Interview | Kindheit mit alkoholkranken Eltern - "Wenn meine Mutter betrunken war, war sie wütend auf mich"
Tanja wuchs mit einer alkoholkranken Mutter auf. Wenn diese trank, ließ sie ihrer Wut freien Lauf. Für eigene Gefühle war kaum Platz in Tanjas Kindheit: Sie hat sich um ihre Mutter gekümmert und geregelt, dass niemand etwas mitbekommt. Das prägt sie bis heute.
rbb|24: Hallo Frau S., Sie sind als Kind mit einer alkoholkranken Mutter aufgewachsen. Können Sie erzählen, was das mit Ihnen gemacht hat?
Tanja S.: Mir selbst ist erst als junge Erwachsene bewusst geworden, dass es nicht normal war, wie ich groß geworden bin. Ich bin unter dem Deckmantel aufgewachsen, dass alles gut ist und ich ein tolles Zuhause habe. Erst mit Mitte zwanzig, als ich merkte, dass es an sehr vielen Ecken hakt und kratzt, habe ich mich gefragt, was da nicht stimmt.
Was mich geprägt hat, sind die Abende mit meiner Mutter. Sie hat meistens abends getrunken, wenn mein Vater nicht da war. Da war alles unsicher. Meine Antennen waren schon im Vorfeld geschärft und ich habe darauf geachtet, wie oft sie in die Küche geht und inwiefern sich ihre Stimmung verändert. Ich war dann auf eine für ein Kind oder eine Jugendliche sehr ungewöhnliche Art wachsam. Eher, als wäre ich selbst die Mutter eines Kleinkindes und müsste immer schauen, ob irgendwo Gefahrenquellen lauern. Ich habe auch vorher geschaut, ob Alkohol im Haus ist, ihn dann mitunter versteckt. Als ich auszog, habe ich eine Flaschensammlung aus meinem Jugendzimmerschrank sortiert und mein Vater hat mich gefragt, ob ich eine heimliche Party geplant habe. Dabei waren das die Flaschen, die ich weggepackt hatte, damit nichts passiert.
Was konnte passieren, wenn Ihre Mutter trank?
Wenn sie betrunken war, hat ihre eigene Unzufriedenheit sie beherrscht. Die Gründe dafür hat sie nicht bei sich gesucht. Sie war wütend auf mich. Sie sagte, dass sie bereue, mich geboren zu haben und dass Papa seit meiner Geburt nur noch mich liebe. Das waren schlimme Vorwürfe.
Sie sieht bis heute eher mich als ihr Problem und wirft mir vor, ich wolle im Mittelpunkt stehen. Auch dass ich jetzt öffentlich spreche, wird für sie ein Indiz dafür sein, dass ich in ihren Augen jemanden gefunden habe, der es mir ermöglicht, im Mittelpunkt zu stehen. Sie tut so, als ob nie irgendetwas an ihr liegt. Sie tut auch so, als ob sie bis heute nicht wisse, warum mein Vater sie irgendwann verlassen hat.
Und Ihr Vater ist wegen der Sucht Ihrer Mutter gegangen?
Ja. Ich denke, er hat sich nach und nach entfernt und die Liebe zu ihr war dann auch irgendwann gar nicht mehr da. Wenn man den Partner in seiner Sucht erlebt, geht das ja auch damit einher, dass man ihn in seiner Lethargie erlebt und darin, wie er sich nicht mehr richtig pflegt und nichts mehr machen will. Und jeder, der schon mal eine längere Partnerschaft hatte, weiß ja, wie wichtig Gemeinsamkeiten sind.
Kannten Sie als Kind und Jugendliche eigentlich andere Kinder, die auch mit suchtkranken Eltern lebten und konnten sich denen oder irgendjemandem anderen anvertrauen?
Nein. Ich habe das niemandem erzählt. Obwohl es ja andere gegeben haben muss. Man sagt, jedes fünfte Kind wird in einer suchtbelasteten Familie groß. Aber Alkoholiker und ihre Familien leben ja in einer Art Burg. Alles wird verbarrikadiert und nichts soll nach außen dringen. Innerhalb der Burg funktioniert man und jeder hat seine Rolle. Und damit das alles weiter funktionieren kann, deckt jeder die Alkoholkrankheit. Ich habe in meiner Rolle auf meine Mutter aufgepasst – insbesondere, wenn mein Vater Spätdienst hatte. Ich habe sie ins Bett gebracht, versucht, die Wohnung aufzuräumen, damit mein Vater nicht traurig ist und es keinen Ärger gibt. Ich habe mich auch um meinen kleinen Bruder gekümmert. Das war meine Rolle. Ich wollte, dass alles klappt und in Gang bleibt.
Haben Sie diese Rolle bis heute inne?
Ja, aber gar nicht im negativen. Ich habe das dann sogar damals mit 18 Jahren als Berufung gesehen und eine Pflege-Ausbildung gemacht. Es liegt mir, Menschen zu helfen und ich glaube trotz allem, was ich erlebt habe, an das Gute im Menschen. Aber ich merke auch, dass ich daraus bis heute eine gewisse Bestätigung ziehe.
Sie sind inzwischen längst selbst Mutter. Hat das Mutter-sein vieles aus Ihrer eigenen Kindheit wieder hervorgeholt?
Ich habe einen ungemein hohen Anspruch an mich als Mutter. Ich will, dass meine Kinder wissen, dass ich hundertprozentig hinter ihnen stehe. Egal, was ist. Wenn mit meinen Kindern etwas ist, habe ich das Gewehr bei Fuß.
Ich selbst bin ja mit 14 Jahren schwer krank geworden. Da war meine Mutter so mit sich selbst beschäftigt, dass sie nicht Mal ins Krankenhaus kam. Das würde mir nicht im Traum einfallen. Meine eigene Kindheit hat mich reflektieren lassen, was ich gebraucht hätte und was ich jetzt meinen Kindern geben will. Und es ist so schön zu erleben, wie man mit seinen Kindern in Kontakt sein kann und wie wichtig das für alle ist. Natürlich wird mir dann auch immer wieder klar, wie sehr ich das als Kind auch gebraucht hätte. Ich hatte als Kind immer das Gefühl, ich muss funktionieren. Ich habe mich unsichtbar gemacht, um keine Belastung für meine Familienmitglieder zu sein. Denn die hatten ja schon genug mit sich zu tun.
Was hätten Sie gebraucht?
Gekannt zu werden von meiner Familie. Darum bemitleide ich mich selbst. Wenn ich gefragt werde, was mich und meine Mutter verbindet, dann muss ich sagen, dass es nur die Tatsache ist, dass wir Mutter und Tochter sind. Das prägt einen. Ich habe nicht kennengelernt, dass sich jemand aus meiner Familie für mich interessiert. Ich habe beispielsweise immer sehr viel und gern gelesen. Da hätte doch meine Mutter mal fragen können, was ich da gerade lese und was mich beschäftigt.
Als ich im Krankenhaus lag und durch das Cortison in sehr kurzer Zeit 30 Kilo zugenommen hatte, hat mich keiner unterstützt. Da hieß es immer nur, dass ich ja zum Glück stark sei und nicht jammere.
Was hat Ihnen denn letztendlich geholfen?
Wirklich rausgeholt hat mich, meine eigene Familie zu gründen. Ich lasse mich nicht hängen, weil ich die Kinder habe. Auch wenn ich manchmal kämpfe und knabbere und ich manchmal auch gern jemanden hätte, der sich um mich kümmert. Da wäre es toll, ich hätte eine Mutter und einen Vater, die sagen, dass sie mir die Kinder mal abnehmen und mich entlasten. Aber das wird es nicht geben.
Ich habe als junge Erwachsene eine Psychoanalyse gemacht, die mir ziemlich viel abverlangt hat. Danach wusste ich, wo die Probleme liegen und hab gleich noch eine Verhaltenstherapie gemacht. Da habe ich alte Gedankenmuster und Strukturen versucht aufzulösen. Ich habe mich beispielsweise früher immerzu entschuldigt, sobald ich mal etwas von mir preisgegeben oder gejammert habe. Dabei ist es ja legitim mal zu sagen, dass man nicht mehr kann.
Sie sind sehr engagiert als Fan von Hertha BSC – hat das auch zu Ihrer Rettung beigetragen?
Rettung klingt ja immer sehr dramatisch. Aber ja, der Fußball und das, was ich bei Hertha gefunden habe – der Ort und das Umfeld – haben mir sehr geholfen. Schon allein, regelmäßig zu den Heimspielen zu gehen, was ich seit über 25 Jahren mache. Die Menschen, die ich da kenne und das Zugehörigkeitsgefühl – und früher war es auch so, dass ich in der Ostkurve alle Emotionen herausschreien konnte – haben mir sehr viel gegeben. In den letzten Jahren habe ich dort auch tiefgründige Freundschaften gefunden. Ich habe mir mein Umfeld dadurch als sicheren Hafen gestalten können.
Was würden Sie anderen Kindern und Jugendlichen, deren Eltern süchtig sind, raten?
Es ist wirklich schwierig. Ich würde ihnen mitgeben wollen, dass sie aufhören sollten zu denken, dass sie ihre Eltern retten können. Sie sollten sich jemanden suchen, der ihnen selbst hilft, gerettet zu werden. Es ist nicht normal, als Kind oder Jugendlicher die Verantwortung für seine Eltern zu übernehmen. Man muss nicht dafür geradestehen dafür, wenn die eigenen Erwachsenen Mist in ihrem Leben verzapfen. Ich habe das damals nicht hingekriegt. Ich habe alles in mich reingefressen. Die schlimmen Nächte, in denen mich meine Mutter angeschrien, verflucht oder angespuckt hat, habe ich wortlos über mich ergehen lassen. Ich habe damals geschrieben, um das alles aus meinem Kopf zu bekommen.
Aber ich hätte mich nie jemandem anvertraut. Dazu müsste sich die Gesellschaft auch wirklich verändern. Denn in den meisten Fällen ist die Sucht ein offenes Geheimnis. Fast jeder kennt doch irgendeinen erwachsenen Menschen mit einem Alkoholproblem. Aber kaum jemand fragt sich, wie es der Familie dieser Menschen geht und spricht sie darauf an, ob sie Hilfe braucht. Auf die Idee kommt selten jemand. Auch bei uns nicht.
Auch nicht, nachdem die Sucht bei meiner Mutter deutlich sichtbar war. Da wäre mehr Mut gut. Dann müsste ich mir vielleicht nicht heute noch wünschen, dass irgendein Erwachsener kommt und mich in den Arm nimmt.
Jetzt sind sie in den Medien und Teil einer Ausstellung zu dem Thema. War es schwierig für Sie, da mitzumachen?
Ja. Weil es viele Erinnerungen hochholt. Auch Gespräche wie dieses hier tun das. Das zeigt mir, wie weit ich das sonst im Alltag wegschiebe. Es würde mir sonst nach wie vor sehr weh tun. Als ich mich entschieden habe, bei der Ausstellung mitzumachen, war ich erst mal ganz locker. Aber im Laufe der Vorbereitungen wurde mir bewusst, dass auch meine Eltern die Bilder und Texte sehen könnten und ich habe mich voller Angst gefragt, was dann passiert. Auch Nachbarn und Freunde könnten es sehen. Aber ganz ehrlich: Dann ist es immer noch die Wahrheit.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24
Sendung: rbb24 Abendschau, 18.02.2024, 19:30 Uhr