Kommentar | Radwege-Politik in Berlin - Das "neue Miteinander" darf nicht das alte Gegeneinander sein
Die Verkehrssenatorin hat erste Radwege-Projekte freigegeben, die sie zuvor gestoppt hatte. Das ist positiv - aber ob es die CDU wirklich ernst meint mit einem besseren "Miteinander" im Verkehr, bleibt zweifelhaft, kommentiert Thorsten Gabriel.
Grundsätzlich ist das erstmal eine gute Nachricht: Es ist gut, dass Verkehrssenatorin Manja Schreiner (CDU) jetzt die ersten 17 von ihr zwischenzeitlich gestoppten Radwegprojekte wieder freigegeben hat. Noch besser wäre es allerdings, wenn dies nun auch zügig mit den weiteren Radwegen geschähe.
Dass man beschlossene Projekte noch einmal auf den Prüfstand hebt - okay. Wenn bei einer solchen Prüfung tatsächlich Planungsschwachstellen entdeckt werden, die noch beseitigt werden könnten - niemand hätte etwas dagegen. Je geschmeidiger Radverkehr, Fußgängerinnen und Fußgänger, Busse, Straßenbahnen und Lieferverkehr miteinander auskommen, desto besser.
Es geht darum, jahrzehntelange Diskriminierungen zu beseitigen
Aber: Gut miteinander auskommen darf nicht bedeuten, dass es darum geht, den Autoverkehr möglichst unbeeinträchtigt weiter fließen zu lassen und dass alle anderen sich bitte hintenanstellen. Das kann nicht das neue "Miteinander" sein, von dem die Verkehrssenatorin und ihre Partei, die CDU, immer wieder sprechen. Es wäre das alte Gegeneinander. Das hatten wir schon.
Den Verkehrsraum neu zu ordnen und dabei dem Autoverkehr weniger Platz einzuräumen, heißt eben nicht, neue Ungerechtigkeit zu schaffen, sondern - im Gegenteil - alte Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Fußgängern, Radfahrenden, Bussen und Bahnen mehr Raum zu geben, bedeutet, mit Diskriminierungen aufzuräumen, die seit Jahrzehnten bestehen und die viel zu lange unangetastet blieben.
Es bedeutet, die Gestaltung des öffentlichen Raums endlich der Lebenswirklichkeit in dieser Stadt anzupassen.
Verkehrswende geht nur mit sanftem Druck
Natürlich haben der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) und seine Verkehrssenatorin recht, wenn sie sagen: Man bringt Menschen mit einem möglichst attraktiven Nahverkehr zum Umsteigen. Aber erstens hat Berlin - trotz aller Defizite, gerade am Stadtrand - bereits das attraktivste Nahverkehrssystem der Republik und muss sich auch international nicht verstecken.
Und zweitens ist sich die Verkehrswissenschaft ziemlich einig, dass es beides braucht, um Menschen dazu zu bringen, aufs Auto zu verzichten: "Pull"- und "Push"-Faktoren. Also nicht nur ein ÖPNV-Angebot als Magnet, sondern auch (mehr oder weniger) sanften Druck. "Der Effekt von Pull-Maßnahmen ohne eine Kombination mit Push-Maßnahmen ist begrenzt", heißt es auch in einer aktuellen Studie des Umweltbundesamtes zum Thema Verkehr und Klimaschutz.
Der Mensch ist eben ein Gewohnheitstier und neigt zur Trägheit. Isso. Trotzdem setzt die Verkehrssenatorin rein auf Freiwilligkeit. Sie wolle keinen Einfluss auf das Verhalten des Einzelnen nehmen, sie wolle niemanden umerziehen, hat Manja Schreiner zuletzt in einem "taz"-Interview gesagt. "Umerziehen", mit diesem düsteren Begriff schiebt sie eine Aufgabe von sich, die ihr mit dem Amt übertragen wurde. Denn es gehört ja gerade zum Jobprofil einer Verkehrssenatorin, nicht nur dafür zu sorgen, dass der Verkehr fließt, sondern auch zu beeinflussen, welcher Verkehr der Stadt dienlich ist und welcher eher nicht.
Kai Wegner könnte versuchen, woran die Grünen gescheitert sind
Die Verkehrswende ist kein Selbstzweck oder Modetrend. Das wissen auch alle führenden Köpfe in der CDU. Gerade deshalb käme der Union bei der Verkehrswende eigentlich eine wichtige und verantwortungsvolle Rolle zu. Denn sie hat Zugang zu Milieus, in denen viele Grüne und erst recht Linke außen vor sind. Die CDU könnte genau dort, wo sich Menschen von vermeintlich linker Verkehrspolitik bevormundet fühlen, erklären, worum es wirklich geht, und warum Verhaltensänderungen kein Nice-to-have, sondern notwendig sind.
Sie könnte erklären, dass weniger Autoverkehr auch ein Gewinn für diejenigen wäre, die weiterhin aufs Auto angewiesen sind. Das ist eine so verantwortungsvolle wie schwierige Kommunikationsaufgabe – an der die Grünen zu ihrer Regierungszeit gescheitert sind.
Kai Wegner, der sich als CDU-Chef ans Revers heften kann, in seiner eigenen Partei schon oft zwischen konkurrierenden Ansichten vermittelt zu haben, könnte als Regierender jetzt zeigen, dass er es besser kann als die Grünen. Und dass sein Anspruch "Politik für alle" machen zu wollen, nicht nur ein seelenloses Etikett ist. Auf die Räder, fertig, los!
Sendung: rbb24 Abendschau, 06.07.2023, 19:30 Uhr