Grosz-Ausstellung in Berlin - Schinken mit Augen
Das privat finanzierte Kleine Grosz-Museum in Schöneberg widmet sich den weniger bekannten Collagen des 1959 verstorbenen Berliner Malers und Grafikers. Viele kleine Schnipsel werden zu skurrilen Gesellschaftsanalysen. Von Julia Sie-Yong Fischer
Beim Betreten des uneinsehbaren Areals des 2022 eröffneten Kleinen Grosz-Museum in Berlin-Schöneberg wirkt es so, als würde die Zeit auf der turbulenten Bülowstraße stehen bleiben: Eine umgebaute Shell-Tankstelle aus den 1950er Jahren zeigt sich mit moderner Glasfassade, Kiefern, Kirschbäume und Bambus säumen das Anwesen, Wasser plätschert neben der überdachten Terrasse.
Dieses Privathaus eines Galeristen soll zunächst für insgesamt fünf Jahre und zehn Ausstellungen die Präsentation und Forschung des künstlerischen Oeuvres George Grosz beherbergen.
Selbsternannter Erfinder
Die einzelnen Schnipsel an den Ausstellungswänden lassen es schon erahnen, welchen Schwerpunkt sich die vierte Schau des Museums gesetzt hat, "George Grosz. A Piece of My World in a World without Peace". Grosz behauptete, dass er und sein befreundeter Künstlerkollege John Heartfield höchstpersönlich die Photomontage an einem Tag im Mai 1916 um 5 Uhr in seinem Steglitzer Atelier im Südende erfanden. Ob sie wirklich die ersten waren, die diese künstlerische Praxis einführten, ist bis dato nicht bestätigt.
Dennoch sind die meisten collagierten Arbeiten nicht seine bekanntesten, obwohl diese Technik bis zu seinem Lebensende eines seiner wichtigsten Ausdrucksmittel bleiben sollte. Collagen für Szenenentwürfe, Publikationen, Druckmappen und Ölgemälde aber auch persönliche Postkarten zeigen das breite Spektrum seines Wirkens.
Feindbilder bekämpfen und bekleben
Die früheren Collagen von Grosz stammen aus der dadaistisch geprägten Zeit in der Weimarer Republik, in der er sich wegen seiner provokativen Kunst insgesamt fünf Mal vor Gericht verantworten musste. Seine Feindbilder lassen sich schnell durch ihre groteske Überzeichnung in seinen Bildern finden: Den "Säulen der Gesellschaft" wollte er seinerzeit mit Pinsel und Schere an den Kragen: dem dumpfen Militarist, dem bigotten Kleriker, dem engstirnigen Lehrer und dem deutschen Spießbürger.
Ein besonders fein gearbeitetes Aquarell mit dem Titel "Brillantenschieber" (1920) befasst sich wiederum kritisch mit egoistischer Profitgier: Es zeigt mehrere männliche Gestalten, die in ihrer Unförmigkeit und ihren verengten Blicken suspekt erscheinen sollen. Nur ihre Anzüge stellen ein gemeinsames Merkmal dar, ansonsten agiert jeder für sich. Auf diesem Blatt sind die einzelnen Schnipsel so virtuos integriert, dass viele erst bei ganz genauem Hinsehen als solche erkannt werden können.
Wintermärchen als Albtraum
Eines der raren Ölgemälde mit Collage-Elementen, die Grosz schuf, trägt den Titel "Deutschland ein Wintermärchen" (1918) in Anlehnung an Heinrich Heines Versepos. Obwohl es verschollen ist, gilt es weiterhin als eines der bekanntesten und bedeutsamsten Bilder von Grosz. Zuerst gezeigt wurde es 1920 auf der von ihm mitorganisierten Ersten Dada-Messe in Berlin. Hier in der Ausstellung wird es durch eine kleine Reproduktion sowie eine digitale Animation rekonstruiert.
Die "Säulen der Gesellschaft" finden sich dort wie alte Bekannte wieder. Darüber sitzt ganz zentral ein Bildtypus des "ewigen deutschen Bürgers, dick und ängstlich" der versucht sich auf seinem Platz am Tisch an seinem Besteck festzuhalten. Um ihn herum zeigt Grosz eine industrialisierte Welt, die fragmentiert und apokalyptisch finster wirkt. In Hinblick auf den bald danach erstarkenden Nationalsozialismus, aber auch auf die Dimension gegenwärtiger Zukunftsängste hat diese Darstellung eine erschreckende Brisanz.
Fleischige Körperteile
Wie sehr Grosz auf seine unmittelbare Umgebung nahezu seismografisch reagierte, zeigen auch seine Montagen, die entstanden, nachdem er 1933 als "entarteter" Künstler nach Nordamerika emigriert war. Dort verlagerte er in seiner neuen Schaffensphase den Fokus seiner Collagen immer mehr auf die amerikanische Konsumgesellschaft.
Als leidenschaftlicher Sammler legte er Mappen mit verschiedenen Druckausschnitten an, die er dann für seine Montagen kompositorisch nutzen konnte. Besonders Augen hatten es ihm angetan, die er in Schinken implantierte oder verdreht in Köpfe einsetzte wie bei dem Furcht einflössenden Frauenbildnis "College Girl"(1958).
Überraschend aktuell wirkt aus heutiger Sicht seine unkonventionelle Auseinandersetzung mit körperlichen Geschlechtsidentitäten, wenn er in einem Werk zweifelnd fragt: "That is a man?"(1957). In pathologisch nüchterner Manier sezierte Grosz idealisierte Körper, Lebensmittel und Werbung und erschuf damit eine eigene kapitalismuskritische Ästhetik.
Die Ausstellung, die in erstmaliger Kooperation mit der Akademie der Künste, entstanden ist, lässt keine Langeweile aufkommen. Es macht Spaß die vielen, kleinen Details zu entdecken und Motive wiederzufinden, die sich zeichnerisch immer wieder zu neuen Bildformen verbinden.
Die in sich sehr dichten Papierarbeiten sind wichtige historische und dabei auch persönliche Zeitzeugnisse des Künstlers.Und noch viel mehr als das: Humoristisch und makaber zugleich bieten sie dem betrachtenden Auge ein wahres Festessen, welches an vielen Stellen nicht leicht verdaulich ist.
Die Ausstellung "A Piece of My World in a World without Peace" läuft vom 11. Januar bis 03. Juni 2024 und kann zusammen mit der Dauerausstellung im Erdgeschoss nur mit vorheriger Zeitfenster-Buchung von Donnerstag bis Montag von 11 bis 18 Uhr besucht werden. Zu der Ausstellung erscheint ein Katalog.
Sendung: rbb24 Inforadio, 11.01.2024, 6 Uhr