"Streitraum" der Berliner Schaubühne - "Gewalt und Trauma - quo vadis, Naher Osten"

Die Berliner Schaubühne hat ihre Diskussionsreihe "Streitraum" kurzerhand umbesetzt. Mit jüdischen und arabischen Intellektuellen wurde über die Gewalt im Nahen Osten diskutiert – ein Gesprächsauftakt gegen das Schweigen, bei dem die israelkritischen Stimmen deutlich überwogen. Von Barbara Behrendt
Carolin Emcke ist es eine Herzensangelegenheit. Zum ersten Mal in 20 Jahren "Streitraum"-Moderation tritt sie noch vor den Gästen auf die Bühne und bittet um Nachsicht im Gespräch: "Ich bin Philosophin und ich glaube an Verständigung. Aber als Philosophin und als Protestantin weiß ich: Das ist Arbeit. Es gibt, das ist meine tiefe Überzeugung, beim Sprechen über diesen Konflikt keine Abkürzung. Wir müssen versuchen, die Schmerzen, die Wut, die Traurigkeit anzunehmen, um miteinander wieder ins Gespräch zu kommen."
Nein, eine Abkürzung sucht diese analytische, israelkritische Diskussion wahrlich nicht – gut drei Stunden lang debattieren die vier Gäste mit Emcke, die oft das Richtige tut: sie fragt ruhig nach Differenzierung, räumt Missverständnisse aus und stellt klar, wenn klargestellt werden muss. Der Saal ist voll – und bleibt voll über die komplette Dauer der Veranstaltung.
Emcke gliedert die Debatte in zwei Teile: den Ist-Zustand im Nahen Osten sowie global – und die Perspektiven für die Zukunft. Wobei für Teil Zwei zu wenig Zeit bleibt.
Roig: Deutschland habe seine Schuld nicht verarbeitet
Dass der Konflikt im Nahen Osten eng mit Deutschland verknüpft ist, zeigt nicht nur die Taschenkontrolle und die Polizeipräsenz vor der Schaubühne. Die jüdische Autorin und Politikwissenschaftlerin Emilia Roig bezieht sie sich auf den Holocaust, wenn sie Deutschland kritisiert: "Wir dachten immer, dass diese Schuld verarbeitet wurde. Und wir sehen heute, dass das leider nicht der Fall ist. Der Eindruck, dass Deutschland heute mit einer grenzenlosen und voraussetzungslosen Unterstützung von einem Staat unabhängig von dessen Regierung steht, ist für mich Ausdruck von dieser unverarbeiteten Schuld."
Soll heißen: Deutschlands "grenzenlose und voraussetzungslose Unterstützung" Israels beruht auf einem nach wie vor unverarbeiteten Schuldgefühl der Deutschen hinsichtlich des Völkermords an Jüdinnen und Juden im Dritten Reich.
Sowohl Roig als auch der Präsident der deutsch-palästinensischen Gesellschaft Nazih Musharbash und der jüdische Philosoph Omri Boehm sind sich einig, dass Deutschland sich zu wenig dagegen ausspricht, wie Israel das Völkerrecht im Gazastreifen verletzt – woraufhin die Konfliktforscherin Nicole Deitelhoff zu Recht widerspricht: "Natürlich sagt die deutsche Bundesregierung, dass Israel sich an das Völkerrecht halten muss. Das sagt auch die Außenministerin bei jeder Gelegenheit."
Die Weltöffentlichkeit trägt Verantwortung
Nazih Musharbash nutzt auf dem Podium jede Gelegenheit, um den Terror der Hamas zu verdammen – macht jedoch auch die internationale Gemeinschaft für die Lage im Nahen Osten verantwortlich. Nicht erst seit dem 7. Oktober, sondern in all den Jahrzehnten, in denen die Zweistaatenlösung nicht vorangetrieben worden sei und die Weltöffentlichkeit zugesehen habe, wie Israel sein völkerrechtswidriges Siedlungsgebiet ausgebreitet habe: "Wo sind die Implementierungen der Vereinbarungen, die getroffen worden sind? Dafür mache ich die Weltöffentlichkeit verantwortlich. Denn das Nichtlösen des Problems bedeutet, dass es immer wieder aufkommen wird. Ein 12jähriges Kind in Gaza hat schon fünf Kriege erlebt. Was wird aus denen?"
Roig: Israel habe eine "genozidale Absicht"
Dass die Zweistaatenlösung international völlig vernachlässigt worden ist, das findet auch die Konfliktforscherin Deitelhoff. Überhaupt steht an diesem Mittag weniger die Frage nach den Verantwortlichkeiten in Israel, in den umliegenden Ländern oder in den palästinensischen Gebieten im Zentrum, als die Aufforderung an die internationale Gemeinschaft, das humanitäre Völkerrecht in der Region zu gewährleisten.
Emilia Roig spitzt nach zweieinhalb Stunden rhetorisch gehörig zu und bringt den Begriff des Genozids in die Diskussion ein – es gebe zumindest eine genozidale Absicht gegenüber den Palästinenser:innen: "Die Intention von Israel, also von der Netanjahu-Regierung, wir haben das schwarz auf weiß, ist ein genozidaler Intend."
Zwar sagt sie, sich in der Frage, ob man von einem Genozid an Palästinenser:innen sprechen kann, nicht positionieren zu wollen – doch pocht sie darauf, "Expertinnen und Experten" seien sich einig, dass es sich um einen Genozid handle. Dass Carolin Emcke diese Aussage zwar mit einer Definition von "Genozid" kontextualisiert, Roigs Aussage aber nicht widerspricht, ist problematisch. Denn viele "Expertinnen und Experten" sind auch ganz anderer Auffassung, etwa Oliver Harry Gerson, Experte für Völkerstrafrecht, oder der Historiker Manfred Kittel. Omri Boehm schließt sich Roigs Haltung nicht an: Man könne, sagt er, nicht von einem Völkermord sprechen – die Situation könne sich allerdings in diese Richtung entwickeln.
Symptomatisch für den "deutschen Diskurs"?
Immer wieder wird an diesem Mittag deutlich, welche wichtige Rolle die Sprachgenauigkeit in diesem Konflikt spielt. Genozid, Mord, Besatzung, Teilbesatzung, Kontrolle, Solidarität, Selbstverteidigung – jedes Wort ein Minenfeld. Emilia Roig wirft Nicole Deitelhoff sogar vor, durch ihre kühle, analytische Fachsprache den Diskurs zugunsten Israels zu beeinflussen: "Die Art und Weise, wie jetzt mit dieser Sache umgegangen wird, finde ich sehr symptomatisch für den deutschen Diskurs. Wir sind hier zwei jüdische Menschen, die Kritik an der Regierung Israels aussprechen. Fakten beschreiben mit Begrifflichkeiten, die in Deutschland überhaupt nicht angenommen werden. Und dann sehen wir, dass von einer Person, die nicht jüdisch ist und deutsch ist, mit allen Kräften in dieser Situation eingegriffen wird."
Das ist harter Tobak. Und eine Haltung, die man im internationalen Diskurs derzeit häufiger wahrnimmt (etwa auch von der Philosophin Susan Neiman): Dass Deutschland durch den Genozid an Jüdinnen und Juden in der Nazi-Zeit eine klare Sicht auf die Dinge im heutigen Israel verloren habe. Ein wichtiger Diskurs, dem man sich als Deutsche:r aussetzen sollte, gerade jetzt.
Wenig Verständnis für Israel
Trotzdem hätte man sich für eine ausgewogene Debatte an diesem Mittag unbedingt eine Stimme gewünscht, die die Seite Israels mit mehr Verständnis vertritt. Schon allein, damit sich die Kulturszene nicht einmal mehr den Vorwurf einer zu linken, israelkritischen oder sogar -feindlichen Sicht gefallen lassen muss.
Die emotionale Not aller Beteiligten ist in jedem Statement spürbar, auch, wenn es endlich um Lösungsansätze geht: die internationale Gemeinschaft müsse einschreiten, Waffenruhe geschaffen und die Gewalt sofort gestoppt werden. Die Verantwortung, da scheint das Podium einig, liege jetzt bei der Weltgemeinschaft, um noch Schlimmeres zu verhindern.
Niemand, das zeigt diese lange Diskussion, ist nicht Teil des Konflikts. Vor allem nicht in Deutschland. Was sind die Ursachen, was sind Lösungen, wie können die Regeln des Völkerrechts eingefordert werden, was muss die Internationale Gemeinschaft tun – und: Wie können sich sowohl Israelis als auch Palästinenser:innen in Deutschland sicher fühlen? Es ist eine harte Debatte mit streitbaren Standpunkten, aber auch eine lehrreiche. Und es wird noch viele weitere Gespräche dieser Art benötigen.
Die "Streitraum"-Diskussion mit dem Titel "Gewalt und Trauma – quo vadis, Naher Osten" ist auf Deutsch und in englischer Übersetzung unter www.schaubuehne.de verfügbar.
Sendung: rbbkultur, 20.10.2023, 09:54 Uhr
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