Kommentar | Studie zu sexuellem Missbrauch - Die evangelische Kirche leidet unter Verantwortungsdiffusion

Do 25.01.24 | 20:01 Uhr | Von Ulrike Bieritz
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Symbolbild: Dunkle Wolken ziehen über das Kreuz auf einer evangelischen Kirche. (Quelle: dpa/Julian Stratenschulte)
Audio: rbb24 Abendschau | 25.02.2024 | Ulrike Bieritz und Stephan Ozsvath | Bild: dpa/Julian Stratenschulte

Eine neue Studie zeigt, dass auch die evangelische Kirche zu lange bei sexuellem Missbrauch weggeschaut hat. Eine Überraschung ist das nicht, schließlich wurden die Betroffenen jahrelang ignoriert. Ein Kommentar von Ulrike Bieritz

Wegducken oder sich gar hinter der katholischen Kirche verstecken, geht nun wirklich nicht mehr. Viel zu lange hat die evangelische Kirche gedacht, Missbrauch sei ein rein katholisches Thema aufgrund der spezifischen Risikofaktoren: Zölibat, Sexualmoral, Machtstrukturen.

Weit gefehlt, zeigen nun die Ergebnisse einer Studie. Und eigentlich ist es überhaupt keine Überraschung, dass es auch in den Reihen der evangelischen Kirchen sexualisierte Gewalt gab und gibt. Systematisch und systemisch bedingt. Unter den Beschuldigten sind viele Pfarrer, Durchschnittsalter 43, zwei Drittel von ihnen sind verheiratet.

Bedauerliche Einzelfälle? Nein!

So erschüttert, erschreckt und entsetzt, wie die kirchenleitenden Personen auf die Studie reagieren, hätten sie eigentlich schon 2010 sein können, als erstmals Betroffene an die Öffentlichkeit gegangen waren. Damals waren es die ehemaligen Schüler des Canisius-Kolleg in Berlin.

Dabei wurden auch sexuelle Übergriffe eines Pfarrers aus Ahrensburg (Schleswig-Holstein) auf Minderjährige öffentlich. Ein bedauerlicher Einzelfall? 14 Jahre später wissen wir: Nein, das war es nicht. Jetzt immer noch überrascht und betroffen zu sein, ist wohlfeil. Zeigt aber genau das Versagen eben jener Personen, die viel zu lange geglaubt hatten, ihre Kirchen und diakonischen Einrichtungen seien außen vor.

Dass sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche überhaupt thematisiert wurde, ist den Betroffenen zu verdanken. Ihrer Hartnäckigkeit, ihrem Mut. Sie sind mit ihren Geschichten an die Öffentlichkeit gegangen. Wie so oft wurde ihnen nicht geglaubt. Wie so oft wurden sie wieder weggeschickt, mit halbherzigen Entschuldigungen abgespeist und mit der Bitte um Verzeihung. Um es ganz deutlich zu sagen: Sexualisierte Gewalt ist nicht zu verzeihen.

Die Spitze der Spitze des Eisbergs

Die evangelische Kirche leidet unter Verantwortungsdiffusion, Konfliktunfähigkeit und Harmoniezwang. Das, sagt die Studie, steht der Aufklärung im Weg. Schnell alles unter den Teppich kehren und sich wieder lieb haben, ist die Devise. Was im Kern auch bedeutet: Wir schützen die Täter und die Institution. Etwa, wenn sie versetzt werden, die neue Gemeinde aber nichts von solchen Vorfällen weiß.

Die jetzt veröffentlichte Studie ist die umfassendste, die es bisher gab. Sie befasst sich nicht nur mit den Kirchen, sondern auch mit der Diakonie. Das Ergebnis zeigt deutlich, wie häufig Missbrauch auch in den Reihen der Protestanten vorkommt und wie bestehende Strukturen dies befördern.

Dabei sind die Zahlen, die jetzt veröffentlicht wurden, nur die Spitze der Spitze des Eisbergs. Die Dunkelziffer ist wesentlich höher. Denn die Forscher konnten nur mit Material arbeiten, dass ihnen die 20 Landeskirchen zugeliefert hatten. Dabei handelte es sich fast ausschließlich um ausgewertete Disziplinarakten. Fälle also, die angezeigt und damit bekannt waren.

Alle haben sich schuldig gemacht

Viel mehr wäre noch aus den Personalakten zu erfahren gewesen, aber hier hat nur eine Landeskirche geliefert. Zu aufwendig, zu kompliziert, zu wenig Personal, manches vernichtet: Solche Ausreden zeigen, dass immer noch nicht alle in den Landeskirchen den Knall gehört haben.

Sexualisierte Gewalt gibt es nicht nur in den Kirchen, sondern auch in Sportvereinen oder Jugendorganisationen. Aber innerhalb der Kirche wiegen die Taten umso schwerer. Sollen nicht gerade Kirchenräume oder diakonische Einrichtungen besonders sichere Orte sein? Menschenliebe predigen und Kinder und Jugendliche Gewalt auszusetzen, das geht gar nicht.

Alle haben sich schuldig gemacht, indem Betroffenen nicht geglaubt wurde. Nun muss die Kirche handeln und Konsequenzen ziehen: Es braucht unabhängige Ansprechpersonen und Aufarbeitungskommissionen, angemessene und transparente Anerkennungsleistungen - und das bundesweit, einheitlich und nachvollziehbar.

Die Frage ist allerdings, ob die Täterorganisation das von sich aus leisten kann.

Sendung: rbb24 Abendschau, 25.01.2024, 19.30 Uhr

Beitrag von Ulrike Bieritz

17 Kommentare

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  1. 17.
    Antwort auf [Ansgar] vom 26.01.2024 um 14:59

    Streng genommen ist eine Kirchensteuer auch nichts anderes, als eine einkommensabhängige Mitgliedgebühr, die aber der Staat mit seinem Gewaltmonopol eintreibt und durchsetzt. Jeder Karnickelzüchter- oder Sportverein hat diese Privilegien nicht und muss sich selbst darum kümmern, genau so wie die Kirchen in anderen Staaten. Ein Steuerrecht im eigentlichen Sinn hat ausschließlich unser Staat und sonst niemand. Die Kirchensteuer ist daher eine deutsche Besonderheit in einem säkularen demokratischen Staat.
    Falls Sie mit "Basisarbeit" soziale Tätigkeiten meinen, werden Sie leider enttäuscht. Alle gesellschaftlichen Aufgaben, die die Kirchen erbringen, wie Krankenhäuser, Kindergärten oder Altenheime, werden aus weltlichen Mitteln finanziert, wie bei jedem anderen Träger auch.

  2. 16.

    Es gibt hier zwei unterschiedliche Ursachen. Das eine ist der besondere Schutz von Religionsgemeinschaften, der so hoch angesiedelt ist, dass diese gegenüber anderen Gemeinschaften weitgehende Sonderrechte genießen, die teilweise sogar aktuellen Gesetzen widersprechen. So ist nach Kirchenrecht eine Diskriminierung wegen der eigenen Glaubenszugehörigkeit zulässig, im weltlichen Leben aber nicht. Und es gibt noch weitere, teils gravierende Sonderrechte.
    Die zweite Ursache ist die streng hierarchische Struktur der Kirchen. Dies begünstigt es leider, unliebsame Themen auf Anweisung tot zu schweigen und zu vertuschen und schützt damit potentiell kriminelle Machenschaften, wenn eine Aufklärung dem Ansehen der Organisation schaden könnte.
    In der katholischen Kirche schiebt man das Problem ja gerne auf das Zölibat. Dass das eine Ausrede ist, kann man hier sehen, denn in der evangelischen Kirche existiert es ja gar nicht.

  3. 15.

    Sie unterliegen einem Irrglauben. Religion ist das Instrument, welches sich die Menschen selbst geschaffen haben, um ihrem natürlich gegebenen Bedürfnis nach Gruppenzugehörigkeit und einer orientierenden Größe im Leben zu entsprechen. Die Abschaffung von klassischen Religionen führt dann eben nicht dazu, das alles besser wird sondern die Menschen wenden sich dann Ersatzreligionen zu, deren inneres Handeln sich kaum bis gar nicht von den klassischen Religionen unterscheidet. Es ist am Ende lediglich ein interner Prozess, ob eine (Religions)Gruppe sich radikalisiert, kriminalisiert und innerlich spaltet oder eben nicht. Gerade deshalb sind demokratische Strukturen in solchen Institutionen derart wichtig.

  4. 13.

    Wieso zieht der Staat dann für die Kirchen die Steuern ein? Sollen die Kirchen dass bitte doch selbst machen. Ich musste sogar 30€ bezahlen, um aus der Kirche auszutreten!

  5. 12.

    Die Forderungen nach deutlichen Konsequenzen für die Kirchen sind nicht unsinnig, sondern konsequent. Keine andere Organisation wird trotz dieser vielen Verbrechen so durch die Politik geschützt, wie die christlichen Kirchen. Die Kirchen klären nicht auf, sie behindern die Aufklärung und Bestrafung von Tätern. Die Kirche darf kein rechtsfreier Raum sein.

    Bei diesen Forderungen geht es nur allein um Kirchen als Organisation und nicht um den christlichen Glauben.

  6. 11.

    Nein, die Kirche kann gerne bleiben. Wenn manche Leute meinen, dass es keinen Gott gibt, dann ist es deren persönliche Angelegenheit. Niemand wird dazu gezwungen in die Kirche zu gehen. Der Missbrauch muss aufgeklärt werden und die Verantwortlichen sollen dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Deshalb muss aber nicht die Kirche verschwinden. Das ist ja vollkommen unsinnig.

  7. 10.

    Die Kirche deckt das Ganze, sie macht sich mitschuldig.
    Diese Heuchelei ist unerträglich. Anderen erzählen wie sie zu leben haben und nicht besser sein. Der Einfluss der Kirche im allgemeinen muss zurück gedrängt werden. Geld vom Staat darf es auch nicht geben.

  8. 9.

    Wenn die Kirchen keine aktive Aufklärung der Mißbrauchsfälle leisten und die Straftäter nicht ausgeschlossen und juristisch verfolgt werden, dann dürfen diese Kirchen auch keine staatlichen Geld beziehen und müssen enteignet werden, damit die Opfer entschädigt werden können.

  9. 8.

    Alle haben sich schuldig gemacht, indem Betroffenen nicht geglaubt wurde. Nun muss die Kirche handeln und Konsequenzen ziehen: Es braucht unabhängige Ansprechpersonen und Aufarbeitungskommissionen, angemessene und transparente Anerkennungsleistungen - und das bundesweit, einheitlich und nachvollziehbar.
    So der Artikel!
    Wer glaubt den, dass die Einrichtung das leisten kann, oder überhaupt das leisten will, geschweige an das Thema heran möchte. Es wird paar Wochen die beileid bekundung geben und das ganze verläuft in den Sand.

  10. 7.

    Die Kirche ist durch Menschen gemacht und wird von Menschen seit Bestehen geführt.
    Schafft die Kirche,egal welcher Religion ab und das Elend hat ein Ende.

  11. 6.

    Ist es nicht gerade opportun, Steuergelder einzubehalten... wenn gegen unsere Werte gehandelt wird?

  12. 5.

    So lange es für viele Leute immer noch normal zu sein scheint, daß die Kirche Rechtsbrüche selbst klären darf, wird sich nichts ändern. Normal gehören alle Art Übergriffe sofort der Polizei und nicht irgend einer Kircheninstanz angezeigt.

  13. 4.

    Wo bleiben die Demos gegen die Kirche?

  14. 3.

    Ganz ehrlich? Glauben Sie, dass das Problem damit gelöst werden kann? Nicht "die Kirche" ist Täter, sondern Menschen, die in Kirchen beschäftigt sind/waren. Schlimm finde ich, dass man von dort arbeitenden Menschen so etwas offensichtlich weniger erwartet! Und natürlich ist kritisch zu betrachten, wie die Organisation/der Arbeitgeber damit umgeht. Die Täter/die Täterinnen finden immer, solange sie nicht entdeckt werden, ihr Betätigungsfeld.

  15. 2.

    Die Frage ist allerdings, ob die Täterorganisation das von sich aus leisten kann? NEIN, wird und will die Organisation auch gar nicht. Der Laden ist mehr mit dem vermeintlich "guten Ruf" beschäftigt.

  16. 1.

    Ganz ehrlich?
    Ob evangelisch oder katholisch, gebt den Kirchen keine Steuergelder mehr.
    Religion ist out. Es gibt keinen Gott,es gibt nur die Wissenschaft.
    Jahrtausend lang ist die Kirche,die Religion verantwortlich für Kriege und wie man jetzt weiß auch für sexuellen Missbrauch.
    Das muss ein Ende haben.
    Weg damit!!!

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