Interview | Radikalisierung auf Tiktok und Co. - "Es gibt in der jungen Generation einen ganz starken Drang gegen Propaganda"
Auf der Videoplattform Tiktok dominieren populistische und rechtsextreme Inhalte. Damit sind sie für die jungen Nutzer omnipräsent. Wie groß ist der Einfluss auf deren politische Einstellungen? Dazu forscht Nina Kolleck von der Universität Potsdam.
rbb|24: Frau Kolleck, die AfD ist in Brandenburg unter den jungen Wähler:innen mit Abstand stärkste Kraft geworden. Eine aktuelle Studie zeigt außerdem, dass Inhalte der AfD auf Tiktok deutlich mehr Sichtbarkeit bei Erstwählenden erreicht als die aller anderen Parteien zusammen. Wie groß ist der Einfluss von Tiktok auf dieses Wahlergebnis?
Nina Kolleck: Wir können in der Forschung bisher noch keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Tiktok-Präsenz und Wahlverhalten statistisch valide beweisen. Ich denke aber, dass Tiktok zu den Haupteinflussquellen gehört und sehr stark erklären kann, warum es diesen Rechtsruck in der jungen Generation gibt.
In umfangreichen, repräsentativen Studien befragen wir die jungen Menschen immer wieder danach, woher sie ihre Informationen beziehen. Da gilt Tiktok mittlerweile als Hauptinformationsquelle, wenn es um politische Informationen geht. Wir wissen aus der Forschung auch, dass Tiktok eine Bühne liefert für Verschwörungserzählungen, für Missinformationen und auch für Erzählungen, die das Vertrauen in die Demokratie ganz direkt untergraben und minimieren.
Wie verbreitet sind rechtsextreme Einstellungen in der jungen Generation?
Wir wissen aus Studien, dass ein streng rechtsextremes Weltbild schon in der Mitte der Bevölkerung angekommen ist. Das hat sich auch unter den jungen Menschen verbreitet. Da spielen nicht nur die sozialen Netzwerke eine Rolle, sondern auch die Peergroups. Die beeinflussen sich untereinander und so führt es zu einer Normalisierung.
Rechtsextremes Gedankengut kann in vielen Regionen schon gar nicht mehr als Extremismus bezeichnet werden. In Brandenburg, Thüringen und Sachsen ist es schon in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Da sind die Schulen infiltriert, da sind die Dörfer infiltriert, da gehört es einfach zum normalen Duktus. Im Rahmen unserer Forschungsprojekte sind wir viel in die ländlichen Räume gefahren. Ganz viele junge Menschen dort sagen, sie kennen eigentlich nur noch die AfD. Die hat dort ihren Stand, die hat dort ihre Tiktok-Profile, die hat Maximilian Krah, der der neue Held unter den jungen Menschen ist. Wenn so viele junge Menschen nur noch etwas von der AfD mitkriegen, wo sind denn die Politiker der anderen Parteien?
Wie hängen die aktuellen Krisen und die Radikalisierung junger Menschen zusammen?
Wir wissen, dass die junge Generation mit psychischen Problemen kämpft wie keine andere bisher. Sie wächst in einer Welt auf, in der Demokratie nicht mehr als Selbstverständlichkeit gilt und in der die Demokratie auch kein Gefühl der Sicherheit mehr vermittelt. Es gibt einen Krieg in Europa und sie wissen um die Bedrohung, dass dieser Krieg auch nach Deutschland kommen könnte.
In den sozialen Medien erleben sie gewaltverherrlichende Videos und KI-generierte Propaganda. Auch eine Verrohung der Sprache, das muss man einfach sagen. Nicht nur in den sozialen Medien, auch in der Gesellschaft und von führenden Politikern - auch aus dem demokratischen Spektrum. Da wird persönlich beleidigt, es werden Bedrohungen ausgesprochen, da wird zu Gewalt aufgerufen, als wäre es das Normalste der Welt.
Wenn dann eine populistische Partei kommt und sagt, die Regierung hätte versagt, sie hätten hier ganz viele sogenannte Ausländer reingelassen und dass wir dadurch jetzt ein Sicherheitsproblem hätten. Dann wissen wir aus der Geschichte, dass eben genau so ein Freund-Feind-Bild dazu führt, einen Konflikt auf die Spitze zu treiben und Hass zu schüren.
Radikale Kräfte setzen also an diesem Unsicherheitsgefühl an?
Bereits radikalisierte junge Menschen treffen sich ja nicht nur auf Tiktok. Es gibt natürlich auch Treffen, die vor Ort stattfinden. Nach den Wahlen haben wir es in Brandenburg erlebt, wo ausländerfeindliche Lieder gesungen wurden. Oder im Bereich des Islamismus, als in Hamburg auf einer Demonstration das Kalifat gefordert wurde. Das erzeugt ein Gemeinschaftsgefühl und ein Gefühl der Sicherheit in der aktuellen politischen Situation, auch in der ökonomischen Situation. Da spielt auch die Inflation mit hinein oder der Wohnungsmarkt - dass es für einen Großteil der Bevölkerung immer schwieriger wird, die Miete zu bezahlen.
Populistische Kräfte haben damit natürlich ein gefundenes Fressen. Sie geben den Jugendlichen das, was sie in der Welt nicht finden, in der sie sich verloren fühlen. In der ihnen der Sinn dafür fehlt, wofür sie einstehen sollen und wo sie ein Gefühl von Gemeinschaft erleben. Auf der anderen Seite geben Plattform wie Tiktok Individuen die Möglichkeit, sich autonom zu fühlen. Diese Plattformen sprechen die individuellen Bedürfnisse auf eine ganz geschickte Art und Weise an. Der Algorithmus führt dazu, dass jeder seine eigene For-You-Page bekommt und nach individuellen Interessen spezifische Videos zugeschleust bekommt.
Was bedeutet es, wenn junge Menschen sich ausschließlich auf einer Plattform informieren, die ihnen ein verzerrtes Bild der Realität darstellt?
Einerseits sind natürlich alle Quellen verzerrt. Auch wenn Jugendliche sagen, dass sie sich nur noch über Tiktok informieren, sind sie ja nicht raus aus der Welt. Informelle Bildung findet überall statt. Sie unterhalten sich mit Gleichaltrigen und bekommen im Idealfall auch in den Schulen etwas vermittelt. Die schulische Bildung, gerade die politische Bildung, ist sehr schwach aufgestellt. Während der Pandemie wurde das Schulfach zunehmend geschwächt. Dazu zählt auch die Medienbildung. Kritische Medienbildung kommt nur bei ganz wenigen Schülern und Schülerinnen an. In den Familien wird eher weniger über politische Fragen diskutiert und dann auch nur in bestimmten sozialen, meist akademischen Milieus.
Die Gefahr besteht darin, dass Videos mit bestimmten Inhalten viel stärker verbreitet werden und viel erfolgreicher sind und sich dadurch in den Köpfen der jungen Menschen viel besser verankern. Wir wissen auch, dass Tiktok seiner Verantwortung nicht gerecht wird und es als Propagandainstrument eingesetzt wird, etwa von der chinesischen Regierung. Wir haben viele Anhaltspunkte dafür, dass auch Russland hier aktiv ist.
Aus der psychologischen Forschung wissen wir, dass Tiktok hier ganz subtil ansetzt. Junge Menschen nutzen Tiktok vor allem passiv, sie swipen von Video zu Video und lassen sich von den Inhalten unterbewusst tief beeinflussen. Dadurch, dass diese Videos auch mit vielen Emotionen einhergehen, sind diese Einflussnahmen noch viel stärker.
Können junge Menschen wieder für die Demokratie "gewonnen" werden? Und wenn ja, wie?
Da stehen wir in der Forschung am Anfang. Mittlerweile ist es zum Beispiel möglich, mit KI-generierten Chatbots mit Personen ins Gespräch zu kommen. Wir wissen, wie politische Mündigkeit entsteht. Eine Person, die schon verschwörungstheoretisch veranlagt ist, hat keine politische Mündigkeit gewonnen, weil sie so in ihrer Ideologie festklebt und keinen Widerspruch mehr ermöglicht.
Wir müssen ganz dringend die Demokratiebildung und die Medienbildung in den Schulen stärken. Wir müssen aber unbedingt auch die informellen Lernorte stärken. Alles, was jenseits der formalen Lernorte stattfindet, also insbesondere auf Tiktok oder Instagram. Wir müssen die Kanäle bedienen, die eine große Anzahl an jungen Menschen erreichen. Wir müssen die Kompetenzen fördern, Desinformation zu erkennen und zu bekämpfen. Teilweise kann man auch gar nicht mehr unterscheiden, ob Inhalte KI-generiert sind oder nicht.
Wir müssen das Bewusstsein dafür schärfen, dass das, was sie auf Tiktok, Instagram und Telegram konsumieren, eben oft nicht der Wahrheit entspricht, sondern dass es sich auch um Fehlinformationen und Propaganda handeln kann. Es gibt in der jungen Generation einen ganz starken Drang gegen Propaganda. Sobald man ihnen zeigt, dass sie beeinflusst werden, beispielsweise durch die russische Regierung, überzeugt sie das. Das ist ein Anhaltspunkt.
Können Plattformen wie Tiktok dabei auch eine positive Rolle spielen?
Initiativen wie #reclaimtiktok oder der Kanal "keineerinnerungskultur" sind enorm wichtig. Wir müssen diese Kanäle unbedingt nutzen, weil das die einzige Möglichkeit ist, an den Großteil der jungen Menschen heranzukommen. Es gibt so viele so tolle Instrumente und Methodiken, gerade auch in der digitalen, politischen und historischen Bildung im außerschulischen Bereich. Es sind tolle Sachen entwickelt worden von Vereinen, von Museen und anderen Einrichtungen, die auch auf Tiktok eingespielt werden könnten.
Die AfD hat es einfach sehr früh erkannt - sie hat diese große Mehrheit auf Tiktok. Oft fühlen sich Akteure ohnmächtig und denken: 'Wir kommen doch niemals an die Zahlen heran, die zum Beispiel Maximilian Krah oder Alice Weidel dort erreichen.' Da würde ich nur Mut zusprechen. Denn: die haben ja auch einen viel längeren Vorlauf. Sie haben vor zehn Jahren damit angefangen und erkannt, dass sie auf dieser Ebene enormen Einfluss ausüben können.
Aber es ist ja nicht so, dass Europa dem hoffnungslos gegenübersteht und jetzt einfach nur noch auf den Untergang wartet. Wir haben viele Ressourcen und Quellen. Die können wir einsetzen, um die jungen Menschen davon zu überzeugen, was es heißt, im Frieden aufzuwachsen. Was es heißt, in einer Gemeinschaft ohne Hass aufzuwachsen. Wenn es gelingt, darüber zu informieren, welche Risiken mit einem autoritären System einhergehen, dann sehe ich auch Hoffnung, dass auch über Tiktok eine Demokratisierung erlangt werden kann. Denn: Tiktok als Plattform kann ja auch die Demokratie stärken. Dadurch, dass unterschiedliche Meinungen zur Geltung kommen und dass hier etwa auch unterschiedliche künstlerische Elemente verwendet werden können. Wir dürfen das nicht nur verteufeln.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Jonas Wintermantel, rbb|24