Obdachlosigkeit in Berlin - Durchs Raster gefallen
Tausende Menschen wohnen auf Berliner Straßen, Plätzen und in Parks. Flucht, psychische Probleme, Sucht - die Gründe dafür sind divers. Genauso unterschiedlich sind auch die Versuche, ihnen zu helfen. Von Anna Bordel
Länderdreieck, Kreuzberger Ufer: Eine Frau joggt, zwei Menschen musizieren auf metallenen Trommeln, einige Kinder spielen auf einem Baumstumpf. Auf der anderen Seite des Weges wachsen Büsche, in die viele Pfade führen. An einer Stelle wird die Sicht frei auf ein Igluzelt, vor dem Eingang liegen leere Bierflaschen, daneben steht eine Tüte, darunter ein paar Pappen. Gerade scheint niemand da zu sein. Immer wieder geben die Büsche die Sicht frei auf Zelte. Einige sehen aus, als würde sie niemand mehr nutzen, neben anderen liegt eine Menge Zeug, das vermuten lässt, dass dort jemand wohnt. Zumindest zeitweise.
Zeltcamps wie dieses am Landwehrkanal gibt es an vielen Orten im öffentlichen Raum in Berlin. Sie kommen und gehen, sagen die Bezirke. Wissen tun sie nur sporadisch davon, durch Beschwerden von Anwohnern. Für eine genauere Erfassung fehlt das Personal, wie das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg auf rbb-Nachfrage mitteilt.
Bezirke wissen von Hotspots
Manchmal werden Obdachlosencamps ganz offiziell aufgelöst und die Bewohner umgesiedelt wie im Fall des ehemaligen Camps in der Nähe des Hauptbahnhofes. Die etwa 60 Bewohner wohnen seit einigen Tagen in einer festen Unterkunft der Arbeiterwohlfahrt in Wedding. Wie viele obdachlose Menschen es in Berlin gibt, ist schwer zu ermitteln. Die Berliner Stadtmission hat eigenen Angaben zufolge in der vergangenen kalten Jahreszeit in ihren Schlafeinrichtungen der Kältehilfe 3.700 unterschiedliche obdachlose Menschen beherbergt. Im Jahr davor waren es noch 2.699 verschiedene.
Die Bezirksämter wissen grundsätzlich, an welchen Orten es häufiger zu Obdachlosen-Camps kommt. In Friedrichshain-Kreuzberg ist es laut Bezirksamt am Ufer des Landwehrkanals und rund um den Ostbahnhof, aber auch auf anderen Grünflächen. In Neukölln ist es den Angaben zufolge vor allem am Hermannplatz, am Britzer Tor und am Maybachufer der Fall. Das Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf berichtet von Camps am Bahnhof Zoo, Stuttgarter Platz und Bundesplatz.
Wenn dem Bezirk ein Standort bekannt wird, werde den Menschen dort sofort Hilfe angeboten, sagt Christian Berg, Sprecher des Bezirksamtes Neukölln. "Den obdachlosen Menschen wird eine Unterbringung sowie weiterführende Unterstützung angeboten. Eine Kontaktaufnahme ist nicht in jedem Fall möglich. Oft werden die Unterbringungsangebote der Sozialarbeiter:innen durch die betroffenen Personen abgelehnt", so Berg.
Auch die Bezirksämter Charlottenburg-Wilmersdorf und Friedrichshain-Kreuzberg bestätigen, dass Sozialarbeiter den Menschen, die obdachlos sind, Unterkünfte und Hilfe anbieten würden. Da sich Anwohner häufig über Müll der entstehenden Camps beschwerten, müsse der Bezirk darauf häufig reagieren und diesen abholen lassen, teilt der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg mit.
Die meisten Obdachlosen kommen aus anderen Ländern
Den obdachlosen Menschen zu helfen, gelingt dabei nicht immer. Barbara Breuer, Sprecherin der Berliner Stadtmission, ist es wichtig, zu betonen, dass es sich bei Obdachlosen um eine sehr diverse Gruppe handelt. Gründe, warum Menschen auf der Straße landen, sind ihr zufolge sehr unterschiedlich.
"Das können Menschen sein, die strafverfolgt sind in ihrem Heimatland, zum Beispiel aus Polen. Oder Menschen, die suchterkrankt sind. Dann gibt es Menschen, die psychische Erkrankungen haben, das sind 70 bis 80 Prozent auf der Straße. Und natürlich auch Menschen mit Fluchthintergrund", so Breuer. 27 Prozent der Obdachlosen, die Kältehilfe in Anspruch genommen haben, sind laut Statistiken der Stadtmission im letzten Winter Deutsche gewesen, im Jahr davor waren es 30 Prozent.
Kleine Hütten auf Zeit
Nicht allen könne auf die gleiche Weise geholfen werden, sagt Breuer. "Die eigene Wohnung ist gar nicht immer der Schlüssel zum Glück. Einige würden das gar nicht schaffen, selbstständig in einer eigenen Wohnung zu leben. Sie brauchen zusätzlich noch andere Arten der Betreuung. Oder davor noch andere Dinge. Zum Beispiel einen Entzug". Manche Unterkünfte würden den Bedarf der Menschen schlicht nicht treffen. "Wenn Übernachtungsunterkünfte um 22 Uhr schließen, dann ist das für manche Menschen kein realistisches Angebot", sagt Breuer. Wer schwer alkoholabhängig sei, könne keine zehn Stunden in der Unterkunft ohne Alkohol aushalten. Daher seien vor allem Unterkünfte beliebt, die auch bis spät in die Nacht hinein geöffnet hätten.
Eine niedrigschwellige Idee für ein Hilfsangebot testet das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg aus. In sogenannten Little Homes können obdachlose Menschen bis zu zwei Jahre übernachten und bekommen in dieser Zeit Unterstützung, dauerhaft aus der Obdachlosigkeit zu finden. Little Homes sind kleine Holzhütten mit nicht viel mehr als einem Bett. Für sanitäre Anlagen sowie Müllabholung ist gesorgt. Derzeit testet der Bezirk mit drei Little Homes, wie erfolgreich das Projekt ist, berichtet Sozialstadtrat Oliver Nöll (Linke). Wenn es funktioniere, würden noch mehr aufgestellt, sagt Nöll.
Extra-Projekt für nicht-deutsche Obdachlose schließt bald
Barbara Breuer von der Stadtmission lobt vor allem das Projekt "Schutz und Neustart für Menschen ohne Obdach" (Sun) in Berlin-Mitte. 88 Menschen, deutscher Herkunft und auch jene, die hier nicht sozialhilfeberechtigt sind, weil sie aus dem Ausland kommen, können dort unterkommen. Sie erhielten Hilfe dabei, eine Wohnung und einen Job zu finden und was sie sonst noch brauchen, um zurecht zu kommen, so Breuer. Beispielsweise psychologische Betreuung oder ein Platz im Altersheim.
"Sun ist für Menschen, die durch das Raster der Behörden fallen, die aber trotzdem da sind und von der Straße wollen", sagt sie. Finanziert ist das Projekt allerdings nur bis November, dann muss es schließen. Dass der Bedarf für diese Art von Hilfe da ist, zeigt sich an den Zahlen: 700 Menschen musste die Stadtmission laut Breuer im ersten Quartal 2023 ablehnen, weil sie bereits voll sind. 700 Menschen, die nicht aus Deutschland kommen, irgendwo auf den Berliner Straßen und Plätzen leben und das ändern wollen.
Sendung: Fritz, 18.05.2023, 18:00 Uhr