Von Berlin nach Budapest - Schlaflos im Nachtzug
Nachtzüge versprechen Reisen ohne Flugscham und mit Komfort. Unsere Autorin hat getestet, ob der Hype berechtigt ist und eine stressige Nacht erlebt. Warum sie trotzdem wieder einsteigen würde - und was die Politik verbessern sollte. Von Anna Severinenko
Nur einmal schlafen, dann bin ich in Budapest. Ich sitze im Nachtzug, es rattert. Das Fenster umrandet das Instagram-Motiv einer Landschaft, auf die die letzten Sonnenstrahlen des Tages fallen. Hinter der Glasscheibe ziehen Wälder vorbei, Postkarten-Dörfer mit Kirchtürmen, Seen, nur wenige Meter entfernt von mir. Perfekt. Ich atme ein und merke: Es stinkt. Es stinkt in meinem Sitzwaggon, entweder ist es der Teppich hier oder es ist die Zugtoilette nebenan.
Anschauen auf Youtube: Wir testen den NACHTZUG von Berlin nach Budapest
14 Stunden überleben ohne Bordbistro
Ich habe mir die Nachtzugfahrt anders vorgestellt: romantisch, ein bisschen Orient-Express, ein bisschen wie ein Wes-Anderson-Film. Während der Fahrt wollte ich gedanklich über das Zeit-Raum-Gefühl des Zugfahrens philosophieren. Stattdessen überlege ich jetzt, ob ich meine Mitreisenden anschnorren kann, damit sie mir einen Keks abgeben. Denn auf der fast 14-stündigen Fahrt gibt es kein Bordbistro. Im Abteil nebenan sind die wenigen Snacks ebenfalls ausverkauft.
Eine Ernüchterung ist schon lange vorher eingetreten, bei der Ticketbuchung: Auf der Seite der Deutschen Bahn werden zwar Nachtzug-Verbindungen angezeigt, jedoch kann ich sie dort nicht buchen. Grund: Die Bahn betreibt selbst keine Schlafzüge. Daher muss ich direkt auf die Seite des Anbieters gehen, für meinen Nachtzug-Fall ist das die ungarische MAV.
Wie Reise nach Jerusalem: Wer zu spät ist, bleibt ohne Platz
Der Zug fährt täglich gegen 18:30 Uhr aus Berlin los und kommt um 8:30 Uhr in Budapest an. Beim Buchen kann man auswählen zwischen Sitz-, Liege- und Schlafabteil, zwischen Zweier-Kabine und Großraum. Etliche Währungsumrechnungen später wird mir mitgeteilt, dass nur noch Plätze im Sitzabteil vorhanden sind. Ich fühle mich mit Mitte Dreißig eigentlich zu alt für solche Abenteuer, habe aber keine andere Wahl.
Kein Wunder bei der kurzfristigen Buchung, denn die Nachfrage übersteigt bereits das Angebot, sagt Andreas Knie, Leiter der Forschungsgruppe Digitale Mobilität am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung GmbH. Die angebotenen Nachtzüge sind oft Wochen im Voraus ausgebucht, was auch ich feststellen muss.
Auch andere Mitreisende mussten für ihre Spontanität in Kauf nehmen, 14 Stunden im Sitzen zu verbringen. Zwei Abteile weiter sitzt eine Gruppe Spanier. Was Nachtzüge betrifft, sind sie next level. Während ich den Teppich in meinem Abteil zu Lava erklärt habe, haben sie den Boden zur Liegezone gemacht: Präzise wie Sardellen in einer Dose legen sie sich nebeneinander unter die Sitze, um mir auf meine Nachfrage zu demonstrieren, wie sie später an Schlaf kommen wollen. Ich blockiere alle Sinne mit Schlafmaske, Ohrstöpsel und Nackenkissen und mache mich zu einem kleinen runden Ball auf meinem Sitz. Ich fühle mich wie diese Schlangenmenschen im Zirkus, die sich in die kleinste Box reinzwängen können.
Zum Einschlafen etwas zu streamen, ist nicht drin, denn es gibt kein WLAN. Selbst wenn der Zug sich manchmal im Schritttempo vorwärts schiebt, ist er immer noch schneller als die Internetverbindung. Dann halt direkt schlafen.
Keine Grenzkontrollen zwischen EU-Ländern - dafür Ticketkontrollen
Durchschlafen ist trotzdem nicht möglich: Zwar gibt es in der EU keine Grenzkontrollen, aber nach jedem Grenzübergang - auf der Strecke sind es vier (nach Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) - reißt der Kontrolleur die Tür auf und verlangt mit lauten Rufen nach Tickets. Verständlich, da ja alle schlafen. Und unverständlich, da ja alle schlafen. In jedem Land wechselt nämlich das Zugpersonal und somit wird in jedem Land neu kontrolliert.
In den fancy Liege- und Schlafabteilen wird man nicht zur Kontrolle aus der Liege rausgeschrien. Die privilegierteren Passagiere erzählen, dass sie ihre Tickets einfach an den Abteilverantwortlichen abgegeben haben und dieser sie den Kontrolleuren gesammelt zeigt. Noch ein Grund mehr, warum ich nächstes Mal unbedingt in ein Liegeabteil will.
Früher hatte die Deutsche Bahn die Nachtzüge noch selbst betrieben. 2016 ist das Unternehmen dann aus dem Nachtzug-Geschäft ausgestiegen, wie uns ein Sprecher der Bahn bestätigt. Sie kooperiere mit anderen Anbietern aus dem europäischen Ausland. Andreas Knie erklärt, dass ein Problem dabei jedoch sei, dass jedes Land andere Zugmodelle herstelle und, viel entscheidender, jedes europäische Land unterschiedliche Systeme für den Schienenverkehr habe.
Wie soll man durch Europa reisen, wenn Spanien andere Spurbreiten bei Zügen hat?
"Sie kriegen eine internationale Bahn nicht hin, denn am Ende des Tages sind die Bahnen nationale Angelegenheiten", so fasst es Knie zusammen. "Nur Deutschland, die Niederlande, Belgien, Schweiz und Österreich haben überhaupt die gleichen Stromsequenzen für den Schienenverkehr. Wenn Sie nach Frankreich weiterfahren, ist es schon sehr kompliziert und wenn Sie weiter nach Spanien wollen, da haben Sie plötzlich auch noch andere Spurbreiten."
Eine Lösung wäre es laut Knie, die Bahn charterbar zu machen. Das bedeutet, dass Bahnwaggons von anderen Zugunternehmen gemietet werden können und diese auch Waggons von der DB chartern dürften. Das würde auch bedeuten, dass man auf der DB-Seite MAV-Tickets kaufen könnte und vice versa.
Die große Frage: Warum ist Zugfahren so viel teurer als Fliegen?
Apropos Tickets kaufen. Die Nachtzugverbindung nach Budapest hat das Zug-Flug-Ticketpreis-Naturgesetz gebrochen, denn die Zugtickets waren tatsächlich günstiger als Flüge. Zwei Monate vor Reisetag kostete ein Bett im Liegewagen um die 70 Euro, ein einfacher Flug lag bereits bei über 100 Euro. Jedoch ist dieser Fall nach meiner Erfahrung die Ausnahme. Die Frage aller Fragen ist meistens: Warum kostet Zugfahren so viel mehr als Fliegen, obwohl Fliegen so viel schädlicher ist fürs Klima?
"Weil die Bahn zu wenig oder weniger subventioniert wird", lautet die Antwort von Knie. "Momentan werden in Deutschland, Österreich und der Schweiz nur Betriebsverluste ausgeglichen. Ansonsten muss sich das System Schiene damit abfinden, die Kosten auf den Kunden abzuwälzen. Beim Fliegen ist das bekanntermaßen nicht der Fall."
Die Bahn gilt als kritische Infrastruktur und muss daher ein bestimmtes Grundangebot liefern, auch wenn sich die Zugverbindungen finanziell nicht lohnen. Flughäfen müssen sich mit ihrem Umsatz selbst erhalten können. Laut Knie ist der BER jedoch das beste Beispiel dafür, wie viel Geld der Staat in einen Flughafen steckt. Zusätzlich könnten Airlines einzelne Flüge einfach streichen, wenn die Auslastung nicht stimmt. Das führe zu günstigeren Ticketpreisen, erklärt der Mobilitätsforscher.
Fliegen ist das Lieblingskind der Politik
Ein weiteres Indiz dafür, dass Airlines das Lieblingskind der Politik sind, sind die Energiesteuern: Während auf Kerosin keine Steuern erhoben werden, sobald das Flugzeug Deutschland verlässt, muss die Bahn für ihren Strom einen Satz von sieben Prozent zahlen, so Angaben des Bundesumweltamts. Vor wenigen Jahren war es noch volle 19 Prozent. Jedoch ist Fliegen bereits teurer geworden und wird es weiterhin durch den Anstieg der CO2-Steuer. Eine Tonne CO2 kostet momentan 30 Euro, bis 2026 soll der Preis laut Verbraucherzentrale auf 55 bis 65 Euro steigen. Andererseits soll das Bahn-Fahren auch erschwinglicher werden, fordern Verkehrsminister:innen aller Bundesländer.
Der Flug ist 30 Mal klimabelastender als der Zug
CO2 ist auch das Schlagwort, weshalb so viele sich im Nachtzug durch Europa im Bett hin- und herwerfen lassen, oder wie ich auf einen Sitz quetschen. "Mit dem Pariser Klimaabkommen 2016 stieg auch wieder die Beliebtheit von Nachtzügen. Den Leuten wurde mit der politischen Anerkennung nochmal bewusster, dass wir über unsre Verhältnisse leben." So ordnet es der Verkehrsexperte ein. Zur Erinnerung: Im selben Jahr stellte die Bahn ihr Nachtzug-Angebot ein. "Ich war selbst 16 Jahre bei der Bahn. Die ist dumm wie Brot", ist Knies Kommentar dazu.
Tatsächlich fahre ich ganze 14 Stunden nach Budapest, anstatt anderthalb zu fliegen (Sicherheitskontrollen beim BER nicht eingerechnet). Aber ich habe auch laut Berechnungen von Knie 30 Mal weniger Emissionen freigesetzt, als wenn ich geflogen wäre. Und auch immer noch um einiges weniger als mit dem Auto. Dieser Fakt macht Bahnfahren zum fast einzigen Klima-verträglichen Reisemittel. Das sieht auch die Mobilitätswende vor. "Bis 2030, also bis übermorgen ja eigentlich, sollen fast 38 Prozent auf klimafreundliche Mobilität umsteigen, um die Klimaziele zu erreichen. Im Moment sind es gerade mal 12 Prozent", rechnet der Mobilitätsforscher vor. "Das heißt, wir müssen dreimal so viel Bahnfahrten bis dahin haben."
Ich werd's wieder tun, aber bitte macht's geiler
Ich steige morgens (Achtung Wortwitz) gerädert in Budapest aus, aber weniger zerstört als gedacht. Obwohl eben erst überstanden, wird es nicht meine letzte Fahrt sein. Nun liegt es an der Bahn und dem politischen Entscheidungswillen, das Nachtzugfahren upzugraden und massentauglicher zu machen. Dafür bräuchte es günstigere Tickets, mehr Liegeabteile, pünktlichere Züge und bitte mehr Speisewaggons. Ich gehe jetzt erstmal frühstücken.
Das Youtube-Video zur Nachtzugfahrt können Sie auf dem Youtube-Channel von rbb|24 sehen.