Kochgruppe für junge Trauernde - "Wenn Eltern früh sterben, stirbt auch Zukunft"
Es gibt zu wenige Trauergruppen für junge Menschen, die nahestehende Verwandte oder Freunde verloren haben. In der Kochgruppe "Soul-Food" können junge Erwachsene in Berlin gemeinsam trauern - mit Menschen, die ihre Lebensrealität verstehen. Von Christina Rubarth
"Hallo Liz, ich bin Jannik. Schön, dass du da bist!", sagt er, eine Knoblauchzehe in der linken Hand, in der rechten ein scharfes Messer. So begrüßt der 25-jährige Student an diesem Abend Liz. Sie kommt zum ersten Mal in die Räume des evangelischen Kirchenkreises Tempelhof-Schöneberg. Wobei, das ist den ganzen Abend deutlich, Kirche und der Glaube, spielen hier nicht wirklich eine Rolle. Es ist allein der Raum, den die Kirche bietet: Einen lockeren Rahmen für die Trauer junger Erwachsener, unabhängig von Religionszugehörigkeit oder Weltanschauung. Liz' Cousin ist vor einem Jahr gestorben, Janniks Mutter vor drei Jahren. Jetzt übernimmt Liz den Platz am Herd, rührt Kürbiswürfel und Ingwer, damit nichts anbrennt. Hier wird heute gemeinsam gekocht, getrauert und gegessen.
Essen für die Seele
"Soul-Food" - so heißt die Trauergruppe - Essen für die Seele. Hier sitzen keine 60-, 70-Jährigen zusammen, die ihre Partner nach Jahrzehnten verloren haben, sondern Menschen Anfang 20 bis Mitte 30, deren Eltern, Geschwister, Cousins oder Nichten viel zu früh gestorben sind. Sie heißen Kira, Frida oder Marvin, studieren, machen eine Ausbildung, haben einen ersten Job. Zu jung, um sich selbst mit dem Thema Trauer und Tod auseinandergesetzt zu haben, als die Menschen in ihrem engsten Umfeld starben.
Zum Ingwerduft mischen sich Zwiebeln, neben Liz schneidet Aylin Kopfsalat in mundgerechte Stücke. Die Küche füllt sich, es wird viel gelacht. Heute Abend gibt es Kürbissuppe und Salat, so viel, dass eine Großfamilie davon satt würde. Ein Stück Normalität, die verloren gegangen schien, als es vielen von ihnen wie Jannik schwer fiel, Alltägliches zu bewältigen, einzukaufen, aufzuräumen. "Das erste Semester nach dem Tod habe ich gefühlt gar nichts hinbekommen, ich wusste nicht mal, wie ich selbst wieder glücklich werden konnte," sagt Jannik. Ein Semester an der Uni verpasste er, nachdem seine Mutter unerwartet starb. Ob das seinen Dozenten auffiel? Jannik sagt,er glaube nicht: "In der Uni bist du sehr anonym, es ist nicht so, dass jeder Prof dich und dein Gesicht und deinen Namen kennt."
Bei der psychologischen Betreuung an der Uni, die er dann besuchte, ging es mehr um die Bewältigung von Prüfungsangst als um Trauer. Das sei ihm wenig Hilfe gewesen. Dass er diesen Ort unter Gleichaltrigen fand, verdankt er der Bestatterin seiner Mutter. Sie, so sagt Jannik, wusste, wo Trauernde Hilfe finden. Viele googlen tagelang, sagt Jannik, bis sie eine für sie passende Trauergruppe finden – und die hat dann oft eine Warteliste.
Zu wenig Angebote für junge Trauernde
Es gebe zu wenig Angebote, sagt Anna Ziegenhagen. Die 34-Jährige ist Trauerbegleiterin und hat die Soul-Food-Gruppe gegründet. Weil sie gemerkt habe, dass genau das in Berlin fehlte. Trauerbegleitung für Ältere, die im Rentenalter ihren Partner verlieren, gebe es viele, sagt sie, auch für Kinder und Jugendliche gebe es vergleichsweise ausreichend Angebote. Die Gruppe der ab Anfang 20-Jährigen aber habe kaum Orte, um altersgerecht gemeinsam zu trauern. "Jeder trauert individuell. Aber Fragen, die sich um die Trauer ergeben, sind abhängig von der Lebenssituation, in der ich mich gerade befinde," sagt Anna Ziegenhagen.
Vergangene Zukunft
"Wenn Elternteile mit 50 oder 60 Jahren sterben, dann ist das ja sehr früh," sagt Anna Ziegenhagen, "dann stirbt auch Zukunft." Der Vater, der die Tochter zum Altar führt, die Mutter, die die Enkelkinder kennenlernt. Das seien Zukunftsbilder, die junge Trauernde ihr schildern. Die Trauerbegleiterin merke in ihren Gesprächen außerdem, dass die Bindung zu den Eltern oft stärker sei als früher, der Abnabelungsprozess bei den jungen Trauernden noch nicht abgeschlossen - und das Erkennen schmerzhaft, nicht mehr Kind sein zu können, sondern erwachsen sein zu müssen. "Ich höre oft den Satz, es ist nicht nur meine Mutter gestorben, es ist auch meine beste Freundin gestorben," sagt Anna Ziegenhagen.
In muslimischen Familien zum Beispiel trage sich die Familie oft viel stärker selbst in ihrer Trauer, in anderen Familien seien junge Trauernde oft allein, wenn sie für das Studium oder den ersten Job nach Berlin gezogen sind. Familie und enge Freunde, mit denen sie sich treffen könnten, lebten weit weg. "Dann fehlt einfach auch dieses Umfeld", sagt Anna Ziegenhagen.
Ein Stück Leichtigkeit
Dass passende Gruppen fehlen, ist auch an diesem Abend zu spüren. Die 20- bis 35-Jährigen kommen aus Mitte, Steglitz, sogar aus Reinickendorf bis nach Tempelhof in die Götzstraße in den schlichten 60er Jahre Bau. Vorher hat Anna Ziegenhagen sie zumindest in einem Vorgespräch kurz kennengelernt. Jeder kann spontan entscheiden, ob er kommt oder nicht - je nach Tagesform.
Jetzt organisiert statt Anna Ziegenhagen Jannik diese Abende, geht einkaufen, trommelt die Menschen einmal im Monat zusammen. Weil er weiß, wie schön dieser Rahmen sein kann, in dem über Paprika und Salatsauce auch sehr viel gelacht wird. Aus Dankbarkeit für diese Möglichkeit, sagt er, macht er weiter. Er wolle etwas zurückgeben.
Kaum Raum zum Reden
Unter Liz' ausdauerndem Rühren püriert sich die Kürbismenge fast von selbst. Sie war noch in der Ausbildung, sagt sie, lachte nach Unterrichtsschluss mit ihren Mit-Azubis, als sie die Nachricht bekam, ihr Cousin sei gestorben. "Es ist irgendwie so ein krasses Gefühl, jetzt der erste Todestag," sagt sie, "man weiß nicht, soll ich drüber reden oder bin ich zu traurig für andere? Darf ich überhaupt darüber reden? Es ist so schwierig."
Dass sie mit jemandem darüber sprechen musste, war ihr klar, deshalb ist sie hier. Liz ist gelernte Erzieherin und würde sich einen leichteren Umgang mit dem Sterben wünschen, sagt sie. Dass es auch schon in Kitas und Schulen thematisiert wird. Dass Kinder mit auf eine Beerdigung mitgenommen werden, sich von ihren verstorbenen Großeltern verabschieden können, der Tod seine Schwere verliert und es Menschen einfacher macht, darüber zu sprechen. Die, die jemanden verloren haben und die, die Trost spenden könnten und oft nicht wissen, wie. Und dass Menschen weiter nachfragen, wie es den Trauernden geht, auch ein Jahr später noch.
Junge trauern anders
Kira trägt Wasser in einer Karaffe aus der Küche in den kleinen Saal, der heute Esszimmer ist. Ihre Mutter ist vor einem Jahr gestorben, erzählt sie. Damals sagten ihr Menschen, die mit 50 oder 60 Jahren ihre Mutter verloren hatten, sie wüssten, wie sie sich fühle. "Aber ich glaube, so früh jemanden zu verlieren, ist schon auch nochmal was ganz anderes", sagt Kira. Wenn man den Menschen verliert, der eigentlich noch über Jahrzehnte das eigene Leben begleitet hätte.
Hier in der Soul-Food-Gruppe, sagt sie, gebe es ein ganz anderes Verständnis für ihre Trauer, weil auch die Menschen um sie herum, Personen für den langen Rest des Lebens verloren haben. "Das finde ich ganz schön," sagt sie und setzt sich neben Jannik an den Tisch, Liz quer gegenüber. Mittlerweile ist der reich gedeckt. Auf dem blau-weiß geblümten Tischtuch sammeln sich, Gläser, Bier und Wein, große Salatschüsseln, geschnittenes Brot - eine einladende lange Tafel. Ein Ritual gibt es an jedem Soul-Food-Abend. Bevor das Essen auf den Tellern verteilt wird, stellt sich jeder nochmal vor, sagt, um wen sie oder er trauert, vielleicht auch, was man sich noch an diesem Abend wünscht: über die Toten zu sprechen, über die Trauerfeier oder auch über die nervige Verwandtschaft. Alles ist erlaubt.
Sendung: rbb24 Abendschau, 25.10.2024, 19:30 Uhr