Trendkampfsport Mixed Martial Arts - Mehr als nur Kämpfen
Mixed Martial Arts gilt als Königsdisziplin des Kampfsports und fasziniert auch hierzulande immer mehr Menschen. Was für manche erst nach purer Gewalt aussieht, hat aber mehr zu bieten als das reine Kämpfen. Von Lukas Witte
Schon im Treppenhaus des tristen Gebäudes in einem Hinterhof an der Bülowstraße in Berlin-Schöneberg nimmt man die spezielle Geräuschkulisse wahr. Wer dem Stimmengewirr, den Schreien und dem lauten Knallen in die zweite Etage und durch eine unscheinbare Tür folgt, der steht plötzlich inmitten eines der bekanntesten Kampfsportstudios der Hauptstadt, dem Spitfire Gym. Ein leichter Schweißgeruch liegt in der Luft, die Fenster sind beschlagen. Denn in dem nur 500 Quadratmeter großen Raum tummeln sich dicht an dicht unzählige Profi- und Hobbysportler, schlagen auf Sandsäcke ein, rangeln auf den Matten oder trainieren den Kampf im Oktagon.
Kampfsport in Deutschland boomt. Auch im Spitfire Gym. Jeden Monat kommen über hundert Neuanmeldungen dazu, wie der Geschäftsführer Yigit Muk erzählt. "Wir sind eines der stärksten kommerziellen Kampfsportstudios in Europa", sagt der 34-Jährige. Egal ob Kickboxen, Thaiboxen, Ringen oder Brazilian Jiu-Jitsu – hier gibt es den richtigen Kurs für jeden Wunsch. Das Studio lockt die Menschen aber vor allem mit der Königsdisziplin des Kampfsports, den Mixed Martial Arts oder kurz MMA.
Der pure Kampf
Das Spitfire Gym ist die erste Anlaufstelle für MMA in der Hauptstadt. Die noch recht junge Vollkontakt-Kampfsportart kam erst in den 90er Jahren nach Deutschland und zeichnet sich vor allem durch ihre Vielseitigkeit aus. Die Kämpferinnen und Kämpfer bedienen sich dabei aus allen möglichen Disziplinen. Egal ob Treten, Schlagen, Clinchen, Werfen oder der Bodenkampf – alles ist erlaubt. Die Kämpfe finden dabei in einem umzäunten Oktagon statt, von manchen auch Cage oder Käfig genannt. Gekämpft wird, bis einer der beiden Kontrahenten aufgibt und abklopft, K.o. geht, oder der Kampf durch den Ringrichter abgebrochen wird. Schutzausrüstung wird dabei kaum getragen.
Für Außenstehende sieht das nach roher Gewalt aus. Für Muk ist es das, was die Sportart so faszinierend macht. "MMA kommt der menschlichen Vorstellung eines puren Kampfes am nächsten. Interessanterweise ist MMA aber auch die Kampfsportart, die den meisten Regeln unterworfen ist", erklärt er. Genau dieser scheinbare Gegensatz würde für Aufmerksamkeit sorgen und ein Interesse bei den Menschen wecken.
Nicht jeder will aber aus diesem Interesse heraus gleich selbst ins Oktagon steigen. Der Hype um die Sportart macht sich vor allem bei den Zuschauerzahlen und Fans der Sportart bemerkbar. In den USA ist MMA längst als eine der Top-Sportarten etabliert. Die Veranstaltungen der Ultimate Fighting Championship (UFC) füllen dort riesige Arenen und Millionen verfolgen die Kämpfe vor dem Fernseher. Auch die sozialen Medien nutzt die UFC als riesigen Marketing-Apperat. Die Top-Kämpfer sind mittlerweile international Berühmtheiten und verdienen Millionen.
Auch hierzulande immer professioneller
Auch in Deutschland ist der Hype angekommen. "Das ist ganz großes amerikanisches Bling-Bling, das hier einen unheimlichen Sog hervorgerufen hat", sagt Michael Behrendt, der in der Szene nur "Gonzo" genannt wird. Gonzo war in Deutschland einer der MMA-Kämpfer der ersten Stunde. Mittlerweile ist der 53-Jährige Trainer in seinem eigenen Gym und Ringsprecher bei "We Love MMA", der größten Mixed-Martial-Arts-Veranstaltungsreihe in Deutschland. Zuletzt moderierte er einen Kampfabend in der Arena am Ostbahnhof, zu der rund 6.000 Zuschauer kamen. "Ich war davor aufgeregt und nervös. Aber das war einfach geil", erinnert er sich. Auch in anderen deutschen Großstädten füllt die Sportart mittlerweile die Hallen.
Die wachsende Fangemeinde bekommt hierzulande dabei ein immer höheres Niveau geboten. "Die Szene ist qualitativ gut aufgestellt. Es gibt mittlerweile einen Haufen guter Trainer, Klubs und Kämpfer. Da werden Jahr für Jahr große Sprünge gemacht und die Qualität steigt immer weiter", sagt Gonzo. Berlin war dabei lange ein schwarzer Fleck auf der MMA-Karte. Zentrum für professionelle Athleten war vor allem NRW. Das hat sich dank des Schöneberger Spitfire Gyms verändert, das mittlerweile einige deutsche Top-Kämpfer hervorgebracht hat.
Einer davon ist Niko Samsonidse. Acht seiner zehn Kämpfe hat der 27-Jährige in seiner Profikarriere bisher gewonnen. Seit 13 Jahren ist er dabei und hat hart für seinen sportlichen Erfolg gearbeitet. "Meistens trainiere ich zweimal am Tag und das Gym ist mehr oder weniger mein zweites Zuhause", sagt er. Er ist zwar professioneller Kämpfer, doch nur die wenigstens können in Deutschland finanziell davon leben. Deswegen geht auch Samsonidse neben dem intensiven Training noch seinem Beruf als Sozialarbeiter nach. "Der Sport hat für mich aber Priorität Nummer eins", sagt er.
Zu brutal für Deutschland?
Gym-Inhaber Muk wünscht sich höhere Preisgelder, um die Professionalisierung weiter voranzutreiben. "Es wird aber gerade besser, weil das öffentliche Interesse steigt. So kommen mehr Sponsoren ins Boot und es werden mehr Tickets für die Veranstaltungen verkauft", sagt er.
Auch die Akzeptanz für die Kampfsportart in der Gesellschaft steigt immer mehr. "Es gab lange das Klischee, dass MMA nur breite, muskulöse und tätowierte Typen aus einem bestimmten zwielichtigen Milieu machen würden. Aber inzwischen hat sich das sehr weiterentwickelt und die Sportart ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen", sagt Profikämpfer Samsonidse.
Auch die mediale Beurteilung von MMA hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert. "Ich erinnere mich noch gut an die ersten Artikel in Zeitungen. Darin war von "Blutboxern" die Rede, die sich unter einsamen Straßenlaternen zum Kämpfen treffen und ohne Regeln aufeinander einprügeln", erzählt Gonzo. Diese Auffassung teilte damals auch die Bayerische Landeszentrale für neue Medien (BLM) und befand die Sportart als zu brutal für den deutschen Fernsehmarkt und potenziell gewaltfördernd. Im Jahr 2010 verbot sie Übertragungen von Veranstaltungen der US-Amerikanischen UFC in Deutschland. Es folgte ein langer Rechtsstreit, bevor es MMA zurück ins deutsche TV schaffte.
Wissenschaftler widerspricht Kritikern
Dabei fehle dieser Kritik eigentlich die wissenschaftliche Grundlage, wie Professor Swen Körner von der Deutschen Sporthochschule in Köln sagt. Er forscht zu den Themengebieten Trainingspädagogik und Martial Research und hat sich eingehend mit Kampfsport beschäftigt. "Wir wissen aus der Rezeptionsforschung, dass das Anschauen von Kampfsportwettkämpfen oder auch Kinofilmen oder Computerspielen, die Gewalt enthalten, nicht den linearen Effekt hat, dass man das in die Realität umsetzt", erklärt er. "Das ist eine naive Betrachtung, die einer wissenschaftlichen Prüfung nicht standhält. Wenn ich mir MMA angucke, werde ich deshalb nicht gewalttätiger. Das geben keine Studiendaten her."
Auch für übermäßige Brutalität gebe es keine eindeutigen Daten. "Da kommt es auf die Definition von Brutalität an. MMA ist ein Kampfsport, der im Vergleich zu anderen uns bekannten Kampfsportarten irritiert, weil einfach auf eine sehr direkte Art und Weise gekämpft wird", sagt Körner. Allerdings sei die Verletzungshäufigkeit ähnlich hoch wie beim Fußball oder Handball, nur die Art der Verletzungen sei anders.
Durch die geringe Schutzausrüstung kommt es bei den MMA häufig zu oberflächlichen Verletzungen – wie Cuts – die schnell bluten. Auch Kopfverletzungen und Gehirnerschütterungen sind häufig. "Die Knockout-Inzidenz, also die Häufigkeit eines K.o. liegt im Boxen aber sogar über der von MMA", erklärt der Wissenschaftler. Das würde daran liegen, dass die Kämpfe im Boxen später abgebrochen werden, weil die Kämpfer zuerst angezählt werden und so die Chance haben, sich zu erholen und mit einer möglichen Kopfverletzung weiterzukämpfen. "Da haben wir komischerweise aber nicht so scharf drüber diskutiert wie bei MMA", stellt Körner fest.
Ein Blick aus dem Käfig über den Tellerrand
Auch Spitfire-Gym-Geschäftsführer Yigit Muk kann mit der Kritik an der Kampfsportart nichts anfangen. Ganz im Gegenteil: Er schreibt MMA sogar einen positiven sozialen Einfluss zu. "Es geht nicht darum, irgendjemanden aufs Maul zu hauen. Kampfsport ist viel mehr, viel durchdachter und kalkulierter. Und er besitzt die Macht, Menschen miteinander zu verbinden. Das ist auch ein großes Element der MMA."
Ihn selbst habe der Kampfsport damals zu einem Lebenswandel bewegt. Muk wuchs in Neukölln auf und gründete schon als Kind eine Straßengang, mit der er immer wieder auch in Schlägerein verwickelt war. "Zwischen meinem elften und 18. Lebensjahr war ich auf der schiefen Bahn und gewalttätig", erzählt er. Nach seinem Hauptschulabschluss lernte er auf der Kampfsportmatte Menschen kennen, zu denen er aufblickte und die ihm einen anderen Weg aufzeigten. "Da habe ich zum ersten Mal gemerkt, dass es vielleicht doch möglich ist, den Sprung zu schaffen, obwohl ich aus Neukölln komme." Einige Jahre später machte er eines der besten Abiture Deutschlands und studierte Psychologie.
Über seinen Werdegang spricht er mittlerweile mit Gefängnisinsassen und Schülern, schrieb ein Buch und war in der Talkshow von Markus Lanz zu Gast. Auch im Spitfire Gym versucht er zu inspirieren. Er schüttelt viele Hände, kennt seine Mitglieder und unterhält sich mit ihnen - auch über Themen abseits des Sports. Wenn man ihn dabei beobachtet, fällt schnell die große Diversität im Studio auf. Hier trainieren Menschen verschiedener Geschlechter, Herkünfte und Altersklassen. Groß, klein, dick, dünn – sie alle kommen zusammen und verfolgen ihre individuellen Ziele. "Es ist ein Ort, an dem man über den Tellerrand hinausschauen kann. Alle sind unterschiedlich, aber begegnen sich gleichzeitig mit dem höchsten Gut des Kampfsports, dem Respekt", sagt Muk.
Neues Gym und volle Hallen
Für MMA sieht er in Deutschland eine große Zukunft. Es sei die am schnellsten wachsende Sportart der Welt, behauptet er. Zumindest im Spitfire-Gym ist der Zulauf so groß, dass sie bald in eine größere Location umziehen werden. "Auf 3.000 Quadratmeter mitten im Zentrum der Stadt", verrät der Inhaber.
Und er ist sich sicher, dass schon bald nicht nur sein Studio, sondern auch die Arena am Ostbahnhof beim MMA-Events bis auf den letzten Platz gefüllt sein wird. "Wenn ich zehn Jahre zurückblicke, dann fanden MMA-Veranstaltungen in Hinterhöfen vor 15 Zuschauern statt. Ich will mir gar nicht ausmalen, wo wir in zehn Jahren stehen können, wenn es mit diesem Wachstum weiter geht", blickt Muk in die Zukunft.
Sendung: rbb24, 07.12.2022, 18 Uhr