Jugendfußball - "Beim Nachwuchs sind unter den Spielerberatern deutlich mehr Glücksritter unterwegs"
Sie rekrutieren talentierte Kinder, organisieren Vereinswechsel von Teenagern und verhandeln erste Profi-Verträge. Aber wie wichtig sind Spielerberater im Jugendfußball wirklich? Und wie seriös arbeiten sie? Die Antwort ist kompliziert. Von Jakob Lobach
0,1 Prozent. Oder: Einer aus 1.000. Was nach einem billigen Abklatsch des klassischen Lottospiels im Stil "6 aus 49" klingt, ist tatsächlich eine eindrucksvolle Zahl aus dem deutschen Nachwuchsfußball. Wobei auch diese im Grunde symbolisch für ein Lottospiel der sportlichen Art steht. Der Jackpot: Durchschnittlich einem von 1.000 Talenten gelingt der Sprung von einem Nachwuchsleistungszentrum (NLZ) in die Bundesliga.
Es ist kein Geheimnis, wie schwer es selbst die größten Talente im Fußball haben, irgendwann Profi zu werden. Es ist ein Fakt, der eines dennoch nicht verhindert: Selbst jüngste Talente werden in mitunter absurdem Ausmaß zu risikoreichen Investitionen – für die Vereine, vor allem aber für Spielerberater und -agenturen.
Seit Jahren gibt es immer wieder Stimmen aus dem deutschen Fußballkosmos, die die bereits große und stetig wachsende Rolle solcher Berater und Agenturen im Jugendfußball kritisieren. Die aktuell wohl lauteste gehört dabei dem FC St. Pauli: Im September verkündete der Zweitligist, dass es in seinem Nachwuchsleistungszentrum "künftig keine Zusammenarbeit mehr mit Beratern, Agenturen und kommerziellen Individual-Trainer*innen geben wird".
St. Pauli plant die "Rebellution"
Es war eine durchaus Aufsehen erregende Verkündung, die den Hamburgern auch als eine Art Verbannen und Verteufeln von Beratern ausgelegt wurde. Dabei wollen die Hamburger gar nicht so weit gehen: "Wir sagen nicht, dass bei uns in der Jugend niemand mehr spielen darf, der einen Berater hat", sagt Benjamin Liedtke, St. Paulis Nachwuchsleiter. Allerdings werde der bei Gesprächen mit Talenten – etwa Vertragsverhandlungen – eben kein Ansprechpartner mehr sein, schon gar nicht mit am Tisch sitzen.
Dabei lässt sich das Thema 'Berater im Jugendfußball' nicht isoliert betrachten. "Die Mechanismen aus dem Profi-Fußball werden einfach auf Kinder und Jugendliche übertragen", sagt Liedtke und ergänzt: "Wir wollten und wollen uns gegen diese Art der Professionalisierung positionieren - das Thema Berater ist nur ein Teil davon." So hat der Kiez-Klub zusammengefasst unter dem Titel "Rebellution" auch beschlossen, künftig nur noch Spieler aus Hamburg und Umgebung für sein NLZ zu verpflichten.
Die sollen dazu über ein Netzwerk an Trainern und Vereinen statt durch Scouts gefunden werden. Dazu soll ihre Förderung langfristiger ausgerichtet werden. "Wir wollen nicht jedes Jahr für jeden Spieler den Daumen heben oder senken", sagt Liedkte, "wenn ein Spieler zur U12 zu uns kommt, kann er sich sehr sicher sein, hier mindestens bis zur U15 gefördert zu werden." Auch die anschließend möglichen Förderverträge sollen künftig in der Regel über die Höchstlaufzeit von drei Jahren gehen.
Berater sind im Jugendfußball Normalität
Um diese "Rebellution" zu verstehen, braucht es eine Bestandsaufnahme des Ist-Zustands. Wie hoch ist denn die Fluktuation in den 56 deutschen Nachwuchsleistungszentren? Und allen voran: Wie präsent sind Berater und deren Agenturen dort tatsächlich?
Öffentlich zugängliche Zahlen gibt es zu Beratern im Nachwuchsfußball kaum. Allerdings ergeben Gespräche mit den unterschiedlichen Parteien ein recht gutes Bild: Bis in die U12 sind Spieler, die von einem Berater oder einer Agentur betreut werden, eher Ausnahme als Regel. Anschließend steigt ihr Anteil allerdings rasant: "Je älter die Spieler werden, desto mehr von ihnen haben einen Berater", sagt Stefan Backs von der Agentur Siebert & Backs. "Ich würde schätzen, dass in den großen Nachwuchsleistungszentren im Bereich der 13- und 14-Jährigen zwei Drittel der Spieler einen Berater haben", ergänzt er. In höheren, dem Profifußball näheren Altersklassen sind sie dann omnipräsent.
"Es gibt auch unverantwortliche Agenturen"
So wie auch die besagte Fluktuation an den NLZs in Deutschland omnipräsent ist. Eine Studie des Sportwissenschaftlers Arne Güllich berichtet, dass 13 untersuchte Klubs jedes Jahr im Durchschnitt 26 Prozent ihrer Spieler in den NLZ-Mannschaften (U10 bis U19) aussortierten und ersetzen. Eine weitere Studie verfolgte vor einigen Jahren die Karrieren aller damaligen 821 Spieler der U17-Bundesliga aus dem Jahrgang 1993 – also von Fußballern, die zuvor bereits zahlreiche Runden des Aussortierens überstanden hatten. Nur zehn Prozent von ihnen schafften irgendwann den Sprung in eine der drei deutschen Profiligen, 45 Prozent beendeten ihre Karrieren, ehe sie überhaupt im Herrenbereich angekommen waren.
Es lässt sich also insbesondere in jungen Jahren kaum vorhersagen, welche Talente irgendwann das Zeug zum Profi, geschweige denn zum Bundesliga-Spieler haben. Der Großteil der Berater und Agenturen im Nachwuchsfußball lässt sich hiervon allerdings kaum beirren. "Es gibt in Deutschland sicherlich Agenturen, die bemüht sind, im Sinne der Kinder und Jugendlichen zu handeln", sagt Stefan Backs, "genauso gibt es aber unverantwortliche Agenturen, die aus reinem Eigeninteresse handeln." Für Letztgenannte wären junge Talente "Wetten auf die Zukunft mit ungewissem Ausgang", wie Backs es nennt. "Trotzdem machen viele Berater den Eltern Versprechungen und falsche Hoffnungen. Da fängt das Unseriöse schon an."
Jeder kann Spielerberater werden
Auch Lutz Munack hat bereits zahlreiche Erfahrungen mit genau solchen Beratern und Agenturen gemacht. Der 47-Jährige ist Geschäftsführer für Frauen-, Nachwuchs- und Amateurfußball beim 1. FC Union Berlin. Munack rekrutiert als solcher auch Spieler für dessen NLZ, verhandelt Verträge, führt Gespräche mit ihnen und ihrem Umfeld. "Im Nachwuchs sind im Bereich Beratung deutlich mehr Berufsanfänger und Glücksritter unterwegs als im Profi-Fußball", sagt Munack, "da gibt es ein Qualitätsproblem."
Nicht zuletzt, weil sich in Deutschland jeder selbst zum Spielerberater erklären kann. Zwar muss man sich für 500 Euro beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) als solcher registrieren, eine Lizenz oder andere Qualifikationen braucht es hierfür allerdings nicht. Auch deshalb sind auch in Köpenick die Spieler selbst und ihre Eltern die ersten Ansprechpartner. So führt Union etwa bei Vertragsverhandlungen im Nachwuchs keine Beratergespräche.
In anderen Kontexten tut der Klub das hingegen schon. Geht es nach Lutz Munack, müsse man jeden Spieler und Berater einzeln bewerten – im ersten Schritt nach dem Grad der Notwendigkeit einer externen Beratung. "Je jünger die Kinder sind, desto besser sind ihre Eltern beraten, wenn sie auf ihre eigenen Instinkte hören", sagt Munack und ergänzt: "Bis zur U14 oder U15 gibt es eh keine Themen, die wirklich verhandlungsbedürftig sind."
Sind die Top-Talente allerdings eher 15 bis 18 Jahre alt und mit Fragen nach Gehältern, Vertragslaufzeiten oder auch Vereinswechseln konfrontiert, sei das anders: "Wenn ich ein U18-Nationalspieler bin, dessen Vertrag ausläuft und bei dem sich fünf Vereine melden, dann kann ich alleine gar nicht bewerkstelligen, was da auf mich einprasselt."
Familien fehlt die Expertise
rbb|24 hat mit einem Spieler gesprochen, dem es genau so erging. Ein Spieler, der selbst das Nachwuchsleistungszentrum des 1. FC Union Berlin durchlaufen hat und dem der Sprung in eine der deutsche Profiligen gelungen ist. Auch deshalb will er lieber anonym bleiben. Mit 17 hätte er seinen ersten Berater gehabt, "also relativ spät", sagt er. "Ab der U15 oder U16 hatte fast jeder bei uns einen Berater", erzählt er. Bei ihm machte ein alter Jugendtrainer den Anfang, der aber schnell durch einen Professionellen ersetzt wurde. "Der hat einfach wichtige Kontakte zu verschiedenen Vereinen, während junge Spieler und ihre Eltern meist keine Ahnung von dem Thema haben", so der Ex-Unioner.
Dabei schleicht sich oft schon früh Unsicherheit in das Umfeld junger Talente – wenn sie mehrfach noch am Spielfeldrand von Scouts angesprochen werden, wenn zeitgleich mehrere Vereine mit Nachdruck um sie buhlen, wenn Berater und deren Agenturen beharrlich ihre Dienste anpreisen.
Auch Unions ehemaliger Jugendspieler spricht von einem "Kampf von verschiedenen Beratern" um die Gunst der wirklich großen Ausnahmetalente. Dass sich Eltern aus Fußball-fernen Berufen einen dieser Experten aussuchen, scheint da wie ein logischer Schritt. Besonders dann, wenn ihre talentierten Kinder in weniger urbanen Regionen leben, in denen die Netzwerke der großen Klubs weniger engmaschig sind.
Problematisch wird es, wenn die Expertise der vermeintlichen Experten gar nicht so groß ist, wie ursprünglich angepriesen. "Teilweise gehen kleine Agenturen davon aus, dass sie bei einem Vertragsabschluss eine Provision von uns bekommen. Die gibt es aber laut Fifa-Regularien erst ab der Volljährigkeit", nennt Unions Lutz Munack ein Beispiel.
Große Unterschiede in der Arbeit der Berater
Ohnehin wirkt es, als ist die Größe einer Agentur häufig auch ein Qualitätsmerkmal, ein Indikator für ihre Professionalität. "Viele der großen Agenturen halten sich im Jugendbereich völlig zurück", sagt Munack. "Sie achten darauf, dass die Ausstattung stimmt und dass die Kinder gut zum Training kommen. Sie fragen nach, warum ein U16-Nationalspieler im Verein nicht schon in der U18 spielen kann." Auch Stefan Backs, der mit seiner Agentur überwiegend erwachsene, aber auch einige minderjährige Torhüter betreut, gibt an, sich bei deren Vertragsgesprächen weitestgehend herauszuhalten. "Wir coachen sie eher", sagt er.
Den Gegenpart bilden Agenturen, die im Namen junger Spieler bereits Forderungen abseits des Fußballs stellen. Lutz Munack spricht von beheizten Regenerationsbecken, Schuh-Deals und "allem, was Eltern und Beratern gerade so einfällt". Mit der Zeit lerne man, schnell zwischen seriös und unseriös arbeitenden Beratern unterscheiden zu können. "Wenn in der U13 oder U14 darüber verhandelt werden soll, ob ein Spieler noch hundert Euro mehr im Monat bekommt, dann wird das nicht funktionieren", sagt Munack. Mehr als einmal habe Union Berlin in solchen oder ähnlichen Fällen von der Verpflichtung talentierter Spieler abgesehen.
Berater als Teil eines Systems
Bleibt die Frage, wie in Zukunft mit den so unterschiedlichen Spielerberatern umgegangen werden soll. So rigoros wie der FC St. Pauli dürften auf Vereinsseite die wenigsten umdenken. Schließlich werden Spieler auf höchstem Niveau auch in Zukunft nicht nur für sich selbst viel Geld verdienen. "Wenn eines deiner Talente Bundesliga-Profi wird, rechnet sich dadurch auch der Aufwand für diejenigen, die den Sprung zum Profi nicht schaffen", formuliert Stefan Backs die Beraterperspektive.
Hinzu kommt, dass es klar zum Konzept von Vereinen wie Borussia Dortmund, RB Leipzig oder Eintracht Frankfurt gehört, auch Jugendliche aus dem Ausland zu verpflichten und diese in der Hoffnung auf hohe Transfererlöse auszubilden. "Hätten diese Spieler keinen Berater, würdest du an sie gar nicht rankommen", sagt Backs. Gleichzeitig bilden die Nachfrage der Klubs und ihre vielen ausprobierten und aussortierten Jugendspieler die Arbeitsgrundlage der Berater.
Verantwortung und Aufklärung der Eltern
Auch stellt sich die Frage, ob verstärkte Vorschriften oder gar Verbote für Berater überhaupt durchsetzbar wären. "Ich bin der Letzte, der für Beratungsagenturen eine Lanze bricht", sagt Lutz Munack vom 1. FC Union Berlin, "aber am Ende geht es immer um verantwortungsvolles Handeln der Eltern." Eine Meinung, die auch Stefan Backs vertritt: "Natürlich kann es tragisch sein, wenn Eltern ihren Sohn des Geldes wegen aus der Schule nehmen und ihn aus seinem Umfeld reißen, um ihn zu einem größeren Klub wechseln zu lassen. Aber es bleibt eine Entscheidung der Familie."
Dennoch glaubt auch Backs, dass man die Familien in Fragen rund um die Beratung ihrer talentierten Kinder nicht alleine lassen sollte. "Es existiert ein Geflecht von Agenturen und Beratern, in dem oft die Transparenz fehlt", sagt er und ergänzt: "Was den Eltern fehlt, ist Aufklärung."
Aufklärung, die man beim 1. FC Union zumindest in Teilen zu betreiben versucht. So berichtet Lutz Munack von Info-Abenden am NLZ zum Thema Berater und von Feedback an die Eltern. Das gäbe man bei unseriösen Eindrücken, aber auch, wenn der Verein eine Beratung für sinnvoll hält. Glaubt man Stefan Backs, leistet Union so schon mehr als viele andere Klubs. In der Regel würden "Eltern in das Geschäft geworfen und von Beratern angesprochen, ohne dass sie überhaupt wissen können, welche Berater wie arbeiten", sagt er.