KV Berlin reduziert ärztliche Leistungen - Warum die Wartezeit auf einen Arztpraxis-Termin ab Januar noch steigen könnte
Jeden fünften Patienten behandeln ambulante Ärzte für lau, kritisieren Verbände. Nun folgt Protest über Umwege: Berliner Ärzte könnten ab 2024 weniger Patienten annehmen. Dadurch kann der Terminmangel steigen. Von Jenny Barke und Christina Rubarth
- Im Durchschnitt bekommen Ärztinnen und Ärzte 80 Prozent ihrer Leistungen von den Krankenkassen bezahlt
- Die Politik hebt das Budget nicht an
- Nun bietet die Kassenärztliche Vereinigung Berlin ihren Ärzten an, dass Praxen 10 Prozent weniger Patienten behandeln können
- Die Folge: Patienten könnten noch länger auf Termine warten
Ramona Dornbusch ist auf der Suche nach einem neuen Hausarzt. Sie will sich von Kopf bis Fuß durchchecken lassen, telefoniert und schreibt zig Praxen in ihrer Wohngegend an, zwischen Rudow und Buckow. Mit mäßigem Erfolg: Telefonisch erreicht sie keine Arztpraxis. Deshalb versucht sie es über die Online-Plattform "Doctolib" und ergattert schließlich einen Termin. "Das ging dann erstaunlich schnell, weil es ein Arzt in Weiterbildung war."
Doch dann die Ernüchterung: Wenige Tage nach der digitalen Bestätigung sagt ihr die Praxis per Mail wieder ab. Der Grund: Die Praxis will ihren Patientenstamm um zehn Prozent verringern. Eine Möglichkeit, die sich daraus ergibt, dass die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Berlin auffordert, die ärztlichen Leistungen ab Januar zu reduzieren. Die KV setzt sich für die Belange niedergelassener Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und -therapeuten und ihrer Praxen ein.
Protest über Umwege
Es handelt sich um einen Protest gegen Krankenkassen und Bundespolitik, den die KV anzettelt - gegen eine aus ihrer Sicht unfaire Vergütung. Es geht um die sogenannte Budgetierung, die vor mehr als drei Jahrzehnten eingeführt wurde. Demnach zahlen die Krankenkassen in den meisten Bundesländern nur 80 Prozent der medizinischen Behandlungen.
Ein Beispiel: Praxen bekommen das Budget für 800 Patienten. Kommen aber in bestimmten Phasen des Jahres mehr Patienten als zuvor veranschlagt, durch die Grippewelle oder andere Kranken-Hochphasen, werden die zusätzlichen Behandlungen nicht mehr bezahlt. Auch wenn am Ende beispielsweise 1.000 Patienten in der Praxis behandelt wurden.
Die KV ändert deshalb jetzt das System, erklärt Christiane Wessel, Gynäkologin und Vorstandsvorsitzende der KV Berlin: "Vereinfacht dargestellt werden die Praxen ab Januar nur noch so viele Patient:innen medizinisch versorgen und entsprechende Behandlungsfälle abrechnen, wie sie von den Krankenkassen bezahlt bekommen."
Überflüssige Behandlungen mit 80%-Budgetierung vermeiden
Die Kritik der KV Berlin an diesem System teilt ein Großteil der ambulanten Ärzteschaft. Der Virchowbund vertritt etwa 144.000 dieser niedergelassenen Haus- und Fachärzte bundesweit. Der Vorsitzende des Interessenverbands, Dirk Heinrich, zieht noch weitere Vergleiche heran: "Wenn fünf Patienten kommen, wird einer nicht bezahlt. Oder anders: Die letzten zwei Wochen jedes Quartals werden nicht bezahlt." Die Budgetierung trage seiner Meinung nach nicht dazu bei, den Arztberuf attraktiver für den Nachwuchs zu machen.
Der Spitzenverband der Krankenkassen, GKV, verteidigt das System. Auf Nachfrage heißt es: "Die Budgetierung [...] wurde eingeführt, um überflüssige Behandlungen auf Kosten der Beitragszahlenden einzudämmen."
Patientenbeauftragte: Problem nicht gelöst
Virchowbund-Vorsitzender Heinrich hält das es für eine unverschämte Unterstellung, dass sie für die Rendite überflüssige EKGs machen würden. "Dabei kann es sich keiner mehr heute leisten, Personal und Technik einzusetzen, die keiner braucht", sagt Heinrich. Am Bundesland Bayern sehe man zudem, dass die Leistungen deshalb nicht ausgeweitet würden: Dort werden 100 Prozent der Behandlungen auch budgetiert.
Die Berliner Patientenbeauftragte Ursula Gaedigk versteht den Unmut der Ärzteschaft. Allerdings glaubt sie nicht, dass der Aufruf der Kassenärztlichen Vereinigung, die ärztlichen Leistungen zu reduzieren, Gewinner schaffe. "Der neue Honorarverteilungsmaßstab ermöglicht den Arztpraxen nur, für ein gleichbleibendes Honorar weniger Patienten zu behandeln. Dadurch steht den Arztpraxen aber nicht mehr Geld zur Verfügung, ihre Kosten zu decken", sagt Gaedigk. Stattdessen seien die Leidtragenden ab Januar die Patientinnen und Patienten.
19.000 Euro Reingewinn pro Monat pro Arzt laut Krankenkassen-Verband
Dennoch werden mutmaßlich viele Praxen der Empfehlung der Kassenärztlichen Vereinigung nachkommen. Eine von ihnen: die Gemeinschaftspraxis Alt-Buckow. Weil sie ihren Patientenstamm nun um zehn Prozent reduzieren will, muss sie auch der Neupatientin Ramona Dornbusch absagen. "Es ist eine Entscheidung, die uns nicht leichtgefallen ist, aber es ist letzten Endes das Einfachste, wie wir zumindest ein bisschen unsere Fallzahlen kontrollieren können, ohne unsere Stammpatienten vor die Tür zu setzen", sagt Allgemeinmediziner Florian Krüger.
Der Spitzenverband der Krankenkassen sieht hingegen die Zukunft der ambulanten Versorgung nicht so düster wie die Vertretungen der Ärztinnen und Ärzte. "Im Gegenteil: Praxisinhaberinnen und -inhaber hatten 2021 pro Kopf einen durchschnittlichen Reinertrag von über 19.000 Euro pro Monat. Diese Summe ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen", teilt GKV-Sprecher Helge Dickau dem rbb mit. Aus seiner Sicht ermöglichten die Beitragszahlenden der gesetzlichen Krankenversicherung den Ärztinnen und Ärzten damit ein sehr ordentliches Einkommen.
Lauterbach appelliert an Ärztinnen und Ärzte
Auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) behauptete im Oktober, dass Ärzte mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 250.000 Euro rechnen könnten.
Hausarzt Florian Krüger hält solche Angaben für wenig sinnvoll in der Debatte. "Wir können Herrn Lauterbach gerne mal einladen, gemeinsam Kontoauszüge durchzuschauen. Man ist fernab von solchen Summen." Man dürfe auch die steigenden Kosten von Miete, Strom, Gas und Wasser nicht vergessen. Hinzu kämen die Gehälter für die Medizinischen Fachangestellten, kurz MFA. "Auch die müssen adäquat bezahlt werden, auch da müssen die Gehälter steigen können", so Krüger. 17 MFA beschäftigt die Gemeinschaftspraxis Alt-Buckow.
Protestaktion "Praxis in Not"
Um auf die aus ihrer Sicht prekäre Lage im Gesundheitswesen aufmerksam zu machen, protestieren zwischen den Jahren mit der Aktion "Praxis in Not" Hunderttausende MFA bundesweit. Ärztinnen und Ärzte sollen sich mit den MFA solidarisieren, so der Wunsch des Virchowbunds. Zusätzlich zu urlaubsbedingten Schließungen könnten so Praxen zwischen Weihnachten und Neujahr wegen des Protests geschlossen bleiben. Nach Schätzungen des Virchowbunds sind in Berlin etwa zwei Drittel der Praxen nicht geöffnet.
Bundesgesundheitsminister Lauterbach hat kein Verständnis für die großflächigen Praxisschließungen zwischen Weihnachten und Neujahr. "Jetzt, wo jeder Zehnte krank ist und die Praxen voll sind, wo die Menschen wirklich die Versorgung brauchen. Ich appelliere an die Kollegen, die Praxen offen zu halten", sagt Lauterbach dem rbb.
Lauterbach verspricht Reform für Arztpraxen
Verständnis zeigt er aber dafür, dass Ärzte für eine bessere Bezahlung und gegen den großen Bürokratieaufwand in ihren Praxen protestieren.
Auch die Entbudgetierung, die Virchowbund und Berliner KV fordern, habe das Bundesgesundheitsministerium im Blick, so Lauterbach weiter. "Wir arbeiten schon seit Monaten an einer Reform. Die Entbudgetierung der Hausärzte wird kommen, das ist fest zugesagt, das steht sogar im Koalitionsvertrag." Mitte Januar treffe man sich mit den Hausärzten. Zudem habe das Gesundheitsministerium versucht, die Bürokratie abzubauen. Seit Dezember gebe es wieder die telefonische Krankschreibung, im Januar soll das E-Rezept kommen.
Patientin Ramona Dornbusch in Rudow möchte nicht so lange warten, bis sich die Lage entspannt hat. Am Ende hat sie doch noch einen Arzt gefunden, der sie behandelt. Allerdings ohne Termin. Sie soll in die offene Sprechstunde kommen. Und warten.
Sendung: rbb24 Abendschau, 28.12.2023, 19:30 Uhr