Wiedereröffnung im Hamburger Bahnhof - Das Riesenpotential der Rieckhallen

Fr 06.09.24 | 17:30 Uhr | Von Marie Kaiser
Ausstellung "Keep Walking" in Hamburger Bahnhof. (Quelle: Hamburger Bahnhof/Jacopo La Forgia)
Audio: radioeins vom rbb | 06.09.2024 | Anne Spohr | Bild: Hamburger Bahnhof/Jacopo La Forgia

Nach der Rettung vorm Abriss starten die Rieckhallen im Hamburger Bahnhof noch einmal neu. Mit Kunst aus dem Friseursalon, Diskomusik und einem gigantischen Gemälde, auf dem alle herumspazieren dürfen. Von Marie Kaiser

Ein Meer aus farbigen Papierstreifen bedeckt den gesamten Boden des Raumes in den wieder eröffneten Rieckhallen. Über 20 Meter lang schlängeln sich die Streifen neben- und übereinander. Manche kräuseln sich und wölben sich nach oben wie kleine Wellen in Pink, Türkis, Schwarz oder leuchtendem Rot. "Float" (Floß), so heißt diese bodenbedeckende Mischung aus Malerei und Installation, an der der kalifornische Künstler Mark Bradford wochenlang gearbeitet hat.

Die Kunst muss auf dem Boden liegen

Normalerweise hängen Gemälde an der Wand und wir müssen Abstand halten, sonst geht der Alarm los. Mark Bradford will mit seinem begehbaren Gemälde aber nicht die Regeln, die sonst im Museum herrschen, radikal in Frage stellen. "Ich habe nicht über das Museum nachgedacht. Ich habe nicht über die Konservatoren nachgedacht. Eigentlich bin ich ein traditioneller Maler und die meisten Arbeiten, die ich mache, hängen an den Wänden", erklärt der Künstler. Als er den riesigen Raum in den Rieckhallen gesehen habe, wusste er, "dieses Kunstwerk muss auf dem Boden liegen".

Ausstellung "Keep Walking" in Hamburger Bahnhof. (Quelle: Hamburger Bahnhof/Jacopo La Forgia)
Die Ausstellungsfläche in den Rieckhallen umfasst über 1000 Quadratmeter | Bild: Hamburger Bahnhof/Jacopo La Forgia

Ein wackliger Spaziergang mit Stolperfallen

Die Streifen bestehen aus alten Plakaten, Flyern oder Schnüren, die der Künstler auf seinen Spaziergängen durch seine Heimatstadt Los Angeles gefunden und in seinem Studio zusammengeklebt und bemalt hat. Aufgerollt zu Bündeln so groß wie Heuballen, hat Mark Bradford sie schließlich nach Berlin gebracht. Nun ist das Werk vollendet und jeder darf darauf herumspazieren.

Doch wie ein Spaziergang fühlt sich das in Wahrheit gar nicht an. Der Boden unter den Füßen ist wackelig und unsicher. Manchmal bleiben einzelne Papierstreifen an den Schuhen hängen und werden zu Stolperfallen. Genau um diese Erfahrung geht es Mark Bradford. "Wir sollten uns alle bewusst sein, worauf wir stehen. Wir stehen nicht auf festem Boden. Man muss aufpassen, wo man hintritt. So ist das Leben, nicht wahr?", sagt der Künstler im Interview mit rbb|24.

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Materialien aus dem Alltag

Auch wenn seine Kunst oft abstrakt daher kommt, wie der riesige Flickenteppich aus Papierstreifen, schöpft Mark Bradford immer wieder aus dem, was er selbst erlebt hat. Mark Bradford ist als schwarzer Junge in Los Angeles aufgewachsen. Seine Mutter arbeitete in einem Friseursalon, wo er von ihr das Friseurhandwerk lernte, bevor er Künstler wurde. In einem seiner ersten Gemälde hat der Künstler auch Material aus dem Alltag eines Hairstylisten verwendet. Sogenannte "end papers", also Spitzenpapiere, die beim Legen einer Dauerwelle als Hitzeschutz um die Haarsträhnen gelegt werden. Auch in den Rieckhallen sind jetzt großformatige Bilder mit diesen Spitzenpapieren zu sehen, die einander überlagern und an den Rändern ein wenig angekokelt aussehen.

Als schwuler Mann hat Mark Bradford in den 1980er Jahren die Nachtclubs für sich entdeckt und die Aids-Krise hautnah miterlebt. 27 vom Künstler bemalte Schallplattenhüllen hängen an den Wänden. Jede steht für einen Freund, den er durch Aids verloren hat. "Wir waren alle zusammen in den Nachtclubs. Ich hab sie auf der Tanzfläche getroffen und sie dort auch wieder verloren", sagt Mark Bradford. Und so tönt auch die Discomusik vergangener Jahrzehnte jetzt durch die Rieckhallen.

Mark Bradford. (Quelle: Courtesy der Künstler und Hauser & Wirth)Mark Bradford verarbeitet viele Einflüsse aus seinem Leben in seinen Kunstwerken

"Keep walking" - "Bitte weitergehen" ist der Titel einer Ausstellung, die auch die Frage stellt, wie gefährlich es zum Beispiel für einen schwarzen Mann ist, durch die Straßen von Los Angeles zu laufen. Wie wird er wahrgenommen? Wie sicher ist der Boden unter seinen Füßen? Bradford greift diese Fragen in einem kurzen Video auf, das an eine Filmszene mit Marilyn Monroe aus dem Film "Niagara" erinnert. Ein junger schwarzer Mann ist nur von hinten zu sehen. Im weißen Tanktop und gelben Shorts läuft er minutenlang einen Bürgersteig in Los Angeles entlang.

Ich hab sie auf der Tanzfläche getroffen und sie dort auch wieder verloren.

Mark Bradford, Künstler

Die Rettung der Rieckhallen

Doch Mark Bradfords "Keep walking" passt auch perfekt zu den Rieckhallen mit dem scheinbar endlos langen Flur, die der Hamburger Bahnhof vor zwei Jahren fast verloren hätte. Ein Investor wollte die ehemaligen Lagerhallen abreißen lassen, um hier Eigentumswohnungen zu bauen. In letzter Minute sprang das Land Berlin im November 2022 ein, kaufte das Gelände zurück und sicherte dem Hamburger Bahnhof damit 3.000 Quadratmeter Ausstellungsfläche.

Nach dem Verlust der Sammlung Flick wurden die Rieckhallen 16 Monate lang umgestaltet. Neue Klimatechnik und Beleuchtung wurde installiert. In der Mitte wurden eigene "Rieckhallen-Ateliers" für Kinder-Workshops eingerichtet. Auf der Hälfte der Fläche im hinteren Teil werden nun unter dem Titel "Museum in Bewegung" besonders große zeitgenössische Arbeiten und Installationen aus der eigenen Sammlung der Neuen Nationalgalerie und aus der Bundeskunstsammlung präsentiert.

Ausstellung "Keep Walking" in Hamburger Bahnhof. (Quelle: Hamburger Bahnhof/Jacopo La Forgia)Die Ausstellung von Bradford ist die erste in den Rieckhallen

Der vordere Teil der Rieckhallen wurde zu einer Galeriefläche von 1.300 Quadratmetern umgebaut, in der jetzt regelmäßig Sonderausstellungen zu sehen sein werden. Die Ausstellung von Mark Bradford macht den Anfang und zeigt mit einer von den riesigen Rieckhallen inspirierten Arbeit wie dem raumfüllenden Bodengemälde "Float" schon das Riesenpotential, das diese riesigen Hallen entfalten können. Neun Monate wird es nun dort am Boden liegen und von tausenden Menschen betreten werden.

Hat Mark Bradford keine Angst, dass es allzu sehr beschädigt werden könnte? Die Antwort ist eindeutig: "Nein, das gehört doch dazu. Ich sehe es als ein lebendiges Werk. Jeder, der darauf herumläuft, verändert es dadurch ein bisschen und wird selbst zum Teil des Werks." Die Arbeit bekomme eine lebendige Geschichte. Vor allem freue er sich darauf, sich sein Kunstwerk am Ende der Ausstellungszeit anzuschauen.

Sendung: Radioeins, 06.09.2024, 11:55 Uhr

Beitrag von Marie Kaiser

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