Antisemitismus - Vandalismus an jüdischen Gedenkstätten hat zugenommen

Sa 02.11.24 | 08:22 Uhr | Von Elena Deutscher und Marie Kaiser
Archivbild: Beschädigte Stolpersteine am Lindenufer in Berlin Spandau. (Quelle: rbb)
Bild: rbb

Beschmiert, zerkratzt, zerstört: Die gezielte antisemitische Sachbeschädigung an Gedenkorten in Berlin hat im ersten Halbjahr 2024 deutlich zugenommen. Das zeigen neue Zahlen der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus. Von Elena Deutscher und Marie Kaiser

Im ersten Halbjahr 2024 wurden mehr jüdische Gedenkstätten in Berlin beschmiert oder zerstört als im ganzen Jahr 2023. Das geht aus Zahlen der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) hervor, die dem rbb exklusiv vorliegen. Für das erste Halbjahr 2024 wurden 21 Vorfälle von gezielter Sachbeschädigung an Gedenkorten gemeldet, im gesamten Vorjahr waren es 18 gemeldete Fälle. Hier zeigt sich eine deutliche Zunahme gezielter antisemitisch motivierter Sachbeschädigung.

"Schmierereien an Orten des Gedenkens, das Beschädigen von Mahnmalen und das Unkenntlichmachen von Stolpersteinen und damit auch das unkenntlich machen der Namen derjenigen, an die wir gedenken wollen, das sind alles Formen, die wir regelmäßig und in hoher Kontinuität immer wieder dokumentieren und erfassen", sagt Julia Kopp von der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus.

"Der 7. Oktober war eine Zäsur"

Besonders auffällig: Zwölf der Vorfälle 2023 ereigneten sich nach dem 7. Oktober - nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel. "Der 7. Oktober war grundsätzlich eine Zäsur sowohl für den Antisemitismus, aber auch für Jüdinnen und Juden in Berlin und weltweit. Infolgedessen kam es zu einer stärkeren Instrumentalisierung und Vereinnahmung solcher Gedenkzeichen", erklärt Kopp. Dennoch sei diese Form der Vereinnahmung nicht neu, auch im Zuge der Corona-Pandemie sei beispielsweise der sogenannte Judenstern instrumentalisiert worden, um sich als "ungeimpft" zu kennzeichnen, sagt Kopp.

Rias Berlin geht eigenen Angaben zufolge davon aus, dass die Zahlen antisemitisch motivierter Sachbeschädigung an Gedenkorten im Laufe dieses Jahres noch weiter steigen werden. Ein Grund: Besonders an Gedenktagen wie dem 9. November, dem Jahrestag der Novemberpogrome 1938, häufen sich laut der Informationsstelle die Taten.

Julia Kopp von RIAS Berlin. (Quelle: rbb)Julia Kopp von Rias Berlin

Senat verweist auf das LKA

Auf Nachfrage bei der Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt Berlin heißt es: "Die Institutionen übernehmen regelmäßig selbst vor Ort die Einschätzung der Gefährdungslage (...) und schalten gegebenenfalls die Polizei/das Landeskriminalamt ein. (...) Das LKA hat bei diversen Gedenkstätten (...) zusammen mit den jeweiligen Institutionen Sicherheitskonzepte erarbeitet und abgestimmt." Diese Konzepte seien in der Regel vertraulich.

Stolpersteine mit Hundekot beschmiert

Auch Stolpersteine sind häufig Ziel antisemitisch motivierter Sachbeschädigung: Die Steine werden laut Rias Berlin gestohlen, zerkratzt, mit Hundekot beschmiert oder mit rohen Eiern beworfen. An Gedenktagen kommt es vor, dass Blumen und Kerzen, die neben den Stolpersteinen aufgestellt werden, umgeworfen oder zertreten werden.

Viel berichtet wurde zuletzt über einen Vorfall in Zeitz in Sachsen-Anhalt, bei dem zehn Stolpersteine gestohlen wurden. Hinweise darauf, dass der Vandalismus explizit gegen Stolpersteine in Berlin zunimmt, gibt es aber aktuell nicht. Unter den bisher in diesem Jahr bei Rias gemeldeten gezielten Sachbeschädigungen von Gedenkorten, sind sechs Beschädigungen von Stolpersteinen. 2023 wurden in zehn Fällen Stolpersteine gezielt beschädigt, neun dieser Beschädigungen ereigneten sich nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel und rund um den 9. November.

Im August dieses Jahres hatten Unbekannte in Spandau versucht, Stolpersteine am Lindenufer zu beschädigen und aus dem Boden zu hebeln. Für Uwe Hofschläger und Svenja Tietz von der Jugendgeschichtswerkstatt Spandau ein Schock, wie sie sagen: "Es hat mich emotional sehr getroffen. Man fragt sich, wer macht sowas und wieso?", so Svenja Tietz. Sie studiert Geschichte an der FU Berlin und arbeitet als Freiwillige in der Jugendgeschichtswerkstatt.

Uwe Hofschläger und Svenja Sigrid Tietz von der Jugendgeschichtswerkstatt Spandau neben den Stolpersteinen am Lindenufer. (Quelle: privat)
Uwe Hofschläger und Svenja Tietz neben den Stolpersteinen am Lindenufer | Bild: privat

Täter zu ermitteln ist häufig schwierig

"Mein erster Impuls war, dass ich der Familie Bescheid geben muss", erinnert sich Svenja Tietz im Gespräch mit dem rbb. Angehörige der auf den Stolpersteinen verewigten ermordeten Jüdinnen und Juden hatten die Verlegung der Steine angeregt. Sie waren dafür vor zwei Jahren extra aus den USA angereist. Tietz war daran maßgeblich beteiligt. "Wir haben die Beschädigung sofort der Koordinationsstelle für Stolpersteine in Berlin gemeldet und auch bei der Polizei zur Anzeige gebracht", ergänzt der Politologe und Leiter der Jugendgeschichtswerkstatt Uwe Hofschläger. Allerdings sei es oft schwierig die Täter zu ermitteln.

Anders sieht das bei den Tatmotiven aus: Häufig kommen die Täter und Täterinnen aus einem rechtsradikalen Spektrum - allerdings: "Seit dem 7. Oktober nehmen wir Schmierereien an Gedenkorten auch stärker aus dem Milieu des sogenannten antiisraelischen Aktivismus wahr. Das sind Schmierereien mit Parolen, die aus einem linken Spektrum kommen oder eben aus palästinensischen Gruppierungen", erklärt Julia Kopp von Rias Berlin.

Mahnmal Hampel: Denkmäler werden mit antisemitischen Schriftzügen beschmiert. (Quelle: privat)
Denkmal beschmiert | Bild: privat

Neben Schmierereien an Denkmälern mit Schriftzügen wie "Free Gaza" oder "Free Palestine" wird Israel von pro-palästinensischen Gruppen häufig vorgeworfen, einen Genozid im Gazastreifen zu begehen. "In dem Moment, in dem ich Juden und Jüdinnen mit NS-Täterinnen und Tätern vergleiche - gegen die es als völlig legitim gilt, Widerstand zu leisten oder sogar Gewalt anzuwenden - in dem Moment legitimiere ich auch die Gewalt gegen Jüdinnen und Juden", sagt Kopp.

Die "Bibliothek der verbrannten Bücher" auf dem Bassinplatz in Potsdam wird immer wieder beschmiert und beschädigt. (Quelle: privat)
Die „Bibliothek der verbrannten Bücher“ | Bild: privat

Keine Meldestelle in Brandenburg

In Brandenburg haben die Vorfälle laut Rias-Informationen zwar nicht zugenommen, allerdings ist Rias seit 2021 auch nicht mehr mit einer eigenen Meldestelle in Brandenburg vertreten. Daher geht der Rias Bundesverband davon aus, dass die Dunkelziffer in dem Bundesland besonders hoch ist. Außerdem liegen die Zahlen für das Jahr 2024 noch nicht vor.

Eine vermutlich politisch motivierte Vandalismus-Tat ereignete sich Ende September auf dem Bassinplatz in Potsdam. Neben dem Gedenkort "Bibliothek der verbrannten Bücher" wurden Bücher in Brand gesetzt. "Wir waren schockiert”, sagt Daniel Zeller. Er ist aktiv in der Wählergruppe "DIE aNDERE", die die Errichtung des Gedenkorts initiiert hatte. Seit dem 22. Mai dieses Jahres sind in einer roten Telefonzelle die Bücher ausgestellt, die dort am 22. Mai 1933 von den Nationalsozialisten verbrannt wurden. Seit der Errichtung der Gedenkstätte, wird die Telefonzelle immer wieder beschmiert, aufgebrochen oder anderweitig beschädigt. Die Motive vieler Beschädigungen sind unklar. Doch: Die Verbrennung von Büchern, direkt neben einer Gedenkstätte, die an die Bücherverbrennung von 1933 erinnert, zeige, "dass auch ein Gedenkort, der an die schlimmste Zeit in unserer Geschichte erinnert nicht von sich heraus einen Schutz genießt", sagt Zeller.

Sendung: rbbKultur - Das Magazin, 02.11.2024, 18:30 Uhr

Beitrag von Elena Deutscher und Marie Kaiser

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