Ausstellung im Hamburger Bahnhof - Durch Science Fiction die Gegenwart akzeptieren

Do 27.02.25 | 15:45 Uhr | Von Julia Sie-Yong Fischer
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Ayoung Kim. Many Worlds Over im Hamburger Bahnhof, Berlin, aufgenommen am 04.02.2025 (Quelle: @Jacopo La Forgia)
Video: rbb24 Abendschau | 27.02.2025 | Christian Titze | Bild: @Jacopo La Forgia

Mithilfe von KI und Computer Engines erschafft die südkoreanische Künstlerin Ayoung Kim Ästhetik am Rand von Zeit und Raum. Was zunächst futuristisch wirkt, ist am Ende eine kritische Analyse des Hier und Jetzt. Von Julia Sie-Yong Fischer

Willkommen in einer anderen Welt: Schwarze Wände, blauer Teppich, gedämmtes Oberlicht, Metallstreben und jede Menge Spiegel. So viele, dass die Orientierung in den fünf Ausstellungsräumen im Berliner Hamburger Bahnhof schwer fällt. Die Raumelemente lösen sich teilweise auf und nur das eigene Spiegelbild gibt Klarheit über den aktuellen Standpunkt. Ein Labyrinth, welches das künstlerische Konzept Ayoung Kims in eine körperliche Erfahrung im Raum übersetzt: Mehr als eine Perspektive ist parallel möglich. Auch der Titel "Many Worlds Over" weist auf das Multiversum als den zentralen Ansatz in Kims Werk hin.

KI als Baby

Ayoung Kim arbeitete nach ihrem Studium der Kommunikationsgestaltung zunächst als Graphic Motion Designerin unter anderem für Werbung und Musikfernsehen. Zur Kunst kam sie erst auf einem zweiten Weg über die Fotografie. Mittlerweile erweitern neue digitale Werkzeuge wie künstliche Intelligenz und Game Engines (Hilfsmittel zur Erstellung von Videospielen) die Palette ihrer künstlerischen Ausdrucksmittel. Angst vor den neuen Herausforderungen hat sie nicht, die KI sieht sie eher als "Baby, um das sich gekümmert werden muss".

Lieferfahrerinnen in Lichtgeschwindigkeit

Den Kern der Ausstellung stellen zwei Videoarbeiten dar, die narrativ aufeinander aufbauen. Der erste Teil, "Delivery Dancer Sphere" (2022), läuft in einem kleinen Kinoraum und handelt von der Lieferfahrerin Ernst Mo. Sie düst digital beauftragt in atemberaubender Schnelligkeit durch die südkoreanische Hauptstadt über Autobahnen und schmale Gassen. Angefeuert wird sie von dem Algorithmus "Dance Master", der ihr neben der Bestellbestätigung ständige Rückmeldung über den Lieferstatus oder ihre Bewertungen gibt. Es gibt dabei verschiedene Level zu erreichen: Ernst Mo befindet sich im höchsten namens "Ghost Dancer" und kann sich ungesehen in Lichtgeschwindigkeit bewegen. Doch auf einmal trifft sie auf ihre Doppelgängerin En Storm, was neben Irritation auch zu ökonomisch riskanter Zeitverzögerung führt.

Der zweite Film "Delivery Dancer's Arc: 0º Receiver"(2024) wird in einem größeren Raum auf drei Bildschirmen gleichzeitig gezeigt. Dort tauchen die beiden Protagonistinnen erneut auf, werden in andere wüstenähnliche Landschaften mit futuristisch anmutender Architektur gebeamt. Am Ende wird Ernst Mo verfolgt und es kommt zu einem Kampf mit einer Kontrahentin.

Ayoung Kim. Many Worlds Over im Hamburger Bahnhof, Berlin, aufgenommen am 04.02.2025 (Quelle: @Jacopo La Forgia)Die Lieferfahrerinnen begegnen den Besucher:innen auch als als lebensgroße Puppen

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Digitale Ästhetik, reale Präsenz

Auch wenn diese Werke als cineastische Erzählung funktionieren, sind die Bilder und Sounds ein ästhetisches Eintauchen in Kims Gedankenwelten. Die dargestellten Landschaften changieren und lösen sich stellenweise wie in einem Computerspiel auf. Am Ende vibrieren die Figuren im Wechselspiel zwischen gefilmter Realität und gezeichneten Animecharakteren. Zusätzlich äußert eine Stimme ihre Gedanken oder eine App gibt den aktuellen Status wider. Das Gesprochene fließt in einen inneren philosophischen Monolog zusammen.

In den Ausstellungsräumen findet das Publikum Requisiten aus den Filmen wieder: Helme, auf denen Videos mit Fahrsequenzen abgespielt werden, ein physikalisches Modell aus Metall, welches den Radius der Fahrrouten in Unendlichkeit zusammenfasst und die Protagonistinnen selbst im Moment eines Unfalls als lebensgroße Puppen. Auch das von Ernst Mo benutzte Handy wurde an die Wand installiert und in einem Computerspiel können die Besucher:innen selbst durch die Welt der "Delivery Dancers" irren.

Nur die großen Mangazeichnungen von zwei Mopedfahrerinnen in innigen Posen an den Wänden stechen heraus und ergänzen das Bild von Ernst Mo und En Storms Beziehung mit einer erotischen Perspektive.

Ayoung Kim. Many Worlds Over im Hamburger Bahnhof, Berlin, aufgenommen am 04.02.2025 (Quelle: @Jacopo La Forgia)In den Ausstellungsräumen finden Besucher:innen auch Requisiten

"Die Zukunft ist schon da, sie ist nur ungleich verteilt"

Diese queere Sichtbarkeit aus den sogenannten Webtoons (digitale Mangacomics) ist nur ein Beispiel für das ausgeprägte Interesse der Künstlerin sich mit Perspektiven marginalisierter Gruppen in ihrer direkten Umgebung auseinanderzusetzen.

Dabei scheut sie auch den direkten Kontakt nicht: Sie fuhr selbst mit einer prekär beschäftigten Mopedfahrerin mit, die wie ein Geist im totalen Lockdown ein Gebiet in Seoul belieferte. Auch wenn der Einsatz von neuster digitaler Technik in Kims Arbeit beeindruckt und befürchten lässt, dass Entscheidungen von Programmen übernommen werden: Die essentiell soziopolitischen Probleme bleiben auch bei ihr im Diskurs der Gegenwart. Oder wie der Erfinder des "Cyberspace" William Gibson einmal meinte: "Die Zukunft ist schon da, sie ist nur ungleich verteilt."

Kims Darstellungen von einer gegenständlichen oder virtuellen Welt des Kapitalismus werden dabei von den visuellen Brüchen und Glitches (digitale Fehler) dazwischen hinterfragt. Die höchst konzeptuelle Arbeit basiert auf tiefgründiger, interdisziplinärer Recherche, überlässt nichts dem Zufall, aber eröffnet einen Raum, der nicht nur die eigene Identität reflektiert, sondern sich auch mit Orientierung und Zugehörigkeit auseinandersetzt.

Sendung: rbb24 Abendschau, 27.02.2025, 19:30 Uhr

Beitrag von Julia Sie-Yong Fischer

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1 Kommentar

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    was hat die ausstellung die stadt berlin gekostet ?