Interview | Vertonung von "Das Cabinet des Dr. Caligari" - "Ich habe natürlich ein Tabu gebrochen"
Düster, unheimlich und ohne Worte - der Stummfilm "Das Cabinet des Dr. Caligari" fasziniert Filmfans seit mehr 100 Jahren. Darunter Karl Bartos, Ex-Mitglied der Band Kraftwerk. Er hat den Film auf experimentelle Weise vertont und ist damit auf Tour.
"Das Cabinet des Dr. Caligari" gilt als erster Psychothriller der Filmgeschichte. Das expressionistische Werk entstand 1920 in Berlin und Babelsberg. Der Komponist und Musiker Karl Bartos hat dem Film ein experimentelles Klanggewand geschneidert. Das Ergebnis zeigt deutlich Spuren von Bartos' Zeit bei den Elektronik-Pionieren von Kraftwerk. Seit Februar ist er damit auf Live-Tour, in deren Rahmen "Das Cabinet des Dr. Caligari" in einer restaurierten 4K-Fassung gezeigt wird.
rbb24: Herr Bartos, Sie haben "Das Kabinett des Dr. Caligari" vertont. Warum ausgerechnet diesen Stummfilm und nicht "Nosferatu" oder "Berlin, Sinfonie der Großstadt" oder "Metropolis?"
Karl Bartos: Ich habe mit meinen Musikerfreunden in Düsseldorf den Fritz-Lang-Film "Metropolis" in Musik übersetzt. Daraus ist 1978 für das Album "Die Mensch-Maschine" ein Musikstück von sechs Minuten geworden. Danach wollte ich wissen, was da los war in dieser Zeit. Da ist mir dieses Buch in die Hände gefallen: "Die dämonische Leinwand" von Lotte Eisner. Und darin bin ich über einen Satz gestolpert, der sinngemäß aussagte, das neue Medium Film habe die expressionistische Weltanschauung, die Psychoanalyse und die mystische Geisterwelt der Romantik miteinander verbunden. Bang, das war's.
Und dann habe ich diese Bilder gesehen von Dr. Caligari und Cesare, dem Schlafwandler im Film, der von Dr. Caligari zum Töten angestiftet wird. Ein Typ, in den 20er Jahren so aussah wie die Popstars der 60er Jahre, wie alle männlichen Sänger, die ihn kopiert haben. David Bowie, Lou Reed - alle sind Cesare.
Mich hat diese Optik sehr fasziniert. Das war der erste Film, den man als Filmkunstwerk bezeichnete. Der Film hat schiefe Gebäude, das Bühnenbild ist gemalt, alles expressionistisch und ziemlich psychedelisch. Damals hatte ich auch meine ersten LSD-Trips hinter mir. Und ich hatte die Bücher von Kafka schon gelesen. Das faszinierte mich.
Dazu passt, was die expressionistische Malerin Gabriele Münter einst gesagt hat: Man muss die Welt aus den Augen eines Kindes sehen. Wir vergessen die Form der Objekte, wir vergessen die Perspektive. Wir haben unsere eigenen Farben. Wir nehmen die Welt wahr, ganz subjektiv.
Hier in Berlin finden immer wieder Stummfilm-Konzerte statt, in der Zwölf-Apostel-Kirche zum Beispiel mit Stephan Graf von Bothmer, der am Klavier begleitet. Bei den Originalen gab es immer eine Klavierbegleitung. Wenn man Ihre Musik hört, wird man förmlich weggeblasen. Da ist ein Riesenorchester dabei, denkt man. Aber das Orchester kommt aus dem Computer, nicht wahr?
Es kommt aus meinem Kopf. Ich hatte ein Symphonieorchester, aber um den Film zugänglich zu machen, hatte ich die Idee, ich muss die Trennung zwischen Bild und Ton aufheben, die der Zeit geschuldet war. Also musste ich alle Geräusche, die nicht auf das Zelluloid gebracht werden konnten, wieder neu erzeugen. Jede Person, die im Film auf den Jahrmarkt geht, habe ich wieder hörbar gemacht. Die hatten damals in Weißensee, wo der Film gedreht wurde, kein Mikrofon, obwohl es die Tonaufnahme schon gab. Alle Menschen hatten damals ja Grammophone.
Man hatte ein riesiges Gewächshaus, weil man das Tageslicht brauchte. Und die Leute haben einen irren Lärm gemacht damals. Es gibt eine Aufzeichnung vom Geschehen am Drehort, da kann man hören, wie alle durcheinander schrien. Es war ein Höllenlärm. Als ich davon las, dachte ich, wenn ich will, dass die Menschen in die erzählte Welt einsteigen, dann muss ich die Welt auch erzählen lassen.
Auf dem Jahrmarkt ist auch eine Drehorgel. Es gibt nichts Berlinerischeres als eine Drehorgel. Die habe ich dann so erzeugt, als würde sie in der erzählenden Welt passieren. Nun sprechen die Leute durcheinander, machen Quatsch. Da sitzt ein Äffchen auf der Drehorgel, das hört man jetzt auch.
Ich brauchte die Filmmusik, um die Emotionen des Augenblicks zu zeigen. Aber ich brauchte auch die Klänge der Straßen, der Fußtritte der Menschen, das Klopfen und alle Geräusche, die in dem Film vorkamen.
Sie haben dem Film also auch, was ein Novum ist, Geräusche verpasst. Aber ich muss noch einmal nachhaken: Sie, als Pionier der Elektronischen Musik, haben Sie die Symphonik nun künstlich hergestellt oder von einem echten Symphonieorchester einspielen lassen nach Ihrer Partitur?
Erstmal habe ich die Musik am Klavier komponiert, dann habe ich eine Partitur geschrieben, schließlich habe ich das in eine Computerpartitur überführt. Das ist eine sehr klassische Vorgehensweise. Und das haben wir auch mit den verschiedenen Sprachsamples, mit dem Sounddesign, gemacht. Da habe ich mein ganzes Haus aufgenommen. Also vom Dachboden bis zum Keller an alle Türen geklopft, alle Klinken bewegt. Das ist reine Handarbeit. Der Computer ist ein perfektes Mittel, um Dinge zu administrieren.
Herr Bartos, Ihr Soundtrack zu diesem Stummfilm ist also total ungewöhnlich. Vielleicht erklärt das auch die Tatsache, dass er sofort in die Charts eingestiegen ist?
Ich habe natürlich ein Tabu gebrochen. Die meisten Menschen denken, dass diese wahnsinnig tollen Filmemacher der Weimarer Republik aus künstlerischen Gründen Stummfilme gedreht haben. Aber das war ja nicht der Fall. Es war einfach der Zeit geschuldet, diese Trennung von Bild und Ton, weil man diese Tonspur nicht auf das Zelluloid gekriegt hat.
Aber die Schauspieler haben diesen Film ja gespielt. Die haben dabei gesprochen, die sind gelaufen, die haben gepfiffen, die haben geweint, die haben Spaß dabei gehabt. Und weil ich denke, dass der Film sehr, sehr wichtig ist für unsere Kultur, weil er das erste multimediale Kunstwerk ist, habe ich diese Trennung rückgängig gemacht. Meiner Meinung nach verstärkt dieser Tabubruch die Wirkung des Kunstwerks enorm.
Das Album war im März in den Klassic-Charts und in den Top Ten der deutschen Albumcharts. Kam das nicht auch für Sie überraschend?
Ja, seit der Premiere in der Alten Oper in Frankfurt am Main komme ich mir ein wenig vor wie Goethes Zauberlehrling. Die Wogen des Wassers, die kommen, und ich versuche mit meinem Besen da hinterher zu glätten. Aber momentan surfe ich eher auf den Wellen.
Herr Bartos, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Anja Caspary.
Sendung: radio3, 24.04.2024, 18:40 Uhr