Interview | Obdachlose während der EM - "Ein Turnier hat auch die Wirkung, für ein paar Wochen diverse Problemlagen auszublenden"

Mi 26.06.24 | 17:22 Uhr
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Obdachlose am Bahnhof Zoo in Berlin (Quelle: IMAGO / Schöning)
Bild: IMAGO / Schöning

Während die Fußball-EM bei vielen Menschen in Berlin für Partylaune und Ablenkung sorgt, stehen obdachlose Menschen in dieser Zeit vor besonderen Herausforderungen. Im Interview spricht ein Straßensozialarbeiter über Verdrängung und Stigmatisierung.

rbb|24: Herr Kretschmann, seit knapp zwei Wochen findet die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland statt. In Berlin sind Zigtausende Fans aus ganz Europa auf den Straßen unterwegs, pilgern zum Olympiastadion oder auf die Fanmeile am Brandenburger Tor. Inwiefern ist die EM für obdachlose Menschen ein Thema?

Tino Kretschmann: Natürlich interessiert sich auch unter Obdachlosen ein gewisser Teil für Fußball und für die EM – letztlich sind sie ein Ausschnitt der Gesamtgesellschaft und sehr divers. Es gibt Menschen, die das Turnier verfolgen, wichtig finden, darüber reden und versuchen irgendwie Fußball zu gucken. Und es gibt Obdachlose, die das gar nicht interessiert oder die so stark mit ihrem eigenen Leben beschäftigt sind, dass die EM für sie gar keine Rolle spielt.

Zur Person

Tino Kretschmann ist Diplom-Sozialarbeiter und Pädagoge. Der 53-Jährige lebt seit mehr als 30 Jahren in Berlin. Seit knapp vier Jahren arbeitet er als Straßensozialarbeiter für "Gangway" mit erwachsenen obdachlosen und von Obdachlosigkeit bedrohten Menschen in Berlin im "Team Drop Out Mitte".

"Gangway" wurde 1990 gegründet und unterstützt Menschen in allen Lebenslagen: auf dem Weg aus Sucht oder Gewalt und auf der Suche nach Wohnung und Arbeit. Der Verein ist der größte Träger für Straßensozialarbeit in Deutschland, wird vom Senat und den Bezirksämtern gefördert und durch Spendengelder unterstützt.

Gibt es Angebote und Orte, die speziell an obdachlose Menschen gerichtet sind und an denen die Spiele gemeinsam geschaut werden können?

Ich weiß, dass in der Bahnhofsmission am Hauptbahnhof mindestens ein Spiel der deutschen Nationalmannschaft übertragen wurde. Ich vermute, dass es in den wenigen Tagestreffs, die es in Berlin gibt, hier oder da mal ein Angebot gibt. Den obdachlosen Menschen, die sich Fußball ansehen wollen, bleibt also nichts anderes übrig, als sich mal an einen Späti oder eine Kneipe zu stellen und durchs Fenster zu schauen.

Das Problem ist aber, dass fast alle Angebote damit verbunden sind, dass Geld damit verdient werden soll – und daran können Obdachlose eben nicht richtig teilnehmen. Es gibt zwar auch soziale, nette Kneipenbetreiber, die mal ein Auge zudrücken, wenn da ein Obdachloser mit dabeisitzt. Das ist aber nicht die Regel. Normalerweise sind diese Leute eher unerwünscht. Am besten wäre es natürlich, wenn alle zusammen schauen, obdachlose Menschen teilhaben können und keine Extrawurst bekommen. Denn ansonsten sind sie ja wieder nur unter sich.

Welche Auswirkungen hat die Fußball-EM auf das Leben obdachloser Menschen in Berlin?

Am Hauptbahnhof laufen täglich Lautsprecherdurchsagen, die vor "organisierten Bettlerbanden" warnen. Wir wissen, dass dort vor allem rumänische obdachlose Menschen unterwegs sind, die Zeitungen verkaufen wollen und betteln. Es ist offensichtlich, dass die Deutsche Bahn zur EM der Meinung ist, diese Menschen stigmatisieren und Reisegästen sagen zu müssen, dass den Obdachlosen kein Geld gegeben werden soll. Das finde ich eine Frechheit. Das ist deren Möglichkeit zu überleben.

Schon in den Tagen vor Beginn der EM gab es – insbesondere rund um den Alexanderplatz – Räumungsankündigungen. Insgesamt waren es allein im Bezirk Mitte innerhalb von zwei Wochen 25 Ankündigungen. Da liegt die Vermutung nahe, dass Obdachlose nicht ins Bild passen und vor der EM weggeräumt werden sollten, sodass Touristen ungestört feiern können. Auch wenn das die Politik und das Ordnungsamt in Berlin nie zugeben würden. So ein Turnier hat immer auch die Wirkung, für ein paar Wochen lang diverse Problemlagen auszublenden. Die Leute wollen feiern und Spaß haben – und Obdachlose erinnern einen daran, dass eben nicht alles toll ist.

Zumal es sich da teilweise auch um Platten (Orte, an denen sich obdachlose Menschen für längere Zeit aufhalten und an denen sie meistens auch schlafen; Anm. d. Red.) handelt, die sehr gut funktionieren und an denen die Obdachlosen gut mit der Berliner Stadtreinigung zusammenarbeiten. Es ist nicht so, als wäre es immer und überall nur dreckig und vermüllt. Auch am Hackeschen Markt hat es Schlafplätze von obdachlosen Menschen aus EU-Staaten gegeben, die ebenfalls kurz vor der EM geräumt wurden.

Und an welche Orte gehen diese Menschen dann?

Zum Teil tauchen die Leute nicht wieder auf, manche versuchen ihr Glück in einem anderen Bezirk. Bei manchen Obdachlosen, zu denen wir über lange Zeit Kontakt und Beziehungen aufgebaut haben, besteht meistens eine Möglichkeit, herauszufinden, wo sie sind. Das Problem ist aber, dass viele von ihnen nicht telefonisch erreichbar sind.

Das ist oftmals ein Kreislauf, die Menschen verschwinden ja nicht: Eine Platte wird geräumt, die Leute müssen den Ort wechseln, versuchen, all ihre Sachen mitzunehmen und einen neuen Platz zu finden. Nach einer Räumung kommen andere Menschen an den Platz und es geht wieder von vorne los. Um dieses Problem zu lösen, bräuchten diese Menschen irgendeine Möglichkeit, in einer Wohnung leben zu können. Es fehlt an Wohnraum und einem Willen aus der Politik. Nur die wenigsten Menschen auf der Straße sagen, dass sie auf keinen Fall wieder in eine Wohnung ziehen wollen und dass sie glücklich darüber sind, draußen zu wohnen.

Ist es während der EM bislang zu Auseinandersetzungen zwischen Fußball-Fans und Obdachlosen gekommen, von denen Sie mitbekommen haben?

Natürlich gibt es Fans, die gerne mal leicht betrunken unterwegs sind, um es vorsichtig auszudrücken. Es gibt unter ihnen auch welche, die rassistisch sind. Bislang habe ich in Zusammenhang mit der EM aber noch von keinen Vorfällen etwas mitbekommen. Manchmal kommt so etwas aber auch erst etwas später heraus.

Spricht etwas dafür, dass sich die Situation für Obdachlose in Berlin nach der Europameisterschaft wieder etwas entspannt?

Dieses Verdrängungsphänomen läuft unabhängig von der EM weiter. Wir nehmen da eine klare Tendenz wahr. Wir haben das Gefühl, dass es immer häufiger heißt: Weg mit denen! Und dass die obdachlosen Menschen aus den Innenstadtbereichen in Randgebiete getrieben werden. Vermeintlich geht es dabei um Ordnung und Sicherheit - das ist aber ein ganz seltsamer Ordnungs- und Sicherheitsbegriff.

Wir sehen das in Berlin zum Beispiel auch auf der U-Bahn-Linie 8. Da wird behauptet, es ginge um Sauberkeit, am Ende geht es aber um Menschen, die stören und verdrängt werden - mit allen Problemlagen, die dazugehören. Gott sei Dank ist es bei uns aber noch nicht so schlimm wie in Frankreich, wo in Vorbereitung auf die Olympischen Sommerspiele viele Tausende aus Paris in die Provinz gebracht werden [spiegel.de]. Das wird da rigoros durchgezogen - und ganz so schlimm ist es in Berlin noch nicht. Wir haben aber die Befürchtung, dass sich die Stimmung immer weiter in diese Richtung entwickelt.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Anton Fahl.

13 Kommentare

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  1. 13.

    Zitat: "Hier gab es nie Obdach- oder auch Arbeitslose. Aber diese Zeit wird schon mal gerne ausgeblendet."

    Was Sie ausblenden ist, dass es in der DDR im Strafgesetzbuch den sog. "Asozialenparagraph" gab, demzufolge Menschen Aufenthaltsbeschränkungen unterlagen, zwangsweise einquartiert, unter Erziehungsaufsicht gestellt wurden oder ins Gefängnis bzw. Jugendwerkhöfe kamen, David Weber.

  2. 12.

    Mit "eigentlich müsste niemand..." löst man aber keine Probleme. Fakt ist, es gibt trotzdem Obdachlose, Süchtige, psychisch Kranke....
    Soll man da jetzt alle Hilfen einstellen, weil es diese Menschen ja nicht geben müsste? (Ist jetzt allgemein gestellt, nicht bezogen auf ihren Post.)
    Verdrängung allein reicht auch nicht. Die Menschen lösen sich nicht in Luft auf, sie wechseln nur den Ort. Nur leider mangelt es an Orten, wo sie sein dürfen. Schauen Sie mal unter die Brücken, neben die Autobahnen, in Grünstreifen und Parks. Welches Konzept gibt es denn, außer Verdrängung.
    Eine Gesellschaft ist nur so gut und sozial, wie sie sich um die Schwächsten kümmert. Mittel gäbe es, allein der Wille fehlt.

  3. 11.

    Mit Ihren Kommentar haben Sie völlig Recht.
    Wenn jemand zu nichts mehr in der Lage ist oder absolut nicht will bringt alle Hilfe nichts.
    Eigentlich müsste niemand obdachlos sein.
    Wir leben immer noch in ein guten sozialen Staat.
    Nur machen muss man schon.

  4. 10.

    Wer im Osten nicht arbeiten wollte, kam in den Knast. Aber das unterschlagen viele DDR-Freunde.

  5. 9.

    "Erstaunlich finde ich es, dass neuerdings Demokratien auf den gleichen Zug aufspringen"

    Demokratien springen sogar alle zwei Jahre (EM&WM) auf den gleichen Zug auf. Verrückt, nicht wahr?!

  6. 8.

    Man muss auch nicht mit jedem Menschen Mitgefühl haben. Aber dass Obdachlose am Ende der Fahnenstange angekommen sind, steht wohl außer Frage. Jedes Schicksal ist ein Einzelschicksal, manche hatten Pech, manche konnten sich nicht mehr um ihre eigenen Belange kümmern, nicht mal mit Unterstützung, oft spielen Sucht und psychische Erkrankungen eine Rolle. Die Ursachen sind vielfältig.
    Wenn dann politisch und gesellschaftlich immer weiter am sozialen Gefüge geschraubt wird, wenn immer restriktiver gegen Menschen gehandelt wird, gerade gegen sie sozial schwachen und schwächsten, wenn immer mehr eingespart wird an sozialer Arbeit usw. dann verschärft man die Probleme, sie werden zunehmend als Gefahr dargestellt, als "das muss weg". Aber die damit verbundenen Probleme verschwinden nicht, sie werden nur verlagert und es entstehen Orte, an die man dann nicht mehr gehen will. Den betroffenen Menschen ist aber auch nicht geholfen.

  7. 7.

    "Obdachlose haben immer zum Stadtbild Berlins gehört" - stimmt so nicht. Es gab von 1949 - 1990 ein Teil von Berlin, Hauptstadt der DDR oder auch vom "Westen" Ostberlin genannt. Hier gab es nie Obdach- oder auch Arbeitslose. Aber diese Zeit wird schon mal gerne ausgeblendet.

  8. 6.

    Typisch Deutsch. Seinen Mitmenschen blos keinen Spaß gönnen. Sobald Menschen in D Spaß haben, kommen sofort die Berufs-Mahner und Chef-Ankläger mit dem erhobenen Zeigefinger.

  9. 5.

    Tja, Brot und Spiele. Kannten schon die alten Römer.
    Auch in Diktaturen beliebt.
    Erstaunlich finde ich es, dass neuerdings Demokratien auf den gleichen Zug aufspringen.
    Was soll denn eigentlich verdrängt werden? Oder vernebelt, durch die Cannabisfreigabe?

  10. 4.

    Den Gedanken, dass sich die Stimmung weiter zu einem 'weg damit' entwickelt habe ich auch. Und inzwischen denke ich das auch. Obdachlose haben immer zum Strassenbild Berlins gehört und oft habe ich ihnen auch etwas zukommen lassen. Seit ca 10 Jahren hat sich viel verändert. Es sind völlig abgewrackte drogensüchtige aggressive Bettler geworden und zwar in großer Zahl an den bekannten Treffpunkten. Vor 10 Jahren konnte man mit dem Enkelkind noch über den Leopoldplatz zum neuen Spielplatz gehen, ein paar Obdachlose sassen ein Stück weiter, waren angedödelt und haben gern mal ne fanta angenommen. Jetzt muss man den Platz weiträumig umgehen, weil unerträglich. Noch schlimmer der Hardenbergplatz mit seinen Bushalten. Alles verdreckt, der Aufzug zur Ubahn stinkt schlimmer als jede ungeputzte Toilette, als älterer Mensch kann man sich nicht im Wartehäuschen setzen weil alle bewohnt sind. Glassplitter überall und aggressives distanzloses Betteln. Da habe ich kein Mitgefühl mehr.

  11. 3.

    das ist traurig aber wahr - die meisten von Ihnen sind psychisch und körperlich gar nicht in der Lage etwas zu ,,unternehmen'':

  12. 2.

    Ich habe persönlich Jemanden 2 Jahre begleitet, um ihn vor Obdachlosigkeit zu bewahren. Nach Feierabend und Pflege meiner Eltern, hab soviel Zeit und Emotion darin investiert, weil der Betroffene völlig untätig war, keine Briefe mehr geöffnet hat, keine Gespräche wahrgenommen oder auch angenommen hat, hatte mehrfach mit der WBG Ratenzahlung vereinbart, für 20 € pro Monat als Zeichen des guten Willens. Null Eigeninitiative, ich war dann aufgrund des Jobs, Familie, Haushalt, Pflege auch irgendwann überfordert und hab es aufgegeben. Aber ich habe in zahlreichen Gesprächen mit Behörden etc.viel Entgegenkommen gehabt, aber wenn der Betroffene keinerlei Mitwirken zeigt, ist alles verloren. Konnte dann die Obdachlosigkeit nicht mehr verhindern. Möglichkeiten gab es Viele. Von daher hält sich mein Mitleid da auch in Grenzen. Ich glaube, Niemand muß hier obdachlos sein , man muss nur Hilfe aktiv suchen und annehmen.

  13. 1.

    Ich bin nach wie vor der Meinung, dass niemand, der es nicht will (denn sowas gibt es ja auch) auf der Straße leben muss.

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