Meinung | Präsidentschaftswahl in der Türkei - Warum die Hälfte der Berliner Türken Erdogan gewählt hat

Mo 29.05.23 | 13:45 Uhr | Von Cem Dalaman
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Der Türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan spricht nach seinem Wahlsieg. (Quelle: dpa/E. Sansar)
dpa/E. Sansar
Video: rbb24 Abendschau | 29.05.2023 | P. Höppner | Im Gespräch: Dr. Z. Yanasmayan | Bild: dpa/E. Sansar

Im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Metropolen hatte der alte und neue türkische Präsident Erdogan in Berlin die Nase vorn. Sein Fan-Lager in der deutschen Hauptstadt ist groß. Ein Erklärungsversuch von Cem Dalaman.

Es waren Wahlen in der Türkei, und seit nun 21 Jahren ist es am Ende wie immer: Recep Tayyip Erdogan ist der Sieger. Erdoğan hat gewonnen, weil seine Anhänger, auch in Berlin, Angst vor Veränderungen haben. Und weil er ihnen erfolgreich eingehämmert hat, dass er wie ein Vater für sie sorgt.

Der Staat, das bin ich. "Ich habe für euch Autobahnen, Brücken, Moscheen, Flughäfen und Krankenhäuser gebaut", erzählte er immer wieder während der Wahlphase. Dreispurige Autobahnen, moderne Krankenhäuser, Strom und Internet in den Dörfern, das mag in Deutschland eine Selbstverständlichkeit sein; Erdogan verkauft es als Zeichen seiner islamisch begründeten Fürsorge. Und das gelingt ihm auch bei seinen Anhängern in unserer Stadt, die dann im Sommerurlaub nur die positiven Ergebnisse seiner Politik wahrnehmen und nicht die wirtschaftlich-politischen Einschränkungen.

Viele fühlen sich von der deutschen Politik nicht abgeholt

Immer wieder werde ich gefragt, wie es sein kann, dass Berliner Türkeistämmige - trotz der massiven Einschränkung von Presse- und Meinungsfreiheit und der enormen Wirtschaftskrise - mehrheitlich Erdogan wählen. Ein Grund sind ihre konservativen Einstellungen. Dagegen ist als politische Haltung nichts einzuwenden.

Ein weiterer Grund: Die Opposition ist nicht stark genug und nicht gut genug organisiert. In Berlin verfügen die Erdogan-Fans hingegen über eine starke Infrastruktur über ihre Moscheen und Vereine. Und viele türkeistämmige Berliner, die Erdoğan wählen, fühlen sich von der deutschen Politik nicht abgeholt, gerade, wenn sie wie viele Berliner Türkeistämmige rassistische Erfahrungen gemacht haben. Erdogan ist auch für sie der starke Mann, ihr Beschützer. Ein Bild, das verfängt. Ob es uns gefällt oder nicht.

Positiver Nebeneffekt: Akademische Zuwanderung

Doch es gibt eine zweite Ebene dieser Wahl. Die türkische Wirtschaft wird weiter auf Talfahrt sein, gerade weil Erdogan wieder gesiegt hat. Und das zusammen mit den politisch bedingten Einschränkungen wird dazu führen, dass junge gut ausgebildete Menschen aus der Türkei nach Berlin kommen. In den letzten Jahren gab es schon einen Vorgeschmack auf eine neue Qualität der Türkeistämmigen in unserer Stadt. Sie werden von den hiesigen Türkeistämmigen als "die mit den weißen Kragen" bezeichnet – als Anspielung auf ihre gesellschaftliche Herkunft.

Viele Ärzte, Akademikerinnen, Künstler und IT-Fachleute aus Istanbul und anderen Städten sehen hier ihre Zukunft. Unsere Stadt kann von dieser Zuwanderung nur profitieren. Das gilt auch für die türkeistämmigen Berliner, die anders denken als die, die Erdogan gewählt haben.

Cen Dalaman ist Redakteur bei der rbb24 Abendschau

Sendung: rbb24 Abendschau, 29.05.2023, 19:30 Uhr

Beitrag von Cem Dalaman

64 Kommentare

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  1. 64.

    Wer hier lebt und Erdogan wählt, hat den Schuss noch nicht gehört!

  2. 63.

    Ich bin auch gegen Nazis und Neonazis. Aber was hat das mit einer - berechtigten - Kritik am Wahlverhalten von hier schon lange lebenden türkischen Staatsbürgern zu tun, die dem Despoten Erdogan ihre Stimme gegeben haben? Und das, obwohl sie oft ihr ganzes Leben vor allem in Deutschland und dessen Demokratie verbracht haben. Ich finde das erschütternd, ehrlich gesagt.

  3. 62.

    Was Sie sagen, ist das eine, warum Sie es sagen, etwas anderes. Manche erkennen Alltagsrassismus nicht mal……

  4. 61.

    Gerade wurde des Anschlags in Solingen gedacht, und dieser Anschlag war nur die Spitze desen was diese Neonazis hierzulande auf ihrem Konto haben.
    Da muss ich sagen, dass die türkischstämmige Bevölkerung mit ihrer Trauer und Kritik gegenüber Deutschland im Vergleich sehr leise und zurückhaltend ist.
    Vieleicht lernt man von ihnen, anstatt sie vergraulen zu wollen.!

  5. 60.

    Natürlich ist es erlaubt, aber es ist von der deutschen Seite unklug mit den Wählern so hart umzugehen, zumal wenn man die türkische Mentalität bedenkt..

  6. 59.

    Wenn Herr Dündan und Herr Özdemir das Alles kritisieren ist es in Ordnung - wenn mit gleichem Wortlaut es nichttürkische Menschen machen, ist es nicht erlaubt?
    Ich erlaube mir festzustellen, dass alle die, die Herrn Erdogan hierzulande vor Jahren seiner Antiassimilierungsrede zugejubelt haben, es sich überlegen sollten, wo sie leben und dies auch wollen, ist es mir nicht gestattet? Was war nochmal das hohe Gut in einer Demokratie???

  7. 58.

    Warum? Es betrifft uns als Gesellschaft doch insgesamt, wenn ein türkischer Präsident von in Deutschland lebenden Türken gewählt wird, der gewaltsam gegen Kurden vorgeht, der die Opposition mit diktatorischen Mitteln bekämpft, der eine schwulenfeindliche Agenda vertritt, der Frauen am liebsten eine Rolle zuschreiben möchte, die in Westeuropa seit Ende der 50er Jahre überwunden ist, der gegen Deutschland hetzt, etc.
    Die Wähler - leider besonders auch in Deutschland
    - befürworten offenbar diese Politik.
    Ich halte das für ein Problem, zumal viele bereits seit Jahrzehnten in Deutschland leben, dann aber eine klar reaktionäre Politikrichtung bei der Wahl bevorzugen. Darüber kann man doch nicht einfach so hinwegsehen, oder?

  8. 57.

    Vielleicht sollte man mal die Ditib aus Deutschland rausschmeissen, endlich hierzulande für alle Moscheen Imame ausbilden und niemandem das Gefühl geben, nicht dazuzugehören oder nicht willkommen zu sein. Dann lässt sich auch kein Deutschtürke mehr von schicken, neugebauten Brunnen in irgendwelchen türkischen Kuhdörfern blenden und hört vielleicht auch damit auf, sich von Erdogan instrumentalisieren zu lassen. Ist doch einmalig, was hier abläuft.

  9. 56.

    Die Türkei hat mit Erdogan die weitere Steigerung der ohnehin schon astronomischen Inflation gewählt https://www.google.de/search?q=inflation+t%C3%BCrkei+2023&ei=WOB1ZLnBCJCxkwWF8IHIDw&oq=inflation+T%C3%BCrkei&gs_lcp=Cgxnd3Mtd2l6LXNlcnAQARgAMgoIABBHENYEELADMgoIABBHENYEELADMgoIABBHENYEELADMgoIABBHENYEELADMgoIABBHENYEELADMgoIABBHENYEELADMgoIABBHENYEELADMgoIABBHENYEELADMgoIABCKBRCwAxBDMgoIABCKBRCwAxBDSgQIQRgAUABYAGCMFWgBcAF4AIABAIgBAJIBAJgBAMABAcgBCg&sclient=gws-wiz-serp

  10. 55.

    Aber, das thematisieren und analysieren dieser Wahl, sollte man dem türürkischstämmigen Teil der Bevölkerung überlassen, insbesondere denen, die die Opposition gewählt haben!

  11. 54.

    "Wer hier leben will, der sollte sich auch mit unserem Land identifizieren und nicht nur die Staatsbürgerschaft haben wollen, damit man Vergünstigungen hat."
    Wer hier leben will, geht i.d.R. auch arbeiten, beteiligt sich somit am Sozialsystem, an der Wirtschaftsleistung etc. Dafür ist es legitim "Vergünstigungen" zu beanspruchen. Seine Herkunft, seine Abstammung muss niemand umkrempeln.
    " Wenn man seine alte Staatsbürgerschaft behält, bedeutet das keine gespaltene Loyalität, wie es viele deutsche Konservative behaupten. Es zeigt nur, wer man wirklich ist."
    https://www.dw.com/de/doppelte-staatsb%C3%BCrgerschaft-in-deutschland-wird-erleichtert/a-64012344

  12. 53.

    2. Versuch:
    Volle Zustimmung!
    Ich würde noch weitergehen:
    Der "einfache Mensch" möchtemoderne Krankenhäuser, Strom und "Internet in den Dörfern, das mag in Deutschland eine Selbstverständlichkeit"(?!), Arbeit, Wohnung und etwas zum Essen auf dem Tisch.
    Demokratie + Freiheit - Geld regiert die Welt.

    Wir sprechen von "menschenfeindlich", müssen uns aber nur einmal die Obdachlosen-Camps in allen Bezirken anzuschauen oder auch die Überfüllung bei Tafeln und der Arche für Kinder.

    Noch meine Überlegungen:
    Möchten die Türken evtl. auch nicht die "Ansagen" der EU, sind durch ihre Religion queere Menschen gegenüber anders eingestellt (wie lange hat Dt. gebraucht) und sehen am Beispiel anderer Länder (z.B. Tunesien) das "anders" nicht unbedingt "toll" für sie ist?
    Möchte Mensch an sich Veränderungen, wenn nicht klar ist, wie diese vonstatten gehen sollen, wer bezahlt, wer bleibt auf der Strecke, kommt Stillstand oder der große "Schlag" (6 Parteien unter Kilicdaroglu einig?) ...

  13. 52.

    Ja, analysieren sollte man das durchaus. Aber ohne die fremdenfeindliche Vorbehalte, die in vielen Kommentaren sichtbar sind.

  14. 51.

    Erdogan prahlt herum, was er gebaut hat. Aber sein Schloss erwähnt er nicht. Und was ist mit den Erdbeben Opfer. Da hört man auch nichts.

  15. 50.

    Natürlich darf man sich über das Wahlverhalten anderer wundern, es analysieren und sogar kritisieren. Aber man darf keinem empfehlen, das Land zu verlassen, nur weil er nicht die eigenen Meinungen teilt.

  16. 48.

    Wer bestreitet das?
    Es muß festgehalten werden: Es gibt viele türkische Staatsbürger, die in Deutschland in einer westlichen Demokratie leben, deren Vorteile genießen, und die mehrheitlich dennoch einem Autokraten zur Macht verholfen haben. Das sollte zu denken geben, finde ich.
    Was sagt das zum Beispiel über deren Demokratieverständnis aus? Wie stehen diese Wähler zu Minderheiten, zu Frauenrechten etc.? Unterstützen diese Menschen auch den schwulenfeindlichen Kurs ihres Präsidenten? Offenbar, sonst hätten sie ihn nicht gewählt.
    Das gehört thematisiert.

  17. 46.

    Die Erdogan-Wähler haben immerhin in vollem Bewußtsein für ihr Tun einen autokratischen Politiker gewählt.
    Warum sollte das in Deutschland nicht kritisiert werden dürfen? Das darf es sehr wohl. Wir leben in einer Demokratie, nur so als Erinnerung...

  18. 45.

    Es wird in allen Kommentaren hier vor allem nicht gesehen, dass im Ausland lebende türkischstämmige und wahlberechtigte Bürger ihre Familien und Angehörige in Ihrem Heimatland haben. Die stupide Aussage zu treffen, dass diese Menschen ignorant in einem Land an der Wahl sich beteiligen, in welchem sie nicht leben, ohne sich über die Auswirkungen und Bedeutung darüber bewusst zu sein, ist totaler Quatsch. Aber: Ihr Deutschen glaubt Ihr müsst zu Allem Euer Senf abgeben. Aber die Syrer ... Hauptsache die bleiben in der Türkei und wir haben die Demokratie gerettet. Tratscht mal weiter!

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