Theaterkritik | "Linie 8 und Pudding für alle" - "Was ist Heimat?" als Kernfrage einer ukrainisch-deutschen Performance
Im Rahmenprogramm des Theatertreffens werden in diesem Jahr Performances von und mit ukrainischen Künstler:innen gezeigt. So auch "Linie 8 und Pudding für alle", ein Projekt mit ukrainischen und deutschen Jugendlichen am Jungen Deutschen Theater Berlin. Von Barbara Behrendt
Was macht man, wenn man neu ist in Berlin? Genau, man geht auf den Fernsehturm. Von hier oben lässt sich die Stadt aus sicherer Entfernung begutachten. Kreuzberg und Neukölln: "Abends ist da ne super Atmosphäre!" Und der Alexanderplatz: "Hier sehen wir das Haus der Statistik mit der Aufschrift: Stop Wars!"
Und was ist das für ein seltsamer Stadtteil mit Namen "Wedding"? Da fällt ein Junge gleich mal auf die Knie: "Sophia, willst du mich heiraten?"
Die Hälfte der Jugendlichen kommt aus der Ukraine
Die Premiere von "Linie 8 und Pudding für alle!" hat schon im Herbst am Jungen Deutschen Theater stattgefunden; dem Theatertreffen-Publikum dürfen die 16 Jugendlichen ihre Arbeit jetzt erneut präsentieren. 14 von ihnen stehen an diesem Abend auf der Bühne, etwa die Hälfte kommt aus der Ukraine und lebt erst seit dem intensivierten russischen Angriffskrieg in Berlin. Auf Deutsch, Ukrainisch und Englisch machen sie sich mit ihrem neuen Wohnort vertraut – und werden von den deutschen Jugendlichen mit ihm vertraut gemacht. Sie denken sich Geschichten über die Menschen aus, die in der U8 fahren. Und sie benennen Lieblingsorte: das Café Express neben dem Alexanderplatz. Der Goethepark in Wedding.
Doch was, wenn man an seinem allerliebsten Lieblingsort gerade nicht sein kann? Wie kann man Lieblingsorte in sich bewahren? Gemeinsam machen sie sich auf die Suche: "Das Gefühl an diesem Ort ist total angstfrei. So ein Herz-Bauch-Gefühl. Wenn dieses Gefühl eine Farbe hätte, dann wäre es bei mir auf jeden Fall orange. Wäre das nicht schön, wenn man diesen Ort, dieses Gefühl überall mit hinnehmen könnte? In eine unangenehme Situation in der U-Bahn oder in ein anderes Land?"
Und dann zählen die ukrainischen jungen Menschen auf, was sie vermissen. In Kiew einfach mit Mutter UND Vater durch die Straßen spazieren zum Beispiel. Den Hund. Die Freunde. Das Gefühl von Sicherheit.
Unterschiede so selbstverständlich wie Gemeinsamkeiten
Das Schöne an diesem kleinen, ganz unspektakulären Projekt ist, dass die Unterschiede zwischen den deutschen und den ukrainischen Jugendlichen genauso selbstverständlich Platz haben wie die Gemeinsamkeiten. Auch die deutschen jungen Leute haben mitunter mehrere Heimaten. "Einige von uns sind hier zur Welt gekommen. Ich übrigens nicht", erzählt ein Berliner Junge. "Einige haben mehr als nur eine Heimat. Oder ist Heimat doch nur ein Gefühl?"
Was ist Heimat? Das ist die Kernfrage der 40-minütigen Performance, die weite Räume öffnet. Und große Unterschiede markiert, wenn die ukrainischen Jugendlichen von der Sehnsucht nach ihrem Mutterland sprechen, das für sie nun erst einmal verloren ist. Valeria vermisst ihren Vater, für sie gibt es nur eine Heimat. Auch Katya fühlt sich zwar wohl in Berlin, aber wirklich zuhause dann eben doch nicht. Nisa dagegen teilt ihre Heimatgefühle zwischen Berlin und Istanbul auf – doch auch das ist nicht einfach.
Der Regisseurin Sofie Hüsler ist eine behutsame Annäherung zwischen den alten und den neuen Berliner:innen gelungen. Der Prozess des Probens und einander Kennenlernens steht dabei im Zentrum steht, nicht das Endergebnis. Und doch ist es erhellend und berührend, den Gedanken und Gefühlen der 14 jungen Menschen zu folgen. Bis zur herzerwärmenden, unerwarteten Forderung: "Warmer Grießpudding. Warmer Bauch, ein kleines Stück Kindheit. Das Gefühl von Heimat, so ein bisschen. Dann ist doch klar: mehr Pudding für mehr Heimat! Pudding für alle!"
Sendung: rbb24 Inforadio, 15.05.2023, 6.00 Uhr