Langes Warten auf ein Sterbehilfegesetz - "Wer sterben will, muss sterben dürfen"

Sterbehilfe ist laut Bundesverfassungsgericht unter bestimmten Voraussetzungen nicht mehr strafbar. Um Missbrauch zu verhindern, wollte der Bundestag ein "Schutzkonzept" beschließen - bis heute ohne Erfolg. Von Wolf Siebert
Rosemarie Lowack aus Berlin-Reinickendorf hatte vor kurzem ihren 85. Geburtstag. Das Blumengesteck mit den roten und gelben Rosen steht noch auf dem Wohnzimmertisch - dazu ein rotes Herz und ein bunter Schmetterling.
Obwohl sie schwer gehbehindert ist, ist die pensionierte Lehrerin lebensfroh und aktiv. Zum Thema "Sterbehilfe" hat sie eine klare Haltung: "Mir ist eine selbstbestimmte Entscheidung wichtig. Ich will die Freiheit haben, sagen zu können: Jetzt ist Schluss!" Die Sterbehilfe könne die Angst vor dem Sterben nehmen. Frau Lowack ist deshalb Mitglied in der "Deutschen Gesellschaft für humanes Sterben" (DGHS), die Helfende für einen "assistierten Suizid" vermitteln würde.

Als das Bundesverfassungsgericht vor fünf Jahren die Sterbehilfe entkriminalisierte, freute sie sich sehr. Demnach müssen Ärzte keine Sterbehilfe leisten, sie können es aber. Wütend sei sie aber darüber gewesen, dass sich der Bundestag 2023 nicht auf ein Sterbehilfegesetz einigen konnte. "Das war Denkfaulheit. Die Abgeordneten waren zu feige, sich zu entscheiden, wie der Weg zu einem Tod in Würde aussehen soll."
Auch Rosemarie Lowack möchte, dass beim assistierten Suizid Missbrauch verhindert wird. Das Bundesverfassungsgericht hatte in seinem Urteil ausdrücklich erwähnt, dass der Gesetzgeber ein entsprechendes Schutzkonzept erlassen könne. Doch das gibt es bis heute nicht.
Bundestag konnte sich nicht auf Sterbehilfegesetz einigen
2023 lagen dem Bundestag zwei Vorschläge für ein solches Schutzgesetz vor. Beide waren fraktionsübergreifend entwickelt worden und nicht an einzelne Parteien gebunden. Der Vorschlag einer Gruppe um den SPD-Abgeordneten Lars Castellucci wollte die geschäftsmäßige Sterbehilfe, also das wiederholte Assistieren bei Suiziden, erneut unter Strafe stellen und nur in engen Grenzen zulassen.
Außerdem waren Beratungs- und Begutachtungsgespräche sowie eine Wartezeit zwischen Suizidentscheidung und der assistierten Umsetzung vorgesehen. Damit sollten Menschen, die sich in einer akuten Lebenskrise befinden, geschützt werden. Patienten mit schweren psychischen Erkrankungen sollten zunächst eine Beratung und eine Therapie angeboten bekommen. So sollte abgeklärt werden, ob sie trotz Krankheit selbstbestimmt zu einer Entscheidung fähig sind.
Ein weiterer Vorschlag kam von einer Gruppe um die FDP-Abgeordnete Katrin Helling-Plahr. Hier war zentral, dass ein Recht auf Hilfe zur Selbsttötung gesetzlich festgelegt werden sollte. So hätte das Thema aus dem Strafrecht herausgelöst werden sollen. Beratung und Prävention standen ebenfalls im Vordergrund. Die Länder wurden aufgefordert, staatlich anerkannte Beratungsstellen einzurichten.
Gemeinsam war beiden Entwürfen, dass Suizidwilligen der Zugang zu tödlich wirkenden Medikamenten ermöglicht werden sollte. Zum Beispiel durch eine Änderung des Betäubungsmittelgesetzes. Auch sollte die Werbung für Hilfe zur Selbsttötung reguliert werden.
Mehr assistierte Suizide
Die Zahl der sogenannten "Freitodbegleitungen" ist in Deutschland in den letzten Jahren gestiegen. Die drei größten Organisationen Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS), Dignitas-Deutschland und Sterbehilfe-Deutschland haben nach eigenen Angaben 2024 in 977 Fällen Suizidassistenz geleistet. Das sind rund 100 mehr als im Vorjahr.
Im Jahr 2023 starben in Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamts rund 10.300 Menschen durch Suizid, mehr als je zuvor. Die Deutsche Depressionshilfe schätzt, dass 15- bis 20-mal so viele Versuche unternommen werden.
Auch Winfried Hardinghaus, Vorsitzender des Vereins "Deutscher Hospiz- und Palliativverband", wünscht sich ein Schutzkonzept. "Wir brauchen verbindliche Regeln: Es muss sichergestellt werden, dass die Beratung durch Fachleute erfolgt und die Suizidentscheidung freiwillig und selbstbestimmt ist." Das sei nicht immer gegeben, sagt er. "Es sollte auch nicht mehr möglich sein, mit der aktiven Suizidbegleitung Gewinne zu erzielen."
Hardinghaus ist zudem Chefarzt der Klinik für Palliativmedizin am Berliner Franziskus-Krankenhaus. Seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts würden Patienten häufiger nach einem assistierten Suizid fragen. "Wir sind aber für das Leben", sagt er, "und nicht dafür, das Leben zu beenden. Damit sind wir das Gegenmodell zum assistierten Suizid." Für sich persönlich lehnt Hardinghaus es deshalb ab, sich an assistiertem Suizid zu beteiligen.
"Wir sind nicht in einer Grauzone"
Michael de Ridder, einer der bekanntesten Palliativmediziner Deutschlands, sieht das anders. "Wer sterben will, muss sterben dürfen" lautet der Titel eines seiner Bücher. Der Berliner Arzt war einer der Kläger, die das Urteil vor dem Bundesverfassungsgerichts erstritten hatten. Er nennt den Castelluci-Entwurf aufgrund der Hürden, die er aufstelle, ein "Suizidhilfe-Verhinderungsgesetz".
Im Gegensatz zum "Hospiz- und Palliativverband" glaubt de Ridder, dass eigentlich gar kein neues Sterbehilfegesetz nötig ist: "Die Suizidhilfe findet schon jetzt nicht in einem rechtsfreien Raum statt. Wir sind nicht in einer Grauzone. Wenn wir uns an die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts halten, ist jeder Arzt auf der sicheren Seite."
Das Bundesverfassungsgericht habe die freie Verantwortlichkeit des Suizidwilligen zur Voraussetzung gemacht. Die Entscheidung müsse selbständig getroffen werden, und die Betroffenen müssen in der Lage sein, die Folgen abzusehen. Ein Arzt sollte dies intensiv begleiten, ein Psychiater gegebenenfalls ein Gutachten schreiben. Man könne Betroffenen auch Beratungsangebote über Alternativen zum Suizid machen. De Ridder ist überzeugt, dass sich viele Ärzte zu wenig mit dem Thema beschäftigen und deshalb nach Regeln verlangen.
Wie wichtig diese gesetzlichen Regeln sind, zeigt ein aktueller Fall aus Berlin: Ein Arzt, der Suizidhilfe geleistet hatte, musste sich vor Gericht verantworten und wurde verurteilt - weil er sich mutmaßlich nicht an die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gehalten hatte.
Sterbehilfe als "unregulierter Markt"
In einem aktuellen Radio-Feature des Bayerischen Rundfunks kritisieren zudem Experten, dass sich nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Sterbehilfe ein "unregulierter Markt" entwickelt habe. Auch Bestatter und Einzelpersonen seien als Sterbehelfer tätig, häufig ohne Kontrolle. In dem Feature heißt es, es fehle an Daten und an Transparenz. Außer in München. Dort haben Mediziner Todesbescheinigungen analysiert und dabei zwischen 2020 – 2023 77 assistierte Suizide identifiziert.
Ein Viertel der Patienten habe unter Depressionen, Demenz oder kognitiven Einschränkungen gelitten. Nicht in allen Fällen sei ein Psychiater hinzugezogen worden, um herauszufinden, ob die Patienten tatsächlich die Einsicht in die Folgen ihrer Suizidentscheidung hatten und in der Lage waren, diese Entscheidung "freiverantwortlich" zu treffen. Die Freiverantwortlichkeit des Einzelnen hat aber das Bundesverfassungsgericht in den Mittelpunkt seiner Entscheidung von 2020 gestellt.
Frage nach dem richtigen Zeitpunkt
Rosemarie Lowack hat klare Vorstellungen, wann das Leben für sie nicht mehr lebenswert und würdevoll ist: "Wenn ich nicht mehr der bin, der ich war." Sie meint damit ihre Lebendigkeit, die Fähigkeit, am Leben teilzunehmen, Kontakte zu pflegen. Das schließe auch ganz alltägliche Dinge ein - wie sich selbst waschen zu können. Das sei ihr wichtig.
An den neuen Bundestag hat sie einen Wunsch: "Ich möchte, dass der Staat das zumindest duldet, wenn ein Mensch sich das Leben nehmen möchte und andere Menschen dabei helfen müssen, denn ich möchte ja nicht vom Turm springen."
Kreisen Ihre Gedanken darum, sich das Leben zu nehmen? Sollten Sie selbst von Selbsttötungsgedanken betroffen sein, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe. Bei der Telefonseelsorge finden Sie rund um die Uhr Ansprechpartner, auch anonym.
Telefonnummern der Telefonseelsorge: 0800 / 111 0 111 und 0800 / 111 0 222 www.telefonseelsorge.de
Sendung: rbb24 Inforadio, 26.02.2025, 9:08 Uhr