Protestbilanz - Senat zählt für April und Mai 240 Klima-Straßenblockaden in Berlin
Auf Anfrage der Grünen legt die Berliner Innenverwaltung neue Zahlen zu den Aktionen der Klimagruppe "Letzte Generation" vor. Was die Daten zeigen – und was nicht. Von Sabine Müller
Im April und Mai registrierten die Behörden in Berlin insgesamt 240 Blockade-Aktivitäten der "Letzten Generation". Diese Zahl nennt die Innenverwaltung im Antwortschreiben an den Grünen-Abgeordneten Vasili Franco, das dem rbb exklusiv vorliegt. Dieser hatte eine Kleine Anfrage an den Senat gestellt. Die erste Klebeblockade passierte demnach am Morgen des 5. April 2023 im Bereich Kantstraße/Neue Kantstraße/Suarezstraße, die letzte Aktion wurde am späten Nachmittag des 26. Mai im Bereich Frankfurter Allee/Frankfurter Tor registriert. Die Auswertung zeigt, dass die "Letzte Generation" besonders ab Ende April aktiv war. Bis zum 23. April sind insgesamt elf Blockaden aufgelistet, der Rest betrifft die Zeit danach.
Die Einsatzorte der Klimaaktivisten sind über die ganze Stadt verteilt, die betroffenen Straßen variieren. Es gibt allerdings Blockade-Schauplätze, die mehrfach auftauchen, etwa der Ernst-Reuter-Platz oder die Bundesallee. Insgesamt 25-mal blockierten Klimaaktivisten auf dem Stadtring Teile der Autobahn.
Der Abgeordnete Vasili Franco sagt im Gespräch mit dem rbb, die Aktionen der "Letzten Generation" fänden "wechselnd, stadtweit an unterschiedlichen Orten statt und sind weit weg davon, die ganze Stadt lahm zu legen". Er äußert den Eindruck; Es könne keine Rede davon sein, dass die Stadt in "Geiselhaft" genommen werde, wie die Innensenatorin Iris Spranger (SPD) mehrfach in Interviews gesagt hatte.
Ermittlungen in mehr als tausend Fällen
Aufgrund der Aktionen im April und Mai wurden durch die Polizei Berlin 1.123 Ermittlungsverfahren gegen Mitglieder der "Letzten Generation" eingeleitet. Die meisten wegen Nötigung im Straßenverkehr (642 Fälle), sonstiger Nötigung (275) und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte (125). Als weitere Straftatbestände werden unter anderem genannt: Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr, Sachbeschädigung oder Hausfriedensbruch. Interessant: In drei Fällen ist "Bildung krimineller Vereinigungen" als Straftatbestand gelistet. Auf rbb-Nachfrage teilte die Polizei mit, diese Strafanzeigen gemäß Paragraf 129 des Strafgesetzbuchs seien durch Privatpersonen erstattet und an die Staatsanwaltschaft übersandt worden.
Über die Frage, ob die "Letzte Generation" als kriminelle Vereinigung einzustufen ist, wird gerade bundesweit diskutiert. Die Staatsanwaltschaft Berlin sieht dafür bisher keinen Anlass. Die Justizsenatorin Felor Badenberg (parteilos) lässt die Frage allerdings aktuell durch ihre Verwaltung prüfen, was Grüne und Linke in Berlin als Misstrauensvotum gegen die Staatsanwaltschaft bezeichnen. Wie der rbb aus der Justizverwaltung erfuhr, ist die Prüfung bisher nicht abgeschlossen.
Kaum längerer Gewahrsam für Klimaaktivisten
Angesichts der Debatte über einen verlängerten Präventivgewahrsam für potentielle Straftäter hatte der Grünen-Abgeordnete Vasili Franco auch gefragt, wie oft Klimaaktivisten in Gewahrsam genommen wurden. Die Antwort der Innenverwaltung: Im April und Mai wurden 60 Personen durch die Polizei in eine Gefangenensammelstelle gebracht, 49 von ihnen wurden ohne richterliche Entscheidung entlassen. Details werden nicht genannt, aber die Vermutung liegt nahe, dass die betroffenen Personen sich gegenüber der Polizei zunächst nicht ausweisen konnten und nur so lange festgehalten wurden, bis ihre Identität geklärt war.
Bei elf Personen bestätigte ein Gericht den Gewahrsam. Die meisten wurden kürzer als neun Stunden festgehalten. In drei Fällen am 18. Mai, die vermutlich zusammenhängen, lag der Gewahrsam zwischen knapp 29 und knapp 32 Stunden.
Ob es sich hier um Präventivgewahrsam handelte, der in Berlin aktuell maximal 48 Stunden betragen kann, ist den Angaben der Innenverwaltung nicht zu entnehmen. Vasili Franco sieht sich - wie er sagt - durch die niedrige Zahl der Fälle mit langem Gewahrsam aber in seiner Auffassung bestätigt, dass Präventivhaft kein "Allheilmittel gegen Klimablockaden" darstelle. "Die Zahlen zeigen: es sind nur sehr, sehr wenige Fälle, die sich überhaupt dafür eignen", sagt Franco und appelliert an die Innensenatorin Spranger, den Präventivgewahrsam nicht wie geplant von zwei auf fünf Tage auszuweiten.
Spranger hatte kürzlich im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses betont, sie wolle die Ausweitung nicht ausschließlich wegen der "Letzten Generation", ihr gehe es um Terrorverdachtsfälle, aber auch Fälle von häuslicher Gewalt, wo man Zeit brauche, Frauen und eventuell Kinder aus dieser Situation herauszubringen.
Ermittlungen gegen Attackierer
Aber nicht nur gegen Mitglieder der "Letzten Generation" wird ermittelt, auch gegen Menschen, die sie während der Klebeblockaden angingen. Im April und Mai wurden 39 Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf Straftaten gegen Aktivistinnen und Aktivisten eingeleitet – die meisten davon wegen Körperverletzung und Beleidigung. Laut den Daten der Innenverwaltung waren bis Ende Mai zwölf der Tatverdächtigen namentlich ermittelt, 27 Verfahren liefen gegen Unbekannt.
In einem Drittel der Fälle erstatteten Mitglieder der "Letzten Generation" die Strafanzeigen, in einem Fall eine außenstehende Person. Die übrigen Strafermittlungsverfahren wurden von den Behörden selbst, also von Amts wegen, eingeleitet.
Sendung: rbb24 Inforadio, 16.06.2023, 7 Uhr