Museen und ihr koloniales Erbe - Der Knochenberg
Das größte Dinosaurierskelett der Welt steht in Berlin. In Tausenden Arbeitsstunden wurde es vor Jahrzehnten im Naturkundemuseum montiert. Ausgegraben wurden die Einzelstücke in Tansania während der Kolonialzeit. Sollte es zurückgegeben werden? Von Oliver Noffke
Die Geschichte des größten rekonstruierten Dinosaurierskeletts der Welt beginnt mit einem Zufall. Auf seinem Weg zu einem Bergwerk im Süden des heutigen Tansanias fallen dem Ingenieur und Kaufmann Bernhard Wilhelm Sattler enorme Knochen auf, die am Fuße eines Hügels aus dem Grund ragen. Es ist das Jahr 1906 und das Land Teil der Kolonie Deutsch-Ostafrika. Wind und Wetter nagen an den Knochen, zersetzen sie zu Staub. Sattler bricht einige Stücke heraus und nimmt sie mit nach Deutschland. In der Heimat wird der Fund zu einer Sensation.
Drei Jahre später bricht ein junger Paläontologe aus Herzberg an der Elster auf, um sich den Berg genauer anzusehen, den die Einheimischen Tendaguru nennen: Steiler Hügel. Werner Janensch wird in den folgenden Jahren die bis heute erfolgreichste Ausgrabung von Dinosaurierknochen anleiten. 225 Tonnen an Fossilien werden nach Berlin verschifft.
"Es ist in Tansania nie ein Dinosaurier ausgegraben worden"
Sein Hals reicht fast bis zur gläsernen Decke der imposanten Halle des Naturkundemuseums in Berlin. Fast 14 Meter ist der Giraffatitan brancai hoch. Um ihn herum sind die Überreste weiterer Dinosaurier aufgestellt. Anderswo auf der Welt wäre jede Installation für sich eine Sensation. In Berlin stehen sie im Schatten eines Riesen. Über Jahrzehnte war dieser so etwas wie das Kronjuwel des Hauses. Dann kamen die Massen, um Tristan zu sehen. Nun, da der Tyrannosaurus rex in Dutzende Kisten verpackt und nach Kopenhagen gesandt wurde, ist der langhalsige Pflanzenfresser wieder der Herr im Haus.
"Die Besonderheit an diesen Objekten ist, dass in den letzten 110 Jahren über 200 wissenschaftliche Arbeiten von Forscherinnen und Forschern in diesem Haus, aber auch aus der ganzen Welt heraus, geschrieben wurden", sagt Professor Johannes Vogel, Generaldirektor des Naturkundemuseums. Ihn ärgert, dass sein spektakulärstes Ausstellungsstück immer wieder in den Mittelpunkt von Debatten über die Rückgabe von kolonialem Erbe gerückt wird. Denn im Gegensatz zu Kulturgütern gebe es in diesem Fall einen bedeutenden Unterschied: Die kulturelle Leistung wurde in Berlin erbracht, so Vogel.
"Es ist in Tansania nie ein Dinosaurier ausgegraben worden", sagt er. "Sondern es sind Gesteinsfragmente mit Fossilien ausgegraben worden, aus denen man dann hier einen Dinosaurier zusammengebaut hat." Tausende von Stunden hätten Techniker im Haus daran gearbeitet, aus Einzelfragmenten Knochen zusammenzusetzen, die dann zu einem Skelett wurden. Was fehlte, wurde rekonstruiert. Selbst das Aufstellen in seiner heutigen Weise sei nicht selbstverständlich, sagt Vogel. Denn die ersten Generationen an europäischen Paläontologen hatten sich noch nicht vorstellen können, dass Dinosaurierbeine Baumstämmen gleich in den Himmel ragten. Man sei anfangs eher davon ausgegangen, sie krochen wie Krokodile und so habe man sie auch drapiert.
Seitdem haben Wissenschaftler in Berlin so einige Entdeckungen an den Funden aus Tendaguru gemacht. So gelang der zeitweise älteste Nachweis der Pagetkrankheit bei dem langhalsigen Tier; einer Krankheit, bei der Knochen verdicken und die auch heute noch Wirbeltiere befällt. Für die Weltraummedizin war das Skelett bereits von Interesse, da es sich um ein extremes Lebewesen handelte, bei dem das Herz Blut quasi in den vierten Stock pumpen musste. Schließlich wurde an der Berliner Konstruktion festgestellt, dass es sich eben nicht um einen Brachiosaurus handelte, sondern um eine eigene Art: den Giraffatitan. Eine Rückgabe stünde aus diesen Gründen überhaupt nicht zur Debatte, findet Vogel. Eine offizielle Rückforderung gibt es bislang tatsächlich nicht.
Es fehlt an Wissen und Gerätschaften für eigenen Entdeckungen
Ähnlich wie Vogel sieht das Charles Saanane. Der Professor für Archäologie unterrichtet an der Universität von Daressalam und beschäftigt sich bereits sein gesamtes Berufsleben mit Tendaguru. Den Giraffatitan hat er sich zum ersten Mal vor 25 Jahren ansehen können. "Mir war bewusst, wie viele Berufsbilder notwendig sind, um solche Überreste so zu rekonstruieren", sagt er heute. "Ich habe angefangen, von einer Kollaboration zu träumen. Das wäre das Beste für Tansania. Die Originale sollten in Berlin bleiben." Allerdings müsse dringend über Kompensation geredet werden, sagt Saanane. "Wir sollten Gespräche mit Deutschland über eine Rückgabe nicht überstürzen", sagt er. "Für uns ist es wichtiger, Wissen zu erlangen und Zugang zu guten Gerätschaften zu erhalten, damit wir selbst neue Fossilien ausgraben können." Hilfe zur Selbsthilfe, sozusagen. Die deutsche Seite wolle demnächst Abdrücke herstellen, die in Tansania gezeigt werden sollen.
Im Dezember haben die Universität von Daressalam und das Berliner Naturkundemuseum ein Memorandum of Understanding unterschrieben. Lange gehegte Absichten für eine Zusammenarbeit sollten damit offiziell gemacht werden. Dabei soll fachübergreifend gearbeitet werden, sagt Saanane. Zoologen, Geologen, Botaniker sowie Mikro- und Molekularbiologen aus beiden Ländern sollen in Tansania das Leben der Dinosaurier sowie die menschliche Evolution erforschen. Die deutsche Regierung wird das Projekt bezahlen. Nur der genaue Umfang ist noch nicht beschlossen. "Bisher läuft alles ganz gut", sagt Saanane. Er hofft, dass Ende des Jahres eine Expedition nach Tendaguru stattfinden kann.
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Nicht jeder sieht das Thema so pragmatisch wie der Naturwissenschaftler. Eine mögliche Überführung der Dinosaurier nach Tansania hat vor Kurzem erst der Botschafter des Landes in Deutschland in verschiedenen Interviews wieder ins Gespräch gebracht. Die Grabungen von Werner Janensch seien nur möglich gewesen, weil das Deutsche Kaiserreich als Kolonialmacht die Gewalt über das Land hatte, sagt auch Flower Manase, Kuratorin am Nationalmuseum Tansanias. "Ich frage mich wirklich, warum wir zwischen kulturellen Objekten und Sammlungen in Naturkundemuseen unterscheiden", sagt sie. "Die Sammlungen entstanden zur selben Zeit und aus den gleichen Motiven."
Für die Ausgrabung hatte Janensch Männer aus der Umgebung angeheuert. "Es haben dort bis zu 500 Menschen aus Afrika gearbeitet und zwei Paläontologen aus Berlin", sagt Johannes Vogel. "Das heißt, die Frage von Gewalt und Blut kann sich hier gar nicht stellen. Zwei Leute können nicht 500 Menschen unterdrücken." Im Rahmen der asymmetrischen Machtverhältnisse innerhalb der Kolonie scheine es in diesem Fall zu einer Art Co-Produktion gekommen zu sein, sagt er. Einen Hinweis dazu, dass die Ausgrabung während der Kolonialzeit stattfand, fehlt im Naturkundemuseum allerdings bis heute. Man sei dazu aber derzeit in Gesprächen mit Experten aus Tansania, um das in diesem Jahr nachzuholen, sagt Vogel. "Wir müssen miteinander reden, sonst würden wir ja mögliche Fehler wiederholen."
Versteckt in Gestrüpp, unwegsam und voller Löwen
Derzeit ist Tansanias Knochenberg nur unter größten Anstrengungen zu erreichen. Tendaguru liegt versteckt im dichten Gestrüpp. Leute, die vor Ort waren, erzählen von einer anstrengenden, holprigen Fahrt; es dauere Stunden vom nächstgelegenen Dorf dort hinzukommen. Zudem sei bewaffnete Begleitung notwendig, weil es in der Gegend sehr viele Löwen und andere Großkatzen gebe. Professor Saanane hat sich im Oktober dennoch dorthin durchgeschlagen. "Ich habe zwischen 1994 und 1996 dort gearbeitet und konnte mich noch an einige Wege erinnern", sagt er. "Aber es ist momentan wirklich gefährlich." Er und seine Kollegen hätten dabei bereits neue Fossilien bergen können.
Die Universität von Daressalam versucht momentan die Regionalverwaltung von einer Straße zur Ausgrabungsstätte zu überzeugen. "Wir müssen herausfinden, wie groß die Lagerstätten von Tendaguru überhaupt sind und wo wir Fossilien finden können", sagt Charles Saanane. Die Regierung sollte den Ort dann für die Unesco-Welterbeliste vorschlagen, findet er. Tendaguru dokumentiere sowohl das Leben längst ausgestorbener Arten als auch die Wege von Säugetieren, Fischen und vielen Pflanzen, die sich daraus ergeben hätten, sagt er. "Ich hoffe, wir finden mehr deutsche Studenten, die mit unseren diese Geheimnisse aufdecken wollen."
Museen und ihr koloniales Erbe
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Das Verbrechen, erschienen am 2. Februar 2020
"Wir müssen anfangen über Rückgabe zu sprechen", erschienen am 9. Februar 2020
Die Überwindung der Berlinisation, erschienen am 23. Februar 2020