener Treff für junge Erwachsene, den wir Soulfood nennen, weil wir da zusammen kochen. Das ist aus der Trauergruppe für junge Erwachsene entstanden, das ist eine geschlossene Gruppe, das heißt, alle beginnen zusammen und die Gruppe endet nach einem halben Jahr. Bei den Teilnehmern gab es das Bedürfnis noch einen Raum zu haben, wo sie ab und zu hingehen und sich austauschen können. Dann haben wir angefangen mit dem Soulfood-Abend. Der richtet sich auch an die Leute, die auf einen Gruppenplatz warten. Da gibt es Austausch mit anderen, die Hemmschwelle ist niedrig und es ist auch nicht so verpflichtend: Ich kann spontan entscheiden, gehe ich hin oder nicht.
Mein Eindruck ist, dass wir uns zu einer Gesellschaft entwickelt haben, der es immer gut gehen muss. Dass auch mal was schiefgehen kann und dass das auch zum Leben gehört, haben einige für sich ein bisschen verloren. Macht das Ihre Arbeit schwieriger? Oder ist das der Grund, warum Sie diese Arbeit überhaupt leisten?
Das stelle ich tatsächlich auch immer wieder fest. In meinen Gesprächen gerade bei den Jüngeren habe ich oft das Gefühl, die kommen mit so einem Druck: Oh, mir geht's jetzt schlecht, ich will das professionell begleiten lassen, auch so ein bisschen in der Hoffnung, mir geht es bald besser. Glück und Zufriedenheit als oberste Lebensmaxime, und da passen dann schwere Gefühle oft nicht rein.
Da gibt es auch eine große Unsicherheit. Trauere ich zu viel? Trauere ich zu wenig? Verdränge ich vielleicht zu viel und bekomme dann irgendwann eine Depression? Und das ist auch eine meiner Aufgaben, den Leuten dazu sagen: Macht Euch keinen Druck, es ist alles in Ordnung. Jeder hat seinen ganz individuellen Umgang damit.
Leute sind individuell, Sie als Trauerbegleiterin sind immer für sie da. Haben Sie für sich auch schon etwas mitgenommen, gelernt und eine Sicht verändert?
Auf jeden Fall. Ich mache das seit sieben Jahren. Und wenn man sich immer mit dem Tod und dem Sterben beschäftigt, dann verändert das auf jeden Fall die Sicht aufs Leben. Meine Arbeit zwingt mich dazu, mich im Blick zu haben und auf mich zu achten. Ich kann nicht ewig Überstunden machen und muss für mich immer wieder auch Räume in meinem Leben schaffen, bei denen es nicht um Tod und Sterben geht.
Was haben Sie für sich gelernt?
Naja, dass der Tod zum Leben gehört und vielleicht auch, dass man nicht alles auf morgen verschieben sollte.
Sie können sich mehr an manchen Dingen erfreuen oder mehr im Augenblick sein?
Ja. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, es wäre immer so, aber es gelingt mir schon.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Ingo Hoppe für rbb 88.8. Es handelt sich um eine redigierte Fassung.
Sendung: rbb 88.8, 30.10.2023, 17:00 Uhr