Willkommensklassen fehlen - 1.120 neu zugewanderte Kinder in Berlin haben keinen Schulplatz
Mehr als 1.000 neu zugewanderte Kinder in Berlin sind ohne Schulplatz. Es fehlt an Räumen und Lehrpersonal für Willkommensklassen. Doch auch denen, die einen Platz ergattern konnten, fehlt es an Förderung - was am Ende die Schulen gesamt belastet. Von Anna Corves und Freya Reiß
- Rund 11.000 Kinder besuchen in Berlin Willkommensklassen
- Weitere 1.120 sind in der Warteschleife
- Auch Übergang in Regelklassen gestaltet sich schwierig
Seit Februar lebt die 13-jährige Rada aus der Republik Moldau in einer weißen Containersiedlung in Berlin-Blankenfelde, einer Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge. Sie ist schulpflichtig, wie so viele Kinder und Jugendliche hier. Aber: 33 von ihnen haben noch keinen Platz in einer Willkommensklasse ergattert. Was Rada den lieben langen Tag so macht? "Ich helfe meinen Eltern im Haushalt. Und sitze viel mit dem Handy auf dem Sofa, manchmal den ganzen Tag".
Heute aber darf die 13-Jährige das tun, was sie vermisst: lernen. Zweimal in der Woche besuchen Ehrenamtliche die Unterkunft, unterrichten ein, zwei Stunden lang Deutsch. Aufmerksam beobachtet Rada, wie Doris Settgast das Wort 'Kartoffel' an die Tafel schreibt, auf das doppelte 'f' hinweist. Dann üben alle gemeinsam im Chor Sätze, die man zum Einkaufen braucht.
"Viele Kinder freuen sich über die Stunde", erzählt Doris Settgast. Immer wieder würden sie ihr sagen, dass sie gerne in eine richtige Schule gehen wollen. "Das, was sie jetzt hier haben mit mir, zweimal die Woche eine Stunde: Das reicht nicht". Auch der Leiter der Unterkunft, Thomas Vietz vom gemeinnützigen Träger Albatros, betont, ihre Angebote könnten keinesfalls den Schulbesuch ersetzen. Dass Kinder ein halbes Jahr auf einen Platz warten, sei keine Seltenheit. "Ihnen gehen Chancen verloren".
Es mangelt an Lehrern, Räumen, Unterstützung
Rund 11.200 neu zugewanderte Kinder und Jugendliche lernen in Berlin derzeit in Willkommensklassen Deutsch. Doch das reicht nicht: 1.120 Namen stehen nach Senatsangaben aktuell auf den Wartelisten der Bezirke - die Zahlen ändern sich kontinuierlich. In Pankow, Marzahn-Hellersdorf und Lichtenberg fehlen besonders viele Plätze. Es mangelt an Personal, an Räumen.
Es fehle aber auch an Unterstützung seitens der Verwaltung, sagt Lydia Puschnerus. Sie ist bei der Lehrergewerkschaft GEW in Berlin für den Bereich Schule zuständig, leitet selbst eine Willkommensklasse in Schöneberg. Würde man den Schulen noch mehr soziales oder pädagogisches Personal zur Verfügung stellen – das müssten ja keine ausgebildeten Lehrkräfte sein – dann würden es sich vielleicht mehr Schulen zutrauen, eine Willkommensklasse aufzumachen, sagt sie. "Wenn sie aber das Gefühl haben, sie stehen dann alleine da, als Einzelkämpfer, dann fehlt die Motivation", so Puschnerus. Dieses Gefühl hätten viele Schulen.
Wachsende Herausforderung für alle Beteiligten
Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) betonte in ihrer Pressekonferenz zum Schuljahresstart, es brauche Zeit, um mit den Bezirken nach Möglichkeiten für weitere Willkommensklassen zu suchen. Diese Zeit solle aber genutzt werden, um die wartenden Kinder und Jugendlichen auf das System Schule vorzubereiten. Dafür habe man in Zusammenarbeit mit verschiedenen Trägern Angebote geschaffen, wie zum Beispiel "Fit für die Schule", in denen außerhalb der Schule bereits Sprachbildung vermittelt wird. "Diese tagesstrukturierenden Angebote sind weiterhin der Schlüssel, sie sollen weiter ausgebaut werden." Auch, um die Belastung für die aufnehmenden Schulen zu lindern.
Ortswechsel in den Süden der Stadt, nach Tempelhof-Schöneberg. Hier wurden gerade 14 zusätzliche Willkommensklassen eingerichtet, die Warteliste konnte abgebaut werden, wie der Bezirk mitteilt. Allerdings fehlen noch zwei Lehrkräfte, so dass einige Kinder auf den Start ihrer Willkommensklasse noch warten müssen.
Um die neuen Lerngruppen einrichten zu können, musste der Bezirk neue Wege gehen. So wurde an einem Standort projektartig eine 'Doppelbeschulung' im Vormittags- und Nachmittagsbetrieb eingeführt. Der notwendige Ausbau der Willkommensklassen habe die ohnehin starke Auslastung der Raumkapazitäten verschärft und auch weitere Einschränkungen bestimmter Angebote zur Folge, heißt es auf Anfrage. Der Bezirk spricht von einer stetig wachsenden Herausforderung für alle Beteiligten.
Die wird exemplarisch sichtbar an der Bruno-H.-Bürgel-Grundschule in Lichtenrade, die drei Willkommensklassen auf die Beine gestellt hat. Die Gruppen seien sehr heterogen, erzählt Direktor Jens Otte. Bei manchen Kindern frage man sich, ob sie in ihren Heimatländern jemals die Schule besucht hätten, sie müssten erst alphabetisiert werden, andere Schüler seien leistungsstärker. Für die Lehrer ist das ein Spagat.
Nächste Hürde: Übergang in die Regelklassen
Trotzdem haben die meisten Kinder nach etwa einem Jahr ein Sprachniveau erreicht, mit dem sie in eine Regelklasse wechseln können, berichtet Direktor Jens Otte. Um den Kindern das ermöglichen zu können, rücken sie in den ohnehin vollen Klassen die Stühle nochmal enger zusammen. Nicht überall läuft es so: GEW-Vorständin Lydia Kuschnerus erzählt aus ihrer Willkommensklasse, dass regelmäßig Schüler, die diese erfolgreich absolviert hatten, wieder zurückgeschickt werden – weil das Schulamt keinen freien Platz in einer Regelklasse gefunden hat. "Das ist für die Schüler eine harte Erfahrung, weil sie dann bei uns geparkt werden".
Für Grundschuldirektor Jens Otte ist der Übergang von der Willkommensklasse in den Regelunterricht nicht nur aus Platzgründen eine große Herausforderung: Es falle immer schwerer, das Lernniveau zu halten. Eigentlich ist vorgesehen, dass die Kinder, die in den Regelunterricht wechseln, weiterhin Förderunterricht absolvieren – nach einem Jahr in der Willkommensklasse können sie noch nicht auf dem Stand der anderen Kinder sein. In der Praxis aber klappt es mit dem Förderunterricht an vielen Schulen nicht.
Bei Jens Otte zum Beispiel, dessen Schule bisher einen guten Personalstand hatte, haben sich gerade zwei Lehrkräfte langfristig krank gemeldet. Die Folge: "Alle Förderstunden entfallen". Ein herber Verlust für alle Kinder, die Zusatz-Förderung benötigen, aus welchen Gründen auch immer.
Es gebe ohnehin schon viele Schüler mit schwachen Leistungen, berichtet Otte. Wenn dann fast nur Schüler dazukämen, die ebenfalls schwach seien, und das nicht durch Förderung aufgefangen werden könne, sei die logische Konsequenz: "Zuerst sinkt das Lerntempo, dann auch das Niveau".
Das belegt die jüngste Vera-Bildungsstudie für Berliner Schüler bereits eindrücklich. Jens Otte neigt mehr zum Probleme-Anpacken als zum Jammern - aber seine Prognose ist klar: Mit dem Personalmangel wird sich dieser Trend fortsetzen. Für die Schulen ist das ein Kraftakt. Und für die Kinder? "Ist das ungerecht", sagt Otte. Für alle Kinder, ganz egal, woher sie kommen.
Sendung: rbb24 Inforadio, 28.08.2023, 6 Uhr