Datenüberblick zu Flucht und Migration - Geflüchtete in Berlin und Brandenburg, erklärt in sechs Grafiken
Krieg, Naturkatastrophen, Wirtschaftskrisen - weltweit sehen sich Millionen Menschen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Statistiken zeigen, wer kommt, wer bleibt und wer Geflüchtete aufnimmt. Von Efthymis Angeloudis und Götz Gringmuth-Dallmer
Bis zum Anschlag gefüllte Boote, unübersichtliche Menschenreihen an Anlegestellen, überfüllte Auffanglager: Das sind die Bilder von der Mittelmeerinsel Lampedusa, die die Debatte um Flucht und Migration in Deutschland aufgeheizt haben und die Rufe nach Begrenzung des Rechts auf Asyl lauter werden ließen.
In einem Interview mit dem "Spiegel" äußerte sich auch Bundeskanzler Olaf Scholz zu den Verhältnissen. "Wir müssen endlich im großen Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben", sagte der SPD-Politiker dem Nachrichtenmagazin. Wer sich nicht auf Schutzgründe berufen könne und keine Bleibeperspektive habe, müsse gehen. "Wir müssen mehr und schneller abschieben."
Experten dagegen warnen vor politischen Einschätzungen nur auf der Grundlage dramatischer Szenen. "Es ist irreführend, dass wir alle nach Lampedusa schauen", sagt etwa der Direktor des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM), Herbert Brücker gegenüber rbb|24. "Nur zwölf Prozent der Asylanträge, die in Deutschland gestellt werden, entfallen auf Menschen aus Afrika."
Zahl der Asylerstanträge steigt, aber nicht auf Niveau von 2015/16
Die Zahl der Menschen, die in der Bundesrepublik einen Antrag auf Asyl stellt, hat im Jahr 2023 tatsächlich weiter zugenommen. Bis zum Oktober waren es nach Zahlen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) genau 267.384. Im vergangenen Jahr waren es im Vergleichszeitraum 159.669 Menschen, was eine Zunahme um 67,5 Prozent bedeutet.
Zum Jahresende 2022 waren es knapp 217.774 Menschen, die einen Erstantrag auf Asyl gestellt haben. Zum Vergleich muss man aber auch wissen: Im Jahr 2016 stellten 722.370 Menschen in Deutschland einen Antrag auf Asyl. Überhaupt waren die Zahlen in Folge der Flüchtlingswelle 2015 erheblich höher als zurzeit.
Brandenburg unterdurchschnittlich - Berlin überdurchschnittlich
Auch in Berlin und Brandenburg steigt aktuell die Zahl der Menschen, die hier einen Erstantrag auf Asyl stellen. In Brandenburgs Kommunen wurden im Jahr 2023 bis Ende Oktober 8.143 Geflüchtete aufgenommen.
Zu Beginn des Jahres war prognostiziert worden, dass die Brandenburger Kommunen in diesem Jahr knapp 26.000 Geflüchtete aufnehmen müssten. Im Sommer war dieses sogenannte Aufnahmesoll auf 19.253 Menschen reduziert worden, nachdem weniger Geflüchtete und Migranten kamen als erwartet.
Der Anteil der Asylerstanträge in Brandenburg entspricht mit drei Prozent dem Anteil des Bundeslandes an der deutschen Bevölkerung, so Migrationsforscher Brücker, und damit auch den Vorgaben des Königsteiner Schlüssels, auf dessen Grundlage Asylbewerberinnen und -bewerber entsprechend der Bevölkerungszahlen oder dem Steueraufkommen auf die Bundesländer verteilt werden sollen.
"Mit einem Anteil von 5,4 Prozent liegt in Berlin der Anteil der Asylerstanträge rund einen Prozentpunkt über dem Bevölkerungsanteil. Damit ist Berlin überdurchschnittlich betroffen", so Brücker weiter. Dass Berlin überdurchschnittlich betroffen ist, sei nicht überraschend: "Migrantinnen und Migranten haben in urbanen Ballungsräumen bessere Integrationschancen. Dort haben wir vielfältigere Arbeitsmärkte, so dass es leichter ist, einen passenden Job zu finden. Auch persönliche Netzwerke zu anderen Migrantinnen und Migranten können helfen."
Überraschend sei eher, dass auf die beiden wirtschaftsstärksten Bundesländer, Bayern und Baden-Württemberg, gemessen an Bevölkerung und Wirtschaftskraft ein unterdurchschnittlicher Anteil der Asylsuchenden entfalle.
Zwar belegen Bayern und Baden-Württemberg den zweiten und dritten Platz (nach Nordrhein-Westfalen) unter den Asylerstanträgen. Bei Asylanträgen pro 10.000 Einwohnern ist es jedoch der viertletzte für Bayern und letzte Platz für Baden-Württemberg unter den Bundesländern [br.de]. Berlin liegt hingegen auf Platz eins.
Woher kommen Asylsuchende in Deutschland?
Die Zahlen enthalten nicht die Geflüchteten, die seit dem vergangenen Jahr aus der Ukraine nach Deutschland gekommen sind. Menschen aus der Ukraine müssen kein Asylverfahren durchlaufen. Sie bekommen nach der Registrierung einen sogenannten Aufenthaltstitel und dürfen damit arbeiten oder Bürgergeld beantragen. Woher kommen die Asylsuchenden aber dann?
Über die Hälfte kommt aus Syrien und Afghanistan. "Etwa 75 Prozent der Asylanträge entfallen auf Länder, in denen entweder Krieg und Bürgerkrieg herrscht oder die besonders stark von politischem Terror betroffen sind", erklärt dazu Herbert Brücker. Häufig falle beides zusammen, Krieg und politischer Terror.
30 Prozent der Asylsuchenden im Oktober aus der Türkei
Überraschend ist jedoch, dass etwa 30 Prozent der Geflüchteten im Oktober türkische Staatsangehörige sind. Menschenrechtsorganisationen und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte [tagesschau.de] warnen, dass sich die Lage in der Türkei besonders seit dem gescheiterten Putschversuch 2016 verschlechtert hat.
"Es gibt Diskriminierung und Verfolgung, das betrifft Minderheiten wie die Kurden aber auch viele Intellektuelle und Akademikerinnen und Akademiker", sagt Brücker. "Häufig kommt es zu Entlassungen, die Erdogan-Regierung hat beispielsweise die Universitäten weitgehend von Andersdenkenden 'gesäubert'. Viele dieser Menschen verlassen das Land und beantragen hier Asyl, aber vergleichsweise wenige bekommen es." Eine Entlassung aus politischen Gründen reiche nicht als Asylgrund. Dafür müsste individuelle Verfolgung aus politischen oder anderen Gründen nachgewiesen werden, so Brücker.
So haben Asylsuchende aus der Türkei laut aktuellen Zahlen des BAMF eine Gesamtschutzquote von nur 14 Prozent im Vergleich zu einer Schutzquote von etwa 87 Prozent bei Geflüchteten aus Syrien.
Geflüchtete aus der Ukraine
Ende 2022 lebten nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (Destatis) etwa 1,05 Millionen Menschen aus der Ukraine in Deutschland, im Juli 2023 waren es nochmal etwa 64.000 mehr. Zum Vergleich: Vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 lebten etwa 151.000 Ukrainierinnen und Ukrainer in Deutschland.
In Berlin hat sich die Zahl der Menschen aus der Ukraine zwischen Dezember 2021 und Dezember 2022 etwa vervierfacht, von 13.640 auf 56.976. Im Verhältnis noch deutlicher und damit ähnlich wie im Bundesschnitt angestiegen sind die Zahlen in Brandenburg. Von 4.194 Menschen Ende 2021 auf 30.281 ein Jahr später, also mehr als das Siebenfache (Quelle: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg).
Die Geflüchteten aus der Ukraine verstärken sogar noch den Effekt, dass die Last nicht auf alle Bundesländer gleich verteilt wird. "Wenn wir die ukrainischen Menschen miteinbeziehen, entfällt auf Berlin ein noch höherer und auf Bayern und Baden-Württemberg ein noch geringerer Anteil. Ukrainische Kriegsflüchtlinge sind unterdurchschnittlich nach Bayern oder Baden-Württemberg gegangen", erklärt Brücker rbb|24.
Rückführungen laut Dublin-Verfahren komplex
Flüchtlinge, die nach Deutschland einreisen, aber bereits in einem anderen EU-Land registriert sind, dürfen laut Dublin-Verfahren dorthin überstellt werden. Doch häufig scheitert das.
Das Dublin-Abkommen sei komplexer als viele annehmen, sagt Brücker. "Es regelt unter anderem, welches Land für die Durchführung der Asylverfahren und anschließend die Schutzgewährung zuständig ist. Das erfolgt aber nicht zwingend nach dem Kriterium, in welchem Mitgliedsstaat zuerst die Außengrenze der EU übertreten wird. Zuerst werden andere, vorrangige Kriterien geprüft: Zum Beispiel, ob es bereits Familienangehörige in einem Mitgliedsstaat oder andere Bindungen gibt. Auf dieser Grundlage wird entschieden."
Auch müssten in dem Dublin-Verfahren Fristen eingehalten werden. Manche Mitgliedsstaaten würden deshalb gezielt versuchen die Verfahren zu verzögern, damit sie nicht zuständig werden. "Das gilt sicher für die Länder an den Außengrenzen wie Griechenland und Italien [tagesschau.de]. Mitunter werden aber auch Vorwürfe erhoben, dass Deutschland das auch betreibt", erklärt der Migrationsexperte.
Mehrheit hat Schutzanspruch
Für diejenigen, die ihren Asylerstantrag in Deutschland stellen dürfen, zeigen Statistiken, dass eine große Mehrheit einen Schutzanspruch hat. "In der ersten Instanz erhalten rund 55 Prozent der Asylerstantragsteller nach der Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge Schutz", erklärt der Direktor des BIM, Brücker. Die Quote steige aber auf dem Instanzenweg. Nach Angaben des Statistischen Bundesamt haben 86 Prozent der Schutzsuchenden, die noch in Deutschland leben und über deren Anträge endgültig entschieden wurde, einen Schutzstatus erhalten.
"Das bedeutet: Die große Mehrheit der Menschen die zu uns kommen, haben legitime Schutzansprüche, die auch von unseren Behörden oder Gerichten rechtlich anerkannt werden", sagt Brücker. "Ein erheblicher Teil dieser Menschen wird in Deutschland bleiben."
Sendung: rbb24 Inforadio, 11.11.2023, 12:30 Uhr