Interview | Wohnungloser Bundestagskandidat - "Ich wurde in keinem Wählerverzeichnis gefunden"

Sa 02.10.21 | 12:34 Uhr
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Thomas Lindlmair kandidiert im September 2021 als Wohnungsloser für den Deutschen Bundestag. (Quelle: rbb)
Video: rbb24 | 22.09.2021 | rbb24 | Bild: rbb

Thomas Lindlmair hat als erster wohnungsloser Mensch für den Bundestag kandidiert. Im Interview erzählt er, welche Probleme Menschen ohne festen Wohnsitz beim Wählen haben und was er sich von möglichen Neuwahlen erhoffen würde.

rbb|24: Herr Lindlmair, bei der Bundestagswahl haben Sie 190 Stimmen erhalten. War das schon ein Erfolg für einen unabhängigen Kandidaten?

Thomas Lindlmair: Zunächst einmal bin ich stolz darauf. Auch Leute, die mich sicherlich nicht persönlich kannten, haben mir ihre Stimmen gegeben. Wünschenswert wäre allerdings, dass es mehr wären. Aber bei all den Schwierigkeiten, die ich beim Wahlkampf hatte und die drei Wochen Verspätung bei der Lieferung meiner Wahlsticker, ist es verständlich.

Was auch wünschenswert wäre, wenn ich auch mehr Präsenz in den Medien haben könnte. Aber das ist etwas, das viele kleine Parteien betrifft. Bei all den Elefanten-Treffen wäre es auch mal schön, wenn ein Treffen zwischen David und Goliath zustande kommen könnte. Auf dem Podium sind die Großen sechs, aber niemals stehen ein Großer und ein Kleiner sich gegenüber.

Zur Person

Thomas Lindlmair kandidiert im September 2021 als Wohnungsloser für den Deutschen Bundestag. (Quelle: rbb)
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Thomas Lindlmair hat für den Bezirk Neukölln als Einzelkandidat für den Bundestag kandidiert. Als Person ohne festen Wohnsitz fordert er gemeinsam mit der Mieterpartei, die Verankerung des Rechts auf eine Wohnung in der deutschen Verfassung.

Hatten Sie selbst Probleme wählen zu gehen, weil Sie wohnungslos sind?

Ohne festen Wohnsitz musste ich schon vorher viele Vorbereitungen treffen, um überhaupt wählen gehen zu können. Wenn wohnungslose Menschen nicht die Wahlbenachrichtigung erhalten, weil sie keine Adresse haben, macht es vieles schwieriger.

Bis zum 3. September musste man sich registrieren. Aufgrund dieser Registrierung hat man Briefwahlunterlagen erhalten. Auf denen stand, dass man in jedes beliebige Wahllokal des Bezirks gehen kann. Das war bei mir nicht so, denn ich wurde in keinem Wählerverzeichnis gefunden. Ich bin durch drei Lokale geschickt worden und nach unzähligen Telefonaten hat mir der Wahlleiter gesagt, wo ich wählen konnte.

Wie war der Wahlsonntag für andere wohnungslose Personen?

Viele Personen wurden weggeschickt, weil sie nicht im Wählerverzeichnis standen. Oder sie mussten in ein anderes Wahllokal. Wenn zum Beispiel der Personalausweis abgelaufen ist oder noch eine alte Adresse drauf steht. Was ganz üblich ist, denn viele Anträge von wohnungslosen Menschen, um sich an- oder umzumelden, stecken immer noch im Berliner Behörden-Stau fest.

Was sind die Hürden, die wohnungslose Menschen überwinden müssen, um zu wählen?

Wo sollen wohnungslose Menschen ihre Briefwahl-Dokumente erhalten? Und auch wenn sie die erhalten, wenn drauf steht, dass sie in alle Wahllokalen des Bezirks wählen gehen können und das letztendlich doch nicht stimmt, dann gehen diese Menschen auch enttäuscht weg, statt es beim nächsten Wahllokal zu versuchen.

Die Mieterpartei, der Sie angehören, hat bei den Wahlen für das Abgeordnetenhaus (AGH) und für die Bezirksverodnetenversammlungen (BVV) auch recht gut abgeschnitten. Wie sehen Sie das Resultat?

Gemessen an Wahlkampfausgaben in Relation zum Ergebnis sind wir wohl Spitzenreiter. Die Mieterpartei hat weniger als 1.000 Euro für den Wahlkampf für die Bundestagswahl, die Wahl zum Abgeordnetenhaus und die BVV-Wahl ausgegeben. Unsere Mitglieder haben keine großen Einkünfte. Das Geld haben uns Menschen gegeben, die sich das vom Munde absparen mussten.

Wünschen Sie sich, dass die Wahl nach diesen Unstimmigkeiten angefochten wird?

Ja, auf jeden Fall. Aber falls es Neuwahlen geben sollte, müssen sie anders ablaufen. Ich halte es für verfassungswidrig wie Berlin Wohnungs- und Obdachlose von der Wahl ausgeschlossen hat. Mit dem Stichtag, wo sie in der Nacht vom 21. bis 22. August übernachtet haben und dem zweiten Stichtag am 3. September, wo sie sich hätten registrieren lassen müssen, sind eine Menge Menschen einfach rausgefallen.

Außerdem wurde das auch einfach viel zu wenig kommuniziert. In welchem Bezirk soll sich ein Obdachloser registerien, um dann wählen zu gehen, der ja ständig seinen Schlafort wechseln muss. Wobei ein Mensch, der sich nicht bis zum 3. September registriert hat, überhaupt keine Wahlunterlagen erhalten hat. Danach war Schicht im Schacht - ein spätere Möglichkeit war nicht vorgesehen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Efthymis Angeloudis, rbb|24.

Berlin-Wahl – "Andere" Parteien-Ergebnisse, 26.09.2021. (Quelle: rbb|24/S. Bernert)
Berlin-Wahl – "Andere" Parteien-Ergebnisse, 26.09.2021. (Quelle: rbb|24/S. Bernert)

17 Kommentare

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  1. 17.

    Das ist viel zu kurz gedacht. Viele Menschen verlieren durch Schicksalsschläge die Wohnung und nicht durch hohe mieten. Gegen steigende Mieten kann man nicht viel machen, solange die Baukosten steigen.

  2. 16.

    Ob etwas herzallerliebst ist oder nicht ist unerheblich.
    Unverändert gilt mein Kommentar 12.
    Ich will nicht bestreiten, dass die erwähnten Probleme nicht auch wichtig sind, aber darum ging es gerade nicht.
    ",,,,In diesem Beitrag ging es darum, dass die zunehmende soziale Ungerechtigkeit in diesem Staat nicht nur zu Wohnunglosigkeit (siebenstellig) führt, sondern das im Ergebnis auch die Wahrnehmung von bürgerlichen Grundrechten eingeschränkt wird, ein Thema, dass die Bundesgrünen überhaupt nicht auf dem Schirm haben. Die Beseitigung der Ursachen, die zur Wohnungslosigkeit führen, hat absoluten Vorrang vor einem Verschieben der Altersgrenzen nach unten."


  3. 15.

    Ist ja herzallerliebst, wie ihr beleidigender Reflex auf Jugendliche ("Teenies") und auf die Partei Die Grünen funktioniert, und damit bestätigen, dass alte Säcke oftmals wenig verstehen und das Kriterium Alter schon längst seine Legitimation verloren hat.

    Der Kerngedanke, warum die Jugendlichen wählen müssen, ist recht einfach:

    Sie sind von den Entscheidungen der Politik für ihre Zukunft betroffen, ohne ihre Stimme erheben zu können. Und das ist massiv undemokratisch.

    Die zweite Anmerkung betrifft ebenso, die Regelung der undemokratischen 5 Prozent Hürde, die viele kleine, mittellose Parteien, die für die bürgerlichen Parlamente in den Ländern und im Bund unsichtbar werden lassen, obwohl keine Partei davor Angst haben müsste, wenn sie die Vielseitigkeit der deutschen Demokratie in Persona wahrnehmen würde.

  4. 14.

    Das Hauptproblem sind die ständig steigenden Mieten ! Dagegen muß etwas getan werden - auf Bundesebene !

  5. 13.

    Er hat seine Briefwahlunterlagen erhalten: also ankreuzen und ab in den nächsten Briefkasten!!
    Wo ist das Problem?

  6. 12.

    Und was hat das mit dem Kernthema des Beitrages zu tun? Ihre grüne Covorsitzende Baerbock hat schon mehrfach angeführt, dass sie ihre Wahlschlappe darauf zurück führt, dass ihre Sympathisanten bei den Teenies nicht wählen durften. Das hätte ihr aber auch nichts genutzt. 50% dieser Altersgruppe haben sich bei Umfragen für die Liberalen entschieden, sie werden wissen warum.
    In diesem Beitrag ging es darum, dass die zunehmende soziale Ungerechtigkeit in diesem Staat nicht nur zu Wohnunglosigkeit (siebenstellig) führt, sondern das im Ergebnis auch die Wahrnehmung von bürgerlichen Grundrechten eingeschränkt wird, ein Thema, dass die Bundesgrünen überhaupt nicht auf dem Schirm haben. Die Beseitigung der Ursachen, die zur Wohnungslosigkeit führen, hat absoluten Vorrang vor einem Verschieben der Altersgrenzen nach unten.


  7. 11.

    Um die Vielfalt und Chancengleichheit in dieser Demoktratie tatsächlich sichtbar zu machen und oligarchische Parteienstrukturen zu unterbinden, ist

    a) ein vollständiges aktives und passives Wahlrecht Jugendlicher ab 16 Jahren auch auf Bundes- und Landesebene zu normieren

    b) eine Beschränkung, wie die 5 Prozenthürde ist, vollständig bei Bundes- und Landtagswahlen abzuschaffen.

  8. 10.

    Ich muss ebenfalls widersprechen, Benno. Ich hatte in Mitte für meine Kandidatur Unterstützerunterschriften gesammelt. Der Meldeamt-Rückstau und ein Wohnungsloser vereitelten das. Bei einem der Unterstützer stellte sich bei der Überprüfung heraus, dass er bei seiner ladungsfähigen Anschrift, die er auf dem Bogen angab, keinen Wohnsitz mehr hatte, weil er von Amts wegen abgemeldet worden war. Der Stichtag im August lag da noch in der Zukunft, sodass eine Angabe über den Übernachtungsort an diesem Datum nicht klären konnte, wo er wählen darf. Statt dessen war das Bezirkswahlamt der Meinung, die Angabe einer ladungsfähigen Anschrift durch ihn würde NICHT genügen, die wohnsitzlos gewordene Person müsse vielmehr an Eides Statt versichern, wo sie sich in den letzten 3 Monaten überwiegend aufgehalten habe. Allerdings gab der Bezirk diese aus seiner Sicht denkbare Lösung erst auf der Sitzung Kreiswahlausschusses bekannt, mit der zugleich die Frist ablief, das nachzuholen!

  9. 9.

    als "aggressiv" empfinde ich eher Ihre Haltung: wenn es um solche Probleme geht soll plötzlich soll man nicht immer den Staat bemühen, "wer will, der findet auch, es gibt genug Stellen, die helfen" und dergleichen Unsinn mehr. Der Kandidat bemüht sich doch sehr wohl, klärt auf, beschreibt seine Erlebnisse. Sie sind es doch, die sofort ablehnend kommentieren.

  10. 8.

    Wagen sie es nicht mir das Wort im Munde umzudrehen.
    Er hat die Tatsache, dass das reichste Land Europas mittlerweise fast eine Million Wohnungslose hat als Bagatelle dargestellt. Das machen die AfD und die Grünen auch. Dle Letztgenannten haben nur offene Ohren, wenn es um illegale Zuwanderung geht.

  11. 7.

    Na, dann mal los und viel Glück beim Finden einer Meldeadresse im Kiosk o.ä.
    Das war evtl. mal vor 20 Jahren einfach...

  12. 6.

    Ich muss ebenfalls widersprechen, Benno. Ich hatte in Mitte für meine Kandidatur Unterstützerunterschriften gesammelt. Der Meldeamt-Rückstau und ein Wohnungsloser vereitelten das. Bei einem der Unterstützer stellte sich bei der Überprüfung heraus, dass er bei seiner ladungsfähigen Anschrift, die er auf dem Bogen angab, keinen Wohnsitz mehr hatte, weil er von Amts wegen abgemeldet worden war. Der Stichtag im August lag da noch in der Zukunft, sodass eine Angabe über den Übernachtungsort an diesem Datum nicht klären konnte, wo er wählen darf. Statt dessen war das Bezirkswahlamt der Meinung, die Angabe einer ladungsfähigen Anschrift durch ihn würde NICHT genügen, die wohnsitzlos gewordene Person müsse vielmehr an Eides Statt versichern, wo sie sich in den letzten 3 Monaten überwiegend aufgehalten habe. Allerdings gab der Bezirk diese aus seiner Sicht denkbare Lösung erst auf der Sitzung Kreiswahlausschusses bekannt, mit der zugleich die Frist ablief, das nachzuholen! Anfechten?

  13. 5.

    Wer an der Glaubwürdigkeit der Familien mit 5 Kindern seine Zweifel hat, sollte Einblick in die soziale Arbeit in Berliner Brennpunk-Kiezen nehmen. Erweitert den Horzont und schärft den kritischen Blick fürs vermeindlich „Unmögliche.“

  14. 4.

    Benno hat aber Recht. Völlig politisch neutral. Warum sind Sie so aggressiv? Etwas mehr Anspruch an Menschen, die sich zur Wahl stellen wollen, dürfen auch Sie haben. Wer Hilfe vom Staat will, bekommt sie auch. Es gibt auch genug nichtstaatliche Beratungsstellen.

  15. 3.

    Es ist ekelerregend so etwas lesen zu müssen.
    Man kann sie politisch nicht mal richtig einordnen, da dass was sie von sich geben sowohl dem Tenor der AfD als auch der Grünen entspricht.

  16. 2.

    Das finde ich einen sehr interessanten Beitrag. Ich hätte es auch wünschenswert gefunden, wenn ich über die Kandidatur und das schwierige Wahl-Procedere früher informiert (z.B. durch die Abendschau) informiert worden wäre. Auch wenn es bei den vielen kl. Parteien wahrscheinlich wenig Aussichten auf Mandate gibt, interessiert mich doch die Vielfalt im demokratischen Prozess und finde, es hätte darüber mehr berichtet werden können.

  17. 1.

    Die Darstellungen sind teilweise nicht korrekt.
    Wer keinen festen Wohnsitz hat / haben möchte, gibt behördlich eine Ladungsfähige Anschrift an. Und diese Möglichkeiten können sehr vielfältig sein. Bei einer juristischen Person des Vertrauens, der Kiosk im Quartier, vieles mehr. Der "Staat" muss nicht für jeden alles organisieren. Ein wenig Selbstinitiative ist gut, ist klug, ist angebracht. Und letztendlich dürfte das Dargestellte nichts mit den löblichen Wohnungsproblen zu tun haben.

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