Interview | Verteidigungsexpertin - "Deutschland wird alleine nicht kriegstüchtig werden"

Während die Sicherheit Europas bedroht wird, erweisen sich die USA unter Trump als unzuverlässig. Zeit für eine Europäische Verteidigungsunion? Aylin Matlé von der DGAP erklärt, warum das ohne NATO-Strukturen nicht leicht sein wird.
rbb|24: Vor dem EU-Krisengipfel zur Ukraine hat EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen einen 800-Miliiarden Euro-Plan zur "Aufrüstung Europas" [tagesschau.de] vorgeschlagen. Reicht das schon oder braucht es mehr?
Aylin Matlé: Es hängt davon ab, auf welcher Grundlage diese Berechnungen stattfinden. Ist darin schon die Überlegung inbegriffen, dass die Amerikaner sich deutlich zurückziehen werden? Zu welchem Grad werden sie sich zurückziehen? Das ist ja alles noch im Ungewissen. Trump hat sich darüber bisher nicht deutlich geäußert.
Sein Verteidigungsminister Hegseth hat vor etwa zwei Wochen, als er in Brüssel zu Besuch war, schon davon gesprochen, dass die Europäer damit rechnen müssen, dass die Amerikaner künftig einen Großteil der konventionellen Verteidigungsfähigkeit den Europäern zuschieben wollen [tagesschau.de].
Aber was genau das bedeutet und vor allem, in welchem Zeitraum das geschehen soll - der Abzug von Fähigkeiten, aber auch Truppen - das ist bisher vollkommen offen. Es ist aber eine wichtige Grundlage, um projizieren zu können, wieviel Geld notwendig sein wird. Aber dass wir Europäer wirklich höhere Milliardenbeträge brauchen würden, das ist schon etwas länger klar.
Kann es sein, dass am Ende des EU-Sondergipfels zur Verteidigung am Donnerstag die Grundlage für ein neues EU-Verteidigungskonstrukt neben der NATO geschaffen wird?
Nein, davon gehe ich überhaupt nicht aus. Was wir sicherlich erwarten können, ist eine Konkretisierung der Pläne, wie die EU-Staaten besser in ihre Verteidigungsfähigkeit investieren können, angesichts der zum Teil sehr enormen Staatsschulden, die einige EU-Staaten angehäuft haben.
Und auch dort gibt es ja schon konkrete Überlegungen nämlich, dass Verteidigungsausgaben ausgeschlossen werden sollen aus der Berechnung des Stabilitätspaktes. Es gibt auch Überlegungen darüber, dass private Investitionen - also von privaten Banken - erleichtert werden sollen, um Verteidigungsinvestitionen besser zu ermöglichen.
Und außerdem wird es sicherlich auch noch mal darum gehen, ganz konkret zu erklären und auch Schritte vorzugeben, wie die Verteidigungsindustrien in der EU und Europa - das würde nämlich dann auch Großbritannien, Norwegen und die Türkei mit einschließen - besser ausgestattet werden können.
Aber eine eine institutionelle Veränderung im Rahmen der Gemeinsamem Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union (GSVP), das halte ich für sehr unwahrscheinlich.
Müssten die Europäer nicht ein eigenes Verteidigungsbündnis auf die Beine stellen?
Die Frage ist, was damit erreicht werden soll. Wenn es jetzt darum geht, dass eine Koalition der Willigen möglicherweise Truppen und auch Fähigkeiten für eine Absicherung eines wie auch immer ausformulierten Friedensschlusses in der Ukraine zur Verfügung gestellt werden kann, dann ist das der einzige sinnvolle Weg. Über die Nato wird es nicht funktionieren und auch über die EU wird es nicht funktionieren, weil in beiden Fällen Einstimmigkeit vorausgesetzt ist, und das werden sie in der Nato nicht bekommen, weil Verteidigungsminister Hegseth vor zwei Wochen in Brüssel sehr klar gemacht hat, dass es keine Nato-Mission sein wird. Und in der EU haben sie Länder wie Ungarn, aber auch die Slowakei, bei denen ich nicht davon ausgehe, dass sie einer GSVP-Mission in der Ukraine zustimmen würden.
Deswegen bleibt in diesem Zusammenhang aus meiner Sicht nur die Möglichkeit, eine Koalition der Willigen zu bilden. Aber um den wirklich großen Wurf für die Zukunft der europäischen Sicherheitsarchitektur oder eines Sicherheitssystems zu bilden, ist es immer noch sinnvoll, weiterhin auf die Nato zu setzen.
Denn es gibt momentan keine gute Alternative zur NATO, und zwar nicht nur, weil die Amerikaner noch daran beteiligt sind, sondern auch, weil die NATO über viele Jahrzehnte eine bestehende Kommandostruktur aufgebaut hat, über die die EU nicht verfügt.
Und das ist ganz wesentlich, um sich tatsächlich auch auf mögliche Konfliktfälle oder Kriegsfälle nicht nur vorbereiten zu können, sondern im Zweifel auch in der Lage zu sein, verteidigungsfähig zu sein. Aber ich gehe nicht davon aus, dass die USA sich vollständig aus der NATO zurückziehen werden.
Was muss Deutschland eigentlich tun, um ohne US-Sicherheitsgarantien verteidigungsfähig zu sein?
Maßgeblich in der Beantwortung dieser Frage, ist die Gefahreneinschätzung, also wie wahrscheinlich ist es, dass Russland innerhalb der nächsten drei, fünf oder acht Jahre in der Lage sein wird, NATO-Territorium anzugreifen. Und das ist eine sehr voraussetzungsreiche Frage. Das hängt nämlich ganz stark davon ab, zu welchen Bedingungen der russische Krieg gegen die Ukraine beendet wird.
Wird es nur zu einem Waffenstillstand kommen? Russland, so nehme ich das zumindest wahr, ist nicht dazu bereit [tagesschau.de], sondern möchte vielmehr direkt auf einen Friedensschluss gehen. Das würde dann wahrscheinlich im Umkehrschluss, Kapazitäten freisetzen für Russland.
In welchem Zeitraum wäre Russland dann in der Lage nachzurüsten, so dass es eine ernsthafte Bedrohung für die Nato darstellen könnte? Denn wir sollten auch festhalten, dass die NATO nicht komplett blank dastehen würde. Die NATO ist entlang der Ost-Flanke schon seit einigen Jahren mit multinationalen Truppenverbänden vor Ort. Dazu gehören auch amerikanische Soldaten.
Was kann aber Deutschland tun?
Deutschland wird alleine nicht kriegstüchtig werden. Dafür braucht es die anderen Europäer und umgekehrt brauchen die anderen Europäer Deutschland. Das, was wir jetzt in den vergangenen drei Jahren beobachtet haben mit der Modernisierung der Bundeswehr, ist sicherlich ein erster guter und wichtiger Schritt, der aber noch nicht ausreicht.
Das betrifft im Prinzip fast alle Bereiche. Die personelle Aufstellung der Bundeswehr ist sicherlich eine Engpassstelle, über die sich Politik Gedanken machen muss. Die aktuellen Personalzahlen und auch Entwicklungen sind zum Teil leicht rückgängig und werden nicht ausreichen, um die Aufgaben erfüllen zu können, die die NATO Deutschland zuweist.
Und es wird natürlich dann umso komplizierter, wenn die Amerikaner tatsächlich einen Teil oder einen Großteil ihrer Truppen auch aus Deutschland abziehen würden. Das sind dann Truppen, die durch deutsche Soldaten und Soldatinnen ersetzt werden müssten.
Muss die Wehrpflicht wieder eingeführt werden, damit man den möglichen Abzug von US-Truppen ersetzen kann?
Ob es die Wehrpflicht so braucht, wie sie 2011 ausgesetzt wurde, da bin ich mir nicht ganz sicher.
Nur auf Freiwilligkeit zu setzen, so wie es der aktuelle Verteidigungsminister Pistorius vorgesehen hatte, wird nicht ausreichen, um auf eine Sollstärke von über 250.000 Soldaten zu kommen. Und das ist eine eine Zahl, die jetzt auch nicht vollkommen aus der Luft gegriffen ist, sondern basiert auf Überlegungen der Verteidigungspläne der NATO, die seit 2023 konkretisiert werden.
Aktuell verfügt die Bundeswehr etwa über 180.000 Soldaten. Das wären 70.000 mehr Personal, die es bräuchte. Und das nur unter dem Gebot der Freiwilligkeit zu erreichen, das halte ich doch für eher unwahrscheinlich.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Efthymis Angeloudis für rbb24.