Interview | Musical "Irena" - Kann man über den Holocaust singen und tanzen?

Fr 03.05.24 | 06:06 Uhr
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Irena Sendler am 30.05.2005. (Quelle: AP/Czarek Sokolowski)
Bild: AP/Czarek Sokolowski

Sie schmuggelte tausende jüdische Kinder aus dem Warschauer Ghetto und rettete so ihr Leben: Irena Sendler. Ein Musical im Admiralspalast erzählt nun ihre Geschichte. Bei der Aufführung wird auch Elzbieta Ficowska, eines der geretteten Kinder, dabei sein.

rbb: Frau Ficowska, Sie wurden im Warschauer Ghetto geboren und von Irena Sendler vor den Nazis gerettet. Welche Bedeutung hat die Protagonistin des Musicals "Irena" für Sie?

Elzbieta Ficowska: Irena hat eine große Bedeutung für mich, weil ich sie mein ganzes Leben lang kannte. Sie war eine wunderbare Frau mit Charakter, sie war sehr entschlossen. Wäre sie anders gewesen, hätte sie nicht tun können, was sie tat. Sie wusste, was sie wollte, und sie wusste, wie sie es erreichen konnte.

Zur Person

Elzbieta Ficowska, als Kind aus dem Warschauer Ghetto gerettet, 2024 im Interview. (Quelle: rbb)
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Elżbieta Ficowska wurde 1942 als Kind jüdischer Eltern im Warschauer Ghetto geboren. Das Netzwerk von Irena Sendler schmuggelte sie als 6 Monate altes Baby aus dem Ghetto. Eine der Helferinnen nahm das kleine Mädchen bei sich auf und gab es als eigene Tochter aus. Erst als Teenager erfuhr Elżbieta Ficowska von ihren leiblichen Eltern, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden. Die Zeitzeugin engagiert sich im polnischen Verein "Kinder des Holocaust".

Das Musical erzählt die heldenhafte Geschichte von Irena Sendler, die auch Ihre Rettung organisierte, als Sie sechs Monate alt waren und Sie bei einer Pflegemutter unterbrachte.

Irena Sendler hat immer gesagt, sie sei keine Heldin. Das hat meine Mutter auch gesagt. Sie haben einfach das getan, was jeder anständige Mensch in dieser Situation tun sollte. Es war also nichts Außergewöhnliches dabei. Aber natürlich war es das, denn man musste schon ein Held sein, um sich und seine ganze Familie in Todesgefahr zu bringen, nur um einen anderen Menschen zu retten. Irena sah das nicht so. Sie hatte keine Angst. Und meine Mutter auch nicht.

Können Sie uns etwas über Ihre Rettung erzählen?

Ich bin angeblich das jüngste Kind, das in dieser Zegota-Aktion, der Aktion zur Rettung von Kindern, gerettet wurde. Ich weiß, dass eine Holzkiste mit Atemlöchern zugenagelt wurde. Und es gab einen Bestatter, der Ziegelsteine aus dem Ghetto holte. Er hat die Kiste genommen und sie auf einen Karren zwischen die Ziegelsteine gelegt. So kam ich auf die "arische" Seite und lebte viele Jahre friedlich und glücklich, ohne eine Ahnung von meiner Vorgeschichte zu haben. Meine Pflegemutter war darauf bedacht, dass ich es nicht erfahre. Sie hat mich sehr geliebt.

Wie haben Sie von Ihrer Geschichte erfahren?

Ich habe eine offizielle Geburtsurkunde, die meine Pflegemutter nach dem Krieg gemacht hat, als die Ämter ein Chaos waren. Und in dieser Urkunde bin ich die Tochter meiner Pflegemutter, als Vater ist ihr zweiter Mann eingetragen. Der ist aber zwei Jahre vor meiner Geburt gestorben. Das habe ich entdeckt, als ich mit meiner Pflegemutter an seinem Grab auf dem Friedhof war. Ich war damals 14 Jahre alt.

Die wahre Geschichte

Irena Sendler (1910-2008) war eine polnische Sozialarbeiterin. Während des Zweiten Weltkriegs unterstützte sie heimlich jüdische Familien im Warschauer Ghetto. Sie schmuggelte Essen und Medikamente ins Ghetto hinein - und jüdische Kinder heraus: versteckt in Kisten, unter Müll, in Säcken.

Für ihr Leben auf der "arischen" Seite bekamen die Kinder christliche Namen und gefälschte Einträge ins Kirchenregister, damit sie in ihren katholischen Pflegefamilien und bei Nonnen in Waisenhäusern nicht auffielen. Zusammen mit einem Netzwerk an Helferinnen gelang es Irena Sendler, 2.500 Kinder vor dem sicheren Tod durch Hunger oder Vernichtung im Konzentrationslager zu retten.

Für ihre Taten riskierten die Polinnen ihr Leben: Juden zu helfen, bestraften die Nazi-Besatzer mit dem Tod. 1943 entging Irena Sendler nur knapp der Hinrichtung durch die Gestapo. 1965 ehrte Yad Vashem in Jerusalem sie als Gerechte unter den Völkern.

 

Wissen Sie, was mit Ihren leiblichen Eltern passiert ist?

Sie sind gestorben. Meine Mutter ist in Poniatowa im Lager gestorben. Sie war erst 24 Jahre alt, als sie ermordet wurde. Mein Vater hat angeblich am Umschlagplatz gesagt, dass er nicht in den Zug einsteigen will, weil er seine kleine Tochter zurückgelassen hatte. Und dann wurde er erschossen.

Es sind diese tragischen Schicksale, die nun auch im Musical "Irena" gezeigt werden. Was halten Sie davon, dass diese Geschichten mit Gesang und Tanz auf die Bühne gebracht werden?

Irgendwo in meinem Inneren habe ich mir gedacht: Wie kann man über den Holocaust singen und tanzen? Es stellt sich heraus, dass man das kann. Es gibt in dem Stück ein sehr gut geschriebenes Libretto. Es ist eine großartige Aufführung und ich habe sie mir mit Genugtuung angesehen.

Die Tatsache, dass es sich um eine Form der Popkultur handelt, ist eine gute Sache. Sie kommt bei den Menschen an. Es ist wichtig, dass es alle erreicht. Denn Geschichtsinteressierte, die historische Studien lesen, gibt es nicht mehr viele. Und der Rest von uns weiß nicht viel über den Holocaust.

Auch Sie selbst sind Teil der Aufführung.

Der Regisseur hat darum gebeten, dass ich am Ende des Musicals auf die Bühne gehe, damit das Publikum sehen kann, dass es keine bloße Geschichte ist. Ich komme als eine Person heraus, die in diesem Musical lebt und sich plötzlich materialisiert. Diese Person ist da, sie lebt. Man kann sie berühren, kneifen, fragen – und sie wird antworten.

Irena Sendler (Polnische Widerstandskämpferin im 2. Weltkrieg) mit ihrer Tochter Janina 1949. (Quelle: Imago Images)
Irena Sendler (Polnische Widerstandskämpferin im 2. Weltkrieg) mit ihrer Tochter Janina 1949.Bild: Imago Images

Bislang wurde das Musical nur in Polen gezeigt. Wie ist es für Sie, dass die Aufführung nun auch nach Deutschland kommt?

Ich erlebe immer wieder, dass junge Deutsche Schuldgefühle gegenüber ihren Vorfahren haben. Sie brauchen keine Schuldgefühle haben, aber sie müssen wissen, was passiert ist. Und ich vermute, es gibt viele, die es nicht wissen.

Man kann nicht verzeihen, denn nur die Opfer können verzeihen. Und die Opfer sind nicht mehr da. Ich habe also kein Recht, den Deutschen zu verzeihen, was sie meiner Familie angetan haben. Andererseits habe ich mich immer erfolgreich gegen den Hass gewehrt. Es ist kein Hass in mir, und ich schaue mit Zärtlichkeit und Mitgefühl auf diese jungen Menschen, die sich immer noch schuldig fühlen, obwohl sie sich nicht schuldig fühlen sollten.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Anne Kohlick für rbbKultur - das Magazin.

Sendung: rbbKultur – das Magazin, 04.05.2024, 18:30 Uhr.

5 Kommentare

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  1. 5.

    Sehr bewegend. Danke für diesen Beitrag.

  2. 3.

    Sehr sehr schade, dass die stillen Helden erst so spät Dank und Anerkennung bekommen. Wenn überhaupt.
    Vor kurzem kam der Kino Film „One Life“ heraus. Dieselbe Thematik, andere Figuren, andere Schauplätze. Großartig von Anthony Hopkins gespielt.
    Ein Dankeschön von Herzen an alle stillen Helden !

  3. 2.

    Egal, wie geschichtsvergessen gerne viele Menschen hier sein wollen. Es muss erinnert werden, damit es nicht noch mal passiert. Wir nachgeborenen Deutsche sind nicht mehr Schuld am Holocaust und den 3.Reich, aber tragen die Schuld, wenn wir es zulassen, dass es verleugnet, relativiert und wiederholt wird!
    Danke den Menschen, die nicht schweigen!

  4. 1.

    Berührend.

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