Strafverfolgung nach Silvester - "Wir wissen, dass Gesellschaft und Politik von uns Tempo erwarten"
Hunderte Straftaten werden jährlich an Silvester in Berlin verübt, die Folge sind Zerstörungen, Schwerverletzte, sogar Tote. Die Justiz verfolgt die Schuldigen – doch mit einer gemischten Erfolgsbilanz. Von Sylvia Tiegs
Die Frontscheibe der Praxis von Tierarzt Andreas Ross in Berlin-Tegel wird nur noch von Panzer-Tape, extra starkem Klebeband, zusammengehalten. Die Wucht einer explodierenden Kugelbombe hat sie in der Silvesternacht zerstört, mitten in einer Wohnsiedlung am Emstaler Platz. Mehrere Menschen wurden durch die Detonation schwer verletzt, ein siebenjähriger Junge aus der Nachbarschaft lebensgefährlich. Dr. Ross ist nur der Schrecken schwer in die Glieder gefahren: "Als ich das gehört habe mit dem kleinen Kind habe ich gedacht: Da relativiert sich mein Schaden doch sehr."
Vom Rechtsstaat erwartet er jedoch einen besseren Schutz der Bevölkerung, er fragt sich: "Warum ist es möglich, diese illegalen Kugelbomben immer noch im Internet zu bestellen?" Mehr Vorbeugung sei ihm wichtig, sagt er – und eine zügige Strafverfolgung des oder der Verantwortlichen.
Strafverfahren 2024 im Schnitt in sechs Wochen abgearbeitet
Rund 1.500 "silvestertypische“ Straftaten, 125 Fälle mehr als im Vorjahr, hat die Polizei zum diesjährigen Jahreswechsel gezählt, darunter Sachbeschädigungen, Verstöße gegen das Waffengesetz, Angriffe auf Einsatzkräfte. Laut einer jüngsten Bilanz der Berliner Polizei wurden 670 Tatverdächtige wegen "silvestertypischer" Straftaten erfasst. Offen bleibt, wie viele am Ende tatsächlich eine Strafe erwarten werden – und wann?
Ermittler weisen immer wieder auf die Schwierigkeit hin, Straftäter in Silvesternächten dingfest zu machen. Es ist dunkel, viele Menschen auf den Straßen, da könne man schnell untertauchen, heißt es bei der Polizei. Der Jahreswechsel 2022/23 zeigt das, mit seinen zahlreichen Angriffen auf Polizisten, Feuerwehrleute und Rettungssanitäter. 100 Ermittlungsverfahren wurden in den Monaten danach eingeleitet. Aber nur in der Hälfte der Fälle konnte ein möglicher Täter ausgemacht werden. Und nur in 23 Fällen wurde jemand verurteilt.
Das aber ging dann zügig, meint Stefan Schifferdecker vom Berliner Richterbund. Nach seinen Zahlen wurden die Strafverfahren 2023 durchschnittlich in 106 Tagen abgearbeitet, 2024 waren es dann im Schnitt nur noch 42 Tage – also etwa sechs Wochen zwischen dem Beginn der Ermittlungen und dem Abschluss des Verfahrens. "Ein ganz guter Wert", findet Schifferdecker, der selbst als Richter arbeitet. Allerdings: Drei Silvester-Strafverfahren aus 2024 seien noch offen, das sei für die Geschädigten "schlimm". Er habe großes Verständnis, wenn Betroffene darüber wütend seien.
Unerklärliche Verzögerung
Tatsächlich ist eine Straftat aus der Silvesternacht vor zwei Jahren noch nicht abgeschlossen, ein besonders krasser Fall: der Angriff mit Pyrotechnik auf ein vollbesetztes Fahrzeug der Feuerwehr. Beschuldigt ist ein Jugendlicher. Erst im vergangenen September, eineinhalb Jahre nach der Silvesternacht, sollte der Prozess beginnen. Doch das fiel dann aus, wegen Erkrankung des Richters. Der Sprecher der Berliner Staatsanwaltschaft, Sebastian Büchner, nennt das einen "Ausreißer". Die Anklageschrift sei im September 2023, neun Monate nach der vorgeworfenen Tat, fertig gewesen. Warum der Gerichtsprozess dann erst ein volles Jahr angesetzt wurde, könne er nicht sagen.
Auch die Sprecherin der Berliner Strafgerichte, Lisa Jani, kann hier nur spekulieren. Auf Anfrage sagt Jani gegenüber rbb|24, die Verzögerung könne viele Gründe haben: Überlastung bei der Jugendgerichtshilfe, oder Terminschwierigkeiten des Anwalts oder des Gerichts. Der Prozess hat nun, Mitte Januar 2025, noch immer nicht begonnen.
Die betroffenen Feuerwehrleute fühlten sich, als habe man ihnen nachträglich "noch mal einen übergezogen", hat der Berliner Landesvorsitzende der Feuerwehr-Gewerkschaft den Vorgang kritisiert.
Justiz sitzt nicht im "Elfenbeinturm"
"Wir wissen, dass Gesellschaft und Politik von uns Tempo erwarten", sagt Staatsanwaltschaft-Sprecher Sebastian Büchner rbb|24. Es sei auch nicht so, dass die Justiz "im Elfenbeinturm sitzend das Silvestergeschehen betrachtet. Wir sind auch Bürger dieser Stadt. Wir haben auch ein Interesse, eine möglichst effektive und schnelle Strafverfolgung zu betreiben", so Büchner. Das dürfe aber nicht zulasten sorgfältiger Ermittlungen gehen. Schnellschüsse nützten nichts, wenn die Beschuldigten am Ende vor Gericht Freisprüche bekämen.
Auch Stefan Schifferdecker vom Berliner Richterbund betont, er würde sich wünschen, die Strafen "teilweise noch schneller auf dem Fuße folgen zu lassen. Dafür bräuchten wir aber mehr Personal, gerade bei der Staatsanwaltschaft". Wenn die Politik jedes Jahr nach Silvester ein hartes Durchgreifen verspreche, müsse sie den Justizapparat auch entsprechend ausstatten.
Sendung: rbb24 Inforadio, 13.01.2025, 09:45 Uhr