Widerstandskämpferin Ruth Andreas-Friedrich - Die Frau, die "Nein" sagte
Sie half Juden im Untergrund, stemmte sich gegen die Verrohung, dokumentierte den Untergang des Dritten Reichs und seiner Hauptstadt. Ruth Andreas-Friedrich war kühn, modern und eigensinnig. Vor 120 Jahren wurde die große Berlinerin geboren. Von Oliver Noffke
Mit Kreide malt sie die vier Buchstaben auf einen Briefkasten. N-E-I-N. Dann auf Gartentore, Litfaßsäulen, Telegraphenmasten. Nein, Nein, Nein. Die Nacht ist schwarz, der Mond scheint nicht. Während der letzten Kriegsmonate haben die Berliner Elektrizitätswerke bis in die Morgenstunden den Betrieb unterbrochen. Ihr Kumpane schmiert den Protest mit roter Ölfarbe an Schaufenster und Häuserwände. N-E-I-N. Das Meisterstück gelingt den beiden kurz vor Sonnenaufgang. Sie sehen ein Parteiplakat am Rathausplatz. "Die Juden sind unser Unglück", steht darauf. N-E-I-N suppt es schließlich von dem Plakat.
In der Nacht vom 18. auf den 19. April 1945 huscht Ruth Andreas-Friedrich gemeinsam mit Walter Seitz durch das dustere Berlin. Die Stadt liegt in Trümmern. Der Gefechtslärm der Sowjetarmee rückt Tag für Tag näher. Es ist vorbei, ist sich die Journalistin sicher. Nun müsse das auch in die Köpfe der anderen.
Die Aktion ist koordiniert. Etwa ein Dutzend Freunde, die wie Andreas-Friedrich und Seitz zur Widerstandsgruppe "Onkel Emil" gehören, schmieren ihren Protest in Steglitz, Schöneberg, Friedenau und Wilmersdorf an die Wände. Weitere Gruppen sind in der ganzen Stadt aktiv. Wie einen Rausch aus Adrenalin und Todesangst beschreibt sie in ihren Tagebuchaufzeichnungen die Nacht. Die Freude, den Nazis den nächsten Tag zu verderben; oder das Schreckmoment, als die Schritte einer Nachtpatrouille zu hören sind. "Schwerfällig stampfen die eisernen Soldatenabsätze das Pflaster. Der Zipfel eines Mantels streift mein Knie. Ich halte den Atem an. Dem Himmel sei Dank, sie haben uns nicht entdeckt."
Dokument über das Leben im Berliner Untergrund
Es sind Szenen wie diese, die nach dem Krieg den Amerikanern vor Augen führen, dass Widerstand im Dritten Reich möglich war. Dass es eben nicht nur die sogenannten "good Germans" gab, also die Hitler-treuen Mitläufer. 1947 erscheint ihr Tagebuch unter dem Titel "Berlin Underground" zuerst in den USA. Später wird es in Deutschland unter dem Titel "Der Schattenmann" verlegt. Ruth Andreas-Friedrich hätte es gern "Nein!" genannt. Aber ihr Verleger war dagegen. Mehrfach erwähnt sie darin die Hoffnung, das Ausland möge erkennen, dass es nicht nur Schurken in Deutschland gab und wie schwierig es im Widerstand war.
Beginnend im Herbst 1938 beschreibt die Autorin darin das Leben in Berlin. Die Jagdszenen während der Novemberpogrome. Den Ekel, den ihr die Nazis von nebenan einflößen. Die Gefühlskälte, mit der viele die Repressionen gegen die Juden hinnehmen. Und vor allem, wie ihre jüdischen Freunde mit den Verboten und Einschränkungen zu kämpfen haben. Wie Menschen abgeholt werden und einfach verschwinden. Wie andere versuchen alles zu verkaufen, um doch noch irgendwie lebendig ins Ausland zu gelangen. Wie es immer schwerer wird, denen zu helfen, die sich im Untergrund verstecken.
Von der Freiheit der Zwanziger ins Dunkel der späten Dreißiger
Der Historiker Wolfgang Benz ist seit Jahren von der Gruppe "Onkel Emil" fasziniert. "Das Besondere an den Leuten von der Gruppe 'Onkel Emil' war, dass sie auf Augenhöhe mit ihren jüdischen Schützlingen umgegangen sind. Dass da der Höhenunterschied zwischen Rettern und zu Rettenden nicht vorhanden war. Das ist ganz einmalig." Im vergangenen Jahr arbeitete er das Wirken der Widerstandsgruppe in dem Buch "Protest und Menschlichkeit" auf. Ohne das Buch der Journalistin wäre dies nicht möglich gewesen. "Das ist die nicht anzweifelbare erste Quelle", sagt er.
Ruth Andreas-Friedrich war einer der Fixpunkte der Gruppe, ihre Wohnung am Hünensteig 6 ein zentraler Treffpunkt. Dort lebte sie mit ihrer Tochter Karin aus erster Ehe. In der Wohnung darüber wohnte ihr Lebensgefährte, der russischstämmige Dirigent Leo Borchard. Diese Konstellation entsprach dem Wunsch von Ruths erstem Mann, Otto Andreas Friedrich, dem späteren Präsidenten des westdeutschen Arbeitgeberverbands.
Otto und Ruth heiraten 1924. Gerade als in Berlin die sogenannten Goldenen Zwanziger heißlaufen. Die junge Frau lässt sich mitreißen vom Aufbruchsgefühl nach Krieg und Wirtschaftskrise. Sie stürzt sich ins Nachtleben, schneidet sich die Haare nach der Mode kurz und – fasziniert von John Eskins Roman "Adam und Eva" - entdeckt, dass Monogamie nicht ihrem Naturell entspricht. Sie liebt Otto aufrichtig, aber animiert ihn auch zu Abenteuern. Er verliebt sich in eine andere. Ein Moment, der sich in ihrem Leben wiederholen wird.
1930 wird die Ehe geschieden, die gemeinsame Tochter ist da fünf Jahre alt. Ruth behält den Namen Andreas-Friedrich, im Ullstein-Verlag beginnt sie eine erfolgreiche Karriere als Redakteurin einer Frauenzeitschrift.
Die Machtübernahme durch Hitler und die NSDAP schockiert sie sehr. Als die Gängelungen und Repressionen beginnen, helfen Ruth und Leo Borchard Freunden oder Bekannten und auch deren Angehörigen. Über die Kriegsjahre wächst die verschworene Gruppe an. Im Buch "Der Schattenmann" versteckt Ruth Andreas-Friedrich fast alle Personen hinter Pseudonymen.
Einige sind leicht zu entziffern, andere Identitäten hingegen werden wohl nie geklärt werden können, wie Benz sagt. Harald Poelchau, der als Gefängnispfarrer Hunderten Menschen in der Hinrichtungsanstalt Plötzensee in ihren letzten Momenten beistand, gehört etwa zur Gruppe. Im Buch bekommt der den Namen "Doktor Tegel" zugeschrieben.
Der Coup: das Flugblatt der Weißen Rose
Beim Lesen erscheint es fast, als sei das Buch eine persönliche Würdigung für Leo Borchard. Er überlebt den Krieg, wird aber im August 1945 aufgrund einer unglücklichen Verwechslung von US-Soldaten erschossen. Im Buch heißt er Andrik Krassnow.
Ein echtes Tagebuch sei es allerdings nicht, sagt Historiker Benz. "Sie hat ja dieses Buch in Windeseile im Herbst 45 als Botschaft an die Nachwelt geschrieben." Für seine eigenen Recherchen hat Benz die Angaben im Buch mit den Biografien der verschlüsselten Figuren verglichen. "Auf diese Weise kann ich auch als Historiker bezeugen: Das ist zu 90 Prozent alles wahr und richtig. Da ist nicht gelogen worden. Das Interessante ist eher, was weggelassen wurde." Dass Borchard, mit dem sie ebenfalls eine offene Beziehung führt, im Frühjahr 1945 eine andere heiratet, ist im Buch zum Beispiel nicht zu lesen.
Nichtsdestotrotz sei Ruth Andreas-Friedrich eine Lichtgestalt gewesen, so der Historiker. Er hat Recht. Schon allein, weil es ihr und der Gruppe "Onkel Emil" gelingt, eines der Flugblätter der Weißen Rose zu ergattern, dutzendfach abzutippen, zu verteilen und noch während des Kriegs ins Ausland zu schmuggeln.
Nach dem Krieg bleibt die Journalistin noch drei Jahre in Berlin. Auch diese Zeit dokumentiert sie später im Stile eines Tagebuchs ("Schauplatz Berlin"). Das Leben zwischen Trümmern, Hunger, Vergewaltigungen, Kältewinter, Die Stadt im Griff der Weltmächte, die rücksichtslose Formung der SED, an der die SPD im russischen Sektor zerrieben wird, sind die detailreichen Themen dieser Stadthistorie.
Berlin verwehrt ihr eine erste Ehrung
Der Mann, mit dem sie N-E-I-N in die Steglitzer Nacht pinselte, Walter Seitz, wird 1948 an die Universität München berufen. Sie geht mit ihm, beide heiraten. Als Berlin Ende der Fünfziger beginnt, seine "Unbesungene Helden" zu ehren – Menschen, die sich während des Nationalsozialismus gegen das Regime gestellt haben - wird Andreas-Friedrich eine Erwähnung verwehrt. Sie lebe jetzt nun mal nicht mehr in Berlin, so die Verwaltung lapidar. Heute trägt hingegen neben einer Gedenktafel in Steglitz auch eine Parkanlage in der Nähe des Botanischen Gartens ihren Namen. Auch die offene Beziehung mit Seitz endet damit, dass Ruth Andreas-Friedrich verlassen wird. Woraufhin sie sich 1977 das Leben nimmt.
Sie war eine Frau, die der Welt mitgeteilt hat, was Menschlichkeit für sie bedeutet. Dabei war es ihr offensichtlich stets wichtig, die Kontrolle über die eigene Erzählung zu behalten. Dies verdeutlicht auch ein Telefonat mit ihrer Enkelin. Dass ihre Großmutter vor 120 Jahren geboren wurde, ist klar. Ob es aber wirklich exakt der 23. September gewesen sei, nicht unbedingt. Im Sternzeichen Jungfrau zu sein, habe nicht zum Selbstbild von Ruth Andreas-Friedrich gepasst. Waage hingegen schon.