74. Internationale Filmfestspiele Berlin - Wo Glamour und Konflikte aufeinandertreffen
Die Berlinale startet, die Fans strömen in die Kinos und ein wenig Glanz legt sich über die Februar-Tristesse. Zwar lief die letzte Festival-Ausgabe von Chatrian und Rissenbeek reichlich verstolpert an. Doch es scheint ein anspruchsvolles Programm zustande gekommen zu sein. Von Knut Elstermann
- Im Mittelpunkt steht der Wettbewerb um den Goldenen und die Silbernen Bären; 20 Filme werden konkurrieren
- Die 74. Berlinale ist letztes Filmfest des Leitungsduos Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian
- Berlinale bereits vor ihrem Start von Protesten begleitet
Mit der gewohnten Mischung aus dokumentarischen Arbeiten und Spielfilm präsentiert sich die Berlinale in diesem Jahr mit einem etwas reduziertem, aber noch immer umfangreichen und vielfältigem Programm.
Sie kann für sich in Anspruch nehmen, ein großes Publikumsfestival zu sein, anders als Cannes und Venedig. In Berlin strömen die Filmfans in die Kinos, auch im eigenen Kiez. Das Festival verwandelt die Stadt im tristen Februar und verleiht ihr etwas Glanz.
Im Mittelpunkt steht naturgemäß der Wettbewerb um den Goldenen und die Silbernen Bären. 20 Filme werden konkurrieren, darunter zwei Debütfilme und zwei dokumentarische Formen. Produktionen aus 30 Ländern sind vertreten, 19 Filme werden als Weltpremieren gezeigt.
Parallel dazu finden die "Encounters" statt, als eigener Wettbewerb - ein Lieblingskind des scheidenden künstlerischen Leiters Carlo Chatrian, das leider stets im Schatten des Hauptwettbewerbs steht.
Verstolperte letzte Ausgabe
Die glücklose Berlinale-Leitung von Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek startet in ihren letzten Jahrgang. Eingezwängt in die Krisen unserer Zeit, am vollends verödeten Potsdamer Platz, der als Festivalzentrum ausgedient hat, stolperte sie auch noch über den ungeschickten Umgang mit der Ein-und Ausladung der AfD.
Der Protest und die verständlichen Ängste der Filmemacherinnen und Filmemacher vor einer Partei, deren Kulturpolitik zu einem Zusammenbruch der europäischen Filmförderung führen würde, waren ein Weckruf und ein Signal für bevorstehende Auseinandersetzungen.
Man fragt sich, was Vertreter einer Partei, deren Ex-Vorsitzender den Holocaust als "Vogelschiss in der Geschichte" bezeichnete, die den angeblichen deutschen "Schuldkult" beklagt und eine "erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad" einforderte, zu einigen der sicher wichtigsten Filme dieses Festivals sagen würden.
Drama über eine mutige NS-Widerstandskämpferin
Mit "In Liebe, Eure Hilde" kehrt der deutsche Regisseur Andreas Dresen in den Wettbewerb zurück. Vor zwei Jahren lief hier sehr erfolgreich sein Film "Rabye Kurnaz vs. George W. Bush". Es gab einen Silbernen Bären für die hinreißende Hauptdarstellerin Meltem Kaptan.
Auch diesmal hat er eine großartige Hauptdarstellerin besetzen können - Liv Lisa Fries - ,die durch die Serie "Babylon Berlin" bereits international sehr bekannt ist. Sie spielt die Widerstandskämpferin Hilde Coppi, die von den Nazis ermordet wurde, nachdem sie im Gefängnis ihr Kind zur Welt brachte: ein menschliches Drama über eine mutige Frau.
Eine Reise nach Auschwitz
Um die Nachwirkungen des Holocaust, um das Leid der Überlebenden geht es in dem neuen Film von Julia von Heinz. Nach dem autobiografischen Bestseller von Lily Brett "Zu viele Männer" drehte sie ihre Vater-Tochter-Geschichte "Treasure". Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs reisen die beiden New Yorker nach Polen in die alte Heimat des jüdischen Vaters, die er nach der Shoah nie mehr betreten wollte. Ihre Fahrt geht von Warschau bis nach Auschwitz, eine schmerzliche Annäherung der beiden, aber auch ein Zulassen von verdrängten Erinnerungen, erzählt mit durchaus komischen Seiten. Julia von Heinz konnte zwei große Stars für ihren Film gewinnen, Stephen Fry und Lena Dunham, die auch eine der Produzentinnen war. Beide werden in Berlin erwartet, wenn "Treasure" seine Premiere als Berlinale Special Gala erlebt.
Internationale Stars in deutschen Filmen
Sehr auffällig in diesem Jahr: Wie Julia von Heinz konnten andere deutsche Regisseurinnen und Regisseure mit internationalen Stars arbeiten. Nora Fingscheidt ("Systemsprenger") verfilmte in Schottland mit Saoirse Ronan die Memoiren von Amy Liptrot über den Kampf gegen die Alkoholsucht. Ihr aufrichtiger und emotionaler Film gehört vermutlich zu den Höhepunkten des diesjährigen Panorama-Programms und ist ein Kandidat für den Publikumspreis von Radioeins und rbb-Fernsehen.
Regisseur Tilman Singer, in Leipzig geboren und in Köln lebend, zeigt seinen Thriller "Coocko" als Berlinale Special Gala, ein Film über dunkle Geheimnisse, Verschwörungen und bizarre Experimente, ein Spiel mit den Genremustern und den Bildern des deutschen Schauermärchens. Die Hauptrolle spielt Hunter Schafer, die durch die HBO-Jugendserie "Euphoria" zum Star wurde.
Keine Ausreise für das iranische Regieduo
Die großen, beunruhigenden Themen unserer Zeit werden sich bei den Filmfestspielen spiegeln, die Lage in der Ukraine ("The Editorial Office" im Forum) und der Nahost-Konflikt ("No Other Land" im Panorama).
Die Politik schlägt schon jetzt auf das internationale Festival durch. Das iranisches Regieduo Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha sind gute Bekannte auf der Berlinale, wo sie 2021 ihren regimekritischen Film "Ballade von der weißen Kuh" im Wettbewerb zeigten. Für "My Favourite Cake", der in diesem Jahr in der Konkurrenz laufen wird, haben sie keine Ausreiseelaubnis erhalten. Sie erzählen von einer älteren Witwe in Teheran, die durch eine späte Liebe die Kraft für einen Neuanfang findet. Der Film ist eine Koproduktion mit Deutschland.
Wird Österreich das Filmland dieses Berlinale-Jahrgangs?
Bei allen Schwierigkeiten, äußeren und hausgemachten, scheint auch in diesem Jahr wieder ein anspruchsvolles Arthouse-Programm zustanden gekommen zu sein, in dem die Abwesenheit des amerikanischen Starkinos durch cineastische Entdeckungen wettgemacht wird.
Gerade Österreich könnte sich dabei als das Filmland des Jahres erweisen, denn es ist mit zahlreichen außergewöhnlichen Produktionen in den einzelnen Sektionen vertreten. Wie so oft im österreichischen Kino sind das innovative, mutige Arbeiten, die in die Extreme gehen wie "Des Teufels Bad" im Wettbewerb. Veronika Franz und Severin Fiala drehten diesen historischen Film über einen wahren Fall aus Oberösterreich im Jahr 1750 und stützen sich dabei auf Gerichtsakten. Die empfindsame Agnes leidet unter der Enge und der Hartherzigkeit ihrer Ehe, ihre Verzweiflung entlädt sich in schreckliche Gewalt.
Eindrucksvoll: Birgit Minichmayr
Ruth Beckermann, eine der renommiertesten Dokumentarfilmerinnen Österreichs, kommt erneut zur Berlinale. Diesmal mit "Favoriten", der Langzeitbeobachtung einer Schulklasse im zweiten Berlinale-Wettbewerb, den Encounters. Josef Hader inszenierte mit "Andrea lässt sich scheiden" (Panorama) einen melancholischen Film über einen Dorfpolizisten in einem großen moralischen Dilemma. Neben ihm selbst ist Birgit Minichmayr zu sehen, die in Berlin 2009 den Silbernen Bären für "Alle anderen" erhielt. Die Burgschauspielerin spielt in einer weiteren österreichischen Produktion mit. In "Mit einem Tiger schlafen" (Forum) von Anja Salomonowitz verkörpert sie die legendäre Malerin Maria Lassnig in verschiedenen Lebensaltern, das eindrucksvolle Porträt einer kompromisslosen Künstlerin.
Auch wenn Birgit Minichmayr diesmal keinen Bären gewinnen kann, ist sie schon jetzt einer der großen Stars dieser Berlinale.
Sendung: radioeins, 15.02.2024, 07:00 Uhr