Interview | Amadeu-Antonio-Stiftung - Droht eine Rückkehr der sogenannten Baseballschlägerjahre?
Eine rechte Jugendgruppe wird beim CSD festgenommen, am Ostkreuz greifen mutmaßlich Rechtsextremisten gezielt Demonstrierende an. Die Amadeu-Antonio-Stiftung erkennt eine neue Strategie rechtsextremer Landnahme vor den Landtagswahlen.
Am Samstag sind am Rande des Christopher Street Days in Berlin 28 Mitglieder einer rechten Gruppierung festgenommen worden, 14 von ihnen minderjährig. Die Gruppe trat laut Polizei in szenetypischer rechter Kleidung auf, trug schwarz-weiß-rote Fahnen bei sich und war mit Schutzhandschuhen gegen Schlagverletzungen ausgestattet.
Drei Wochen zuvor waren am Ostkreuz mehrere Menschen verletzt worden, als sie - auf dem Weg zu einer Demonstration gegen rechts - von mit Schlagstöcken und -ringen bewaffneten Vermummten angegriffen wurden. Die Betroffenen sprechen von einer Attacke von Neonazis, die Polizei äußert sich nicht zum Motiv der Täter.
Besonders Jugendgruppen und Jugendkultur würden im Fokus der Täter stehen, beobachtet die Amadeu-Antonio-Stiftung. Diese Täter seien dabei selbst meist Jugendliche. Stiftungssprecher Lorenz Blumenthaler warnt davor, dass rechte Gruppen wieder gezielt Jugendliche anwerben. Zu erkennen sei ein gefährlicher Trend hin zu mehr Gewalt und Angriffen.
rbb|24: Herr Blumenthaler, haben diese Vorfälle Ihrer Beobachtung nach zugenommen?
Lorenz Blumenthaler: Wir können auf jeden Fall sagen, dass es allein in den letzten fünf bis sechs Monaten zu über 20 solcher gewalttätigen Angriffe in Berlin kam, und das ist schon eine krasse Häufung. Nach wie vor fehlt vielen Menschen das Bewusstsein dafür, dass es auch in einer scheinbar weltoffenen, heilen Weltstadt wie Berlin nach wie vor eine rechtsextreme Bedrohung gibt. Die reicht mittlerweile so weit, dass selbst Demonstrierende, die sich extra am Ostkreuz treffen, um sich sicher innerhalb des Stadtrings zu treffen und eben nicht in Marzahn-Hellersdorf. (Dort sollte die Demonstration gegen Rechtsextremismus stattfinden, Anm. d. Red.)
Explizit kommt es zu Übergriffen rechter Jugendlicher auf Demonstrierende. Welche Motivation steckt hinter den Attacken?
Wir müssen diese Angriffe Rechtsextremer auf jeden Fall in einem größeren Kontext sehen. Dahinter steckt eine bewusste Strategie rechtsextremer Landnahme vor den Landtagswahlen. Dabei darf man nicht nur die Angriffe auf die Demonstrationen beobachten, sondern muss auch die ganzen Angriffe auf die Jugendsozialarbeit und Jugendclubs am Rand des Stadtgebiets von Berlin mit in den Blick nehmen. Es gab Angriffe in Marzahn, in Hellersdorf, in Weißensee und in Pankow.
Es geht ganz klar darum, sein Revier zu markieren, manchmal eben auch bei so großen Anlässen wie dem CSD. Dort gab es bereits letztes Jahr Angriffe, dieses Mal ist die Polizei ja früh genug eingeschritten. Die rechten Gruppen schaffen ein massives Bedrohungsszenario für alle Menschen, die zum CSD gehen und die sich dort sicher fühlen und zu ihrer Identität stehen können. Genau dort verstreuen die rechten Gruppen ganz bewusst die Saat der Angst.
Welche Folgen haben die Angriffe auf die Jugendsozialarbeit?
Sie sind ein direkter Angriff auf die Demokratie, denn Jugendsozialarbeit ist Demokratiearbeit. Wir sehen, wie sicher sich Rechtsextreme durch die Wahlergebnisse rechtsextremer Parteien fühlen. Es geht ganz deutlich darum, ein Signal zu setzen: 'Wir sehen euch, wir wissen, wo ihr euch aufhaltet, ihr sollt euch nicht sicher fühlen'. Jugendclubs sind immer auch Orte der freien Entfaltung und Gegenkultur, die ganz klar nichts mit Rechtsextremen zu tun haben möchten.
Und wenn wir uns anschauen, wie damals die sogenannten Baseballschlägerjahre entstanden sind und warum sie zu so einer langen Welle der Gewalt führten, dann eben, weil es auch an jugendlicher Infrastruktur und Räumen freier Entfaltung fehlte, in denen man Demokratie ganz klar erleben und erfahren hat.
Welche Gruppen stecken hinter den Angriffen?
Vor allem agiert im Berliner Osten die rechtsextremistische Gruppe "Dritter Weg", das andere ist eigentlich nur die Jugendorganisation von denen. (Auf dem CSD handelte es sich laut Polizei um das sogenannte Bündnis "DJV: Deutsche Jugend voran", Anm. d. Red.)
Die sind personell wahnsinnig miteinander vernetzt. Während der "Dritte Weg" noch so etwas Verrucht-Rechtsextremes an sich haften hat, sind gerade die Jugendorganisationen, die vielleicht ein bisschen unbefleckter daherkommen, diejenigen, die bei Jugendlichen erstmal für weniger Misstrauen sorgen.
Warum fühlen sich Jugendliche zu den rechtsextremistischen Gruppierungen hingezogen?
Es wird ja immer nicht so gern thematisiert, aber unter den Jugendlichen gibt es eine wahnsinnige Verunsicherung gerade ob der verschiedenen Krisen. Die zwei Jahre Corona-Lockdown sind nie so wirklich aufgefangen und danach thematisiert worden, das ging teilweise mit einer massiven Isolation einher. Dann ist man konfrontiert mit einer Welt der Krisen, der Klimakrise, gewalttätigen Konflikten. Rechtsextreme nutzen ganz bewusst diese massiven Verunsicherungen. Sie tun das sehr geschickt, machen Angebote, sich trotz dieser Bedrohungen und Verunsicherungen stark zu fühlen - sich stark fühlen im Kollektiv, im Erheben über andere.
Anders als in den 1990er Jahren werben die Rechtsextremen Jugendliche nicht mehr nur durch das Verteilen von CDs an. Social Media spielt eine große Rolle. Wer TikTok aufmacht, wird sofort mit einem Maximilian Krah konfrontiert, der vom Widererstarken deutscher Männlichkeit spricht. Und das zieht - glaube ich - schon viele Jugendliche in ihrer starken Verunsicherung an.
Angeworben wird mit Versprechen starker Männlichkeit und dem Kollektiv, vermittelt wird es über Social Media. Welche weitere Punkte gehören zur Strategie der Rechtsextremen, um Jugendliche für sich zu gewinnen?
Viele dieser Jugendlichen trainieren beispielsweise Kampfsport mit organisierten Neonazis, es gibt quasi wieder ein sportliches Freizeitangebot für Jugendliche. Auch das verleiht der Sache Attraktivität.
Rechte Jugendliche formieren sich im Kollektiv, begehen Angriffe mit Schlagstöcken - in den Ereignissen lassen sich Analogien zu den Entwicklungen der rechtsextreme Szene der 1990er Jahre ziehen. Würden Sie von der Rückkehr der sogenannten Baseballschlägerjahre sprechen?
Also ich würde eher davon sprechen, dass Anzeichen dessen, was den Weg für die Baseballschlägerjahre bereitet hat, jetzt wieder erkennbar sind. Dass eben rechtsextreme Jugendkultur wieder en vogue wird, dass sich Menschen wieder kleiden wie in den Baseballschlägerjahren, dass die Täter immer jünger werden. Aber von der Gewalt her ist es noch nicht mit den Baseballschlägerjahren vergleichbar.
Wenn wir über diese Jahre reden, reden wir über eine Straßenkultur der Alltagsgewalt, dass alle Leute, die nicht in das Weltbild rechtsextremer passten, potenziell - ganz egal, an welchem Ort sie sich aufhielten - sofort zur Zielscheibe wurden. Das führte in den 1990er Jahren vor allem auch zu Toten, seien es Migrant:innen gewesen oder alternative Jugendliche wie Punks und Skater.
So weit sind wir zum Glück noch nicht, aber dass es wieder überhaupt so eine Anziehungskraft für die rechtsextreme Szene bei Jugendlichen gibt, das sind schon sehr gefährliche Vorzeichen.
Wie kann man die Jugendkultur gegen die Vereinnahmung schützen?
Indem man Jugendsozialarbeit und Jugendclubs als Orte der Demokratie schützt, denn die machen den Rechtsextremen Angst. Die Arbeit mit und für Jugendliche muss in Berlin einfach besser abgesichert sein, um mit solchen Ängsten und Verunsicherungen bei Jugendlichen umzugehen. Das sind natürlich alles Maßnahmen, die nicht sofort und von heute auf morgen für mehr Deradikalisierung sorgen, aber das wäre auf jeden Fall die langfristige Strategie.
Auf der anderen Seite muss man jetzt ganz unmittelbar dafür sorgen, dass eben solche Demonstrationen und Jugendclubs im Zweifelsfall besser geschützt werden, auch durch die Polizei. Man muss sich das mal vorstellen: Am Ostkreuz war ja sogar Polizei vor Ort und trotzdem konnten Rechtsextreme am Ostkreuz Demonstrierende vermöbeln. Wir brauchen mehr konsequente Polizeiarbeit und ein Ernstnehmen der Bedrohungslage durch die Sicherheitsbehörden.
Das Interview führte Jenny Barke für rbb|24. Es handelt sich um eine redigierte, gekürzte Fassung.
Sendung: rbb24 Inforadio, 28.07.2024, 15:30 Uhr