Theatertreffen-Kritik | "Die Vaterlosen" - Schauspielkunst der Spitzenklasse
Jette Steckel zeigt beim Berliner Theatertreffen Tschechows frühes Stück "Die Vaterlosen". Das großartige Ensemble feiert eine letzte Party vor dem Abgrund - und Joachim Meyerhoff ist der unumstrittene Star des Abends. Von Fabian Wallmeier
Anna Petrowna braucht das Leergut zurück, bestimmt zehn Flaschen fehlen im Bierkasten. Oder vielleicht ist es auch noch nicht Anna Petrowna, sondern noch Wiebke Puls, die hier zu Beginn von "Die Vaterlosen" vor dem Eisernen Vorhang das Berliner Theatertreffen-Publikum anquatscht. "Sonst bekomme ich keine neue Kiste", sagt jedenfalls Petrowna / Puls.
Und eigentlich bräuchte es diesen Auftakt ohne die vierte Wand zum Publikum, bei dem auch Geld verteilt und durch die Sitzreihen gelaufen wird, nicht. Denn Jette Steckels Inszenierung von den Münchner Kammerspielen ist auch ohne diese Ankumpelei ein mitreißender Theaterabend.
Der Ton jedenfalls ist damit gesetzt: Anton Tschechows sehr langes Frühwerk wird hier nicht bis ins letzte Detail abgebildet und ernst genommen, sondern Steckel und das großartige Ensemble machen ihr eigenes Ding. Und noch etwas schwingt mit: Denn sicherlich muss zwar Wiebke Puls nicht Pfandflaschen sammeln gehen, Anna Petrowna dagegen schon eher.
"Die Vaterlosen" spielt größtenteils am Abend, bevor das Gut der verschuldeten Petrowna versteigert wird. Sie und ihre Gäste feiern eine letzte Party, um die drohenden Umwälzungen weitgehend zu ignorieren, solange es eben geht. Zwar ist unter den Gästen auch der wohlhabende Glagoljew, der bereit sein soll, das Gut zu kaufen und zugleich Petrowna zu heiraten. Doch so richtig mit ihm über das Geschäftliche reden will niemand - und das mit der Heirat kann er auch vergessen.
Misanthropischer Schmier- und Jammerlappen
Zur eigentlichen Hauptfigur des Abends wird der etwas verspätet dazustoßende Platonow (wie auch der alternative deutsche Titel des Stücks lautet - zuletzt zum Beispiel am Deutschen Theater. Joachim Meyerhoff spielt den dereinst eigentlich nach Höherem strebenden Dorfschullehrer - und ist damit, eingebettet in das große, durch die Bank herausragende Ensemble, der unumstrittene Star des Abends.
Meyerhoffs Platonow ist ein misanthropischer Schmier- und Jammerlappen der schlimmsten Sorte. Gleich drei Frauenherzen bricht er an diesem Abend: Petrownas, das seiner Gattin Sascha (Edith Saldanha) und das seiner Verflossenen Sofia (Katharina Bach), frisch Vermählte von Petrownas Stiefsohn. Obwohl oder gerade weil er zwar auch säuseln kann, aber eben auch ziemlich unverblümt seine Meinung sagt.
Doch nicht die drei Frauen, sondern auch alle anderen Menschen behandelt er schlecht - immer kampfbereit, immer herablassend, immer eklig. Es ist eine Freude, mit welcher Larmoyanz und Selbstgefälligkeit Meyerhoff sich durch all die Unverschämtheiten und Anmaßungen spielt, die dieser Platonow raushaut.
"Du bist wirklich hauptberuflich ein Vollidiot, oder?", fragt er an einer Stelle. An einer anderen: "Es gibt nichts Schlimmeres als jemanden zu betrügen, der einem bedingungslos vertraut. Hat aber auch was."
Der Abend ist voll von solchen Sätzen - und wie Meyerhoff sie phrasiert, wie er Pausen platziert, wie er dabei auch seinen Körper einsetzt - das ist tiefsinnige komödiantische Schauspielkunst der Spitzenklasse.
Effektvolle Licht- und Bühnengestaltung
Sehr effektvoll ist auch die Bühne, die erst zu sehen ist, als der Eiserne Vorhang nach etwa einer Stunde aufgeht: Florian Lösche hat Hunderte dünne, biegsame Stäbe in den Boden gesteckt. Durch die zwingen sich die Figuren hindurch, biegen sie zur Seite, nutzen sie als Requisiten oder mähen sie, je weiter die Party voranschreitet, besoffen nieder.
Maximilian Kraußmüller beleuchtet sie mal mit gleißendem Licht von hinten, dann taucht er sie in Rotlicht oder lässt sie nur diffus im Nebel erscheinen.
Der zu Beginn erwähnte Meta-Einstieg ohne die vierte Wand ist nicht das einzige erweiternde, aus dem Tschechow-Text heraustretende Element der Inszenierung. Ebenso unnötig ist das Zweite: Der langjährige Volksbühnen-Dramaturg Carl Hegemann führt da in einer Art Lichtung im Stäbewald ein Interview in der Gesprächsreihe "Dad Men Talking", an jedem Abend gibt es einen anderen Gast.
An diesem ersten Abend in Berlin ist es der Ethnologe Thomas Hauschild, der mit Hegemann kurz über die Kulturgeschichte des Speerwerfens redet. Seine eigentliche Funktion besteht aber darin, sich von Meyerhoffs Platonow niedermähen zu lassen. Das ist zwar ziemlich lustig, aber an Gelegenheiten für Meyerhoff, andere niederzumähen, ist der Abend ohnehin nicht arm.
Schon morgen ist alles vorbei
Sehr viel mehr Sinn ergibt dagegen die dritte offenkundige Erweiterung. Nach der Pause spricht Anna Gesa-Raija Lappe einen kurzen Monolog von Katja Brunner, in dem das Wesen des Opfers reflektiert wird. Er mündet darin, dass Platonow wegen Belästigung angeklagt wird. Und mit ihm all die anderen Männer, die Frauen wie Verfügungsmasse behandeln - so lässt sich jedenfalls der Szenenapplaus an dieser Stelle deuten.
Diese Pause übrigens kommt sehr spät: nach mehr als zweieinhalb Stunden des insgesamt 3:45 Stunden langen Abends. Bis die Pause tatsächlich da ist, scheint es ewig zu dauern.
Schon ein paar Mal hat es da bereits Momente gegeben, die eine Pause nahelegten. Doch die Inszenierung ging einfach immer weiter. Das ist geschickt gemacht, denn der Faktor Zeit spielt hier ja eine große Rolle: Man klammert sich immer weiter an das, was man hat, weil man nicht wahrhaben will, dass es morgen schon vorbei ist.
Platonow bekommt jedenfalls hier am Ende deutlich sein Fett weg. Nach Rappes Anklage schreit ihn Wiebke Puls nach Strich und Faden zusammen und Katharina Bach brüllt ihm ein letztes Lied hinterher. Schlussendlich kriecht er mit letzter Kraft aus dem Saal. Einige Figuren sind da bereits tot oder in eine ungewisse Zukunft aufgebrochen - und Petrowna hat tatsächlich ihr Gut verloren.
Doch eine wichtige Frage bleibt offen: Was ist jetzt eigentlich mit dem Leergut?