Ernährungswende in der Mittagspause - So könnte die Kantine der Zukunft werden
Die Gemeinschaftsverpflegung gilt als wichtiger Hebel für die Ernährungswende. Das Kantinenessen soll nachhaltiger und gesünder werden. Auch in Berlin und Brandenburg arbeitet man an der Zukunft der Kantine. Von Jonas Wintermantel
Die Revolution der Gemeinschaftsverpflegung ist in Berlin-Kreuzberg bereits in vollem Gang – im Erdgeschoss der Markthalle Neun, an einer meterlangen Tafel, sitzen Philipp Stierand und Olga Graf von der "Kantine Zukunft". Der Tisch lädt zum Verweilen ein – zum gemeinsamen Essen - und gibt einen ersten Hinweis darauf, worum es hier eigentlich geht. Seit 2019 berät die "Kantine Zukunft" Berliner Küchen-Teams der öffentlichen Gemeinschaftsverpflegung und unterstützt sie bei einer nachhaltigen Transformation.
"Zurück in die Zukunft"
Das Ziel ist eine nachhaltige und gesunde Ernährung für Mensch und Umwelt. Zurück zu frischen Zutaten, zurück zum Kochhandwerk, oder: "Zurück in die Zukunft", wie Projektleiter Philipp Stierand seine Vision beschreibt: "Die Kantine der Zukunft wird meiner Meinung nach pflanzlicher werden. Die Gerichte werden anders aussehen. Außerdem wird das Handwerk wieder Einzug halten. Es wird wieder richtig gekocht werden."
Konkret hilft die "Kantine Zukunft" den Küchen dabei, mehr saisonale und regionale Bio-Produkte zu verwenden und dabei das Angebot kostenneutral zu verbessern – ohne das bisherige Budget der Küchen auszureizen. Neue Rezepte sorgen für mehr pflanzliche Vielfalt und weniger Lebensmittel-Abfall. Die Basis bilden unverarbeitete, pflanzliche Rohstoffe, vor allem Gemüse, Getreide und Hülsenfrüchte.
In der eigenen Trainings-Küche in der Markthalle finden regelmäßig Workshops und Trainings für die Berliner Küchen-Teams statt. Einige von ihnen lächeln den Besuchern von einer Wand freundlich entgegen. Mehrere lebensgroße Fotos von Köchinnen, Köchen und Auszubildenden aus den teilnehmenden Berliner Kantinen hängen hier – von der Stadtreinigung bis zu den Wasserbetrieben.
Seit 2019 hat die "Kantine Zukunft" bereits 50 Küchen begleitet. Der Berliner Senat fördert das Projekt mit 1,15 Millionen Euro jährlich.
Kochen statt Dosen öffnen
Nicht nur das Essen soll besser werden, sondern auch die Arbeitsbedingungen in den Küchen. "Es klingt erstmal paradox", sagt Stierand, "aber fürs richtig Kochen braucht man Personal. Das bekommt man, indem man ihnen eine spannende Aufgabe gibt. Das, was sie gelernt haben: Kochen – nicht Tüten aufschneiden und Dosen öffnen."
Er deutet auf eines der Portraits hinter ihm an der Wand: "Thomas von den Berliner Wasserbetrieben und seine zwei Azubis – die haben keine Probleme, Auszubildende zu finden, weil ihre Küche einen super Ruf hat." Nicht nur Betriebskantinen sind mit dabei – auch Kitas oder Schulen - und Kliniken: die Orte also, an denen eine besonders frische und gesunde Ernährung wichtig ist und wo viel zu oft noch "welke, graue Wurstscheiben" zum Abendbrot gereicht würden.
In diesem Jahr startet die "Kantine Zukunft" ihre Arbeit auch in Brandenburg. Das Projekt ist die zentrale Maßnahme der landeseigenen Ernährungsstrategie. Im Doppelhaushalt 2023/24 stehen hierfür 600 000 Euro jährlich zur Verfügung.
Olga Graf leitet das Projekt in Brandenburg und hat am Tag zuvor schon mit ersten Interessierten aus diversen Brandenburger Landkreisen gesprochen: "Das Interesse ist groß", sagt sie. "Wir haben Menschen aus Kliniken dagehabt, aus Kitas, Schulen, öffentlichen Betriebsgastronomien und aus einem Studentenwerk. Wir können sagen: Es war auf jeden Fall erfolgreich."
Es seien auch schon die "ersten potenziellen Kooperationspartnerschaften" entstanden, sagt Graf. Seit Juli laufen die Erstgespräche, ab Oktober sollen auch in Brandenburg die ersten Küchen bei der nachhaltigen Transformation beraten werden.
"Müll haben wir eigentlich kaum noch"
10 Uhr - Mario Tamme hat seine Schicht fast beendet. Gerade schiebt er die letzten großen Bleche mit Kartoffeln in den Ofen. Tamme ist Küchenchef im Kindergarten Wirbelwind in Alt-Treptow. Hier kocht er mit seinem Team täglich für 260 Kinder. Auch seine Küche wurde von der "Kantine Zukunft" bei der Transformation begleitet. Der Bio-Anteil am Speiseplan wurde von 40 auf 80 Prozent erhöht.
Das Mittagessen für die Kinder ist fast fertig – und heute eher schlicht gehalten: Kartoffeln, Rührei und Salat. Zum Nachtisch: Birnen-Crumble, den Tammes Kollegin gerade noch fertig zubereitet.
Früher hat Mario Tamme in Hotel-Küchen gearbeitet. Die Arbeit in der Kita gibt ihm mehr Spielraum – hier kann er eigenständig den Speiseplan gestalten, wie er sagt: "Ich habe nun die Chance, mit fast 100 Prozent Bioprodukten arbeiten zu dürfen – das geht in der Hotellerie nicht. Es riecht ganz anders, es schmeckt ganz anders, es ist viel intensiver und macht viel mehr Spaß. Das sieht man eben auch an den Leuten, die mit uns arbeiten. Die haben einfach Bock drauf."
In Mario Tammes Speisekammer sind kaum noch Fertig-Produkte zu finden. Brühe in Pulverform fehlt, die wird stattdessen aus Gemüseresten angesetzt. So wird Geld gespart und Abfall vermieden. "Montags haben wir Nudel-Tag. Alles, was an Nudeln überbleibt, nehmen wir und machen daraus mit frischem Bio-Gemüse vegane Bratlinge", sagt Tamme. "Müll haben wir eigentlich kaum noch."
Die Gemeinschaftsverpflegung: Hebel der Ernährungswende
17 Millionen Menschen essen in Deutschland täglich in Kantinen, Mensen, Krankenhäusern oder Kitas. Für die Bundesregierung und ihren Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) liegt hier ein Hebel für die Ernährungswende. Das Ziel: "gesundes, nahrhaftes und nachhaltiges Essen" für Alt und Jung. Das bedeutet auch: weniger Fleisch- und Tierprodukte, weniger Zucker und Salz, dafür mehr pflanzliche Lebensmittel.
Künftig soll außerdem ein Bio-Label in der Kantine zeigen, wie hoch der Bio-Anteil im eigenen Mittagessen ist. Die Kantinen sollen so "für sich werben" können.
Die ausgerufene Ernährungswende schmeckt längst nicht jedem. Der Bauernverband sprach als Reaktion auf Özdemirs Pläne von einer "Diskriminierung" bestimmter – nämlich konventionell produzierter - Lebensmittel. Ein CDU-Landesverband sprach sich für eine Fleisch-Garantie in Kantinen aus.
Und auch der jüngste, von der "Bild"-Zeitung angeschobene, Mini-Skandal um ein angebliches Currywurst-Verbot [rbb-online,de] zeigt: Eine nachhaltige Veränderung der Ernährung führt manches Mal zu Widerständen – mindestens aber kann damit wunderbar Politik gemacht werden.
"Couscous mit roter Bete wurde uns aus der Hand gerissen"
Eine gewisse Anfangs-Skepsis bei der Umstellung der Speisepläne spürt auch Daniel Indlekofer. Er ist Abteilungsleiter der Betriebsgastronomie bei der Berliner Stadtreinigung (BSR). An zehn Standorten versorgen seine 90 Mitarbeitenden in den Küchen die mehr als 6.000 Beschäftigten – von der Verwaltung, über die Müllabfuhr bis hin zu den Reinigungskräften.
Die BSR gehörte 2019 zu den ersten Teilnehmern der "Kantine Zukunft" in Berlin. In dieser Zeit wurde der Bio-Anteil auf 40 Prozent erhöht – Obst, Gemüse und Kräuter kommen heute von einem einzigen, lokalen Bio-Lieferanten.
"Es kommt immer mal wieder vor, dass zum Beispiel auf den Müllhöfen eine gewisse Angst im Raum steht, dass man etwas wegnimmt von den Klassikern und Fleischgerichten", sagt Indlekofer. "Da heißt es oft: Ihr braucht dieses Schickimicki nicht machen, wir wollen lieber Rinder-Roulade."
Roulade gibt es weiterhin, Currywurst und paniertes Schnitzel sind auch bei der BSR noch immer die absoluten Bestseller in der Mittagspause. Doch die Konkurrenz wird immer stärker. "Wir merken: die Leute werden experimentierfreudiger, auch bei der Müllabfuhr oder der Reinigung“, sagt Daniel Indlekofer, "die probieren es einfach auch mal und es schmeckt natürlich."
Gemessen an den Verkaufszahlen ist die Nachfrage nach vegetarischen Speisen bei der BSR gestiegen. "Gestern gab es Couscous mit roter Bete, das wurde uns aus der Hand gerissen."
Das Beispiel zeigt: Nachhaltige Kantine funktioniert – wenn das Angebot überzeugt.
Nachhaltigkeit, Gesundheit und Genuss
"Die Kantine der Zukunft wird Nachhaltigkeit, Gesundheit und Genuss miteinander verbinden", sagt Professorin Nicole Graf. Sie ist Rektorin der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Heilbronn. Hier hat sie den Studiengang "Food Management" ins Leben gerufen. Und jedes Jahr zeichnet sie als Jury-Mitglied des "Food & Health"-Kantinentests die besten Kantinen Deutschlands aus. "Die Kantine ist heutzutage ein Ort, an dem ein Unternehmen zeigt, dass es Genuss und Verantwortung für die Mitarbeiter, aber auch für die Umwelt übernimmt", sagt sie.
Für Nicole Graf hat Nachhaltigkeit in der Kantine viele Ebenen – ökologische, wirtschaftliche und soziale. Der Betrieb müsse wirtschaftlich sein, die Produkte sollten regional und saisonal produziert werden - ein abwechslungsreiches Angebot sorge für Vielfalt im Geschmack, im Einkauf und zu größerer Zufriedenheit bei den Gästen und Patienten. Auch die Portionsgrößen könnten ein Hebel sein - mit Nachschlag-Systemen statt Riesen-Portionen.
Fleisch wird zur Nebensache
Und vor allem: Es müsse viel weniger Fleisch gegessen werden. Dazu brauche es zunächst mehr Sensibilisierung bei den Gästen – für die Folgen des massenhaften Fleischkonsums für den Planeten und das Tierwohl. Gleichzeitig müsse das Fleisch seine bisherige Hauptrolle auf dem Teller abgeben – zugunsten pflanzlicher Akteure – Gemüse, Salate, Hülsenfrüchte. Und zuletzt: wenn Fleisch – dann "nose to tail", von der Nase bis zum Schwanz verwertet.
"Sie können die Currywurst nicht aus dem Ruhrpott wegdenken. Und aus Berlin auch nicht", sagt Graf. "Sie wird bleiben. Allerdings vermehrt in zwei Varianten – einer klassischen und einer vegetarischen."
Sendung: rbb24 Inforadio, 15.07.2023, 16:30