Wahlkreise, Direktmandate, Listenplätze - So kann sich die Berliner Wiederholungswahl auf den Bundestag auswirken
Für die politischen Mehrheiten im Deutschen Bundestag ist die Berliner Wiederholungswahl schon rechnerisch kaum von Gewicht. Aber für einzelne Abgeordnete kann die Wahl sehr wohl einen Unterschied machen. Eine Analyse von Christoph Reinhardt.
Vor allem bei den Linken war kurz vor Weihnachten die Erleichterung nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts groß. Nachdem die Partei bei den Bundestagswahlen 2021 unter der Fünf-Prozent-Hürde geblieben war, durfte ihre Fraktion überhaupt nur deswegen in den Bundestag einziehen, weil neben dem Leipziger Abgeordneten Sören Pellmann die beiden Berliner Urgesteine Gregor Gysi und Gesine Lötzsch ihre Wahlkreise direkt gewonnen hatten. Würde nur einer von beiden bei der Wiederholungswahl scheitern, müssten alle anderen, die ihre Mandate einem Listenplatz bei den Linken verdanken, ebenfalls den Bundestag verlassen.
Durchaus denkbar zwar bei einer vollständigen Wahlwiederholung, wie sie der Berliner Verfassungsgerichtshof für die parallel durchgeführten Abgeordnetenhaus- und Bezirkswahlen angeordnet hatte.
Aber mit Blick auf die konkreten Wahlergebnisse von Gysi und Lötzsch bei der Teilwiederholung schon rechnerisch ausgeschlossen. Denn in gerade einmal 455 der 2.256 Berliner Wahlbezirke hatten die Bundesrichter mandatsrelevante Fehler feststellen können – und nur für diese Wahllokale die Wiederholung angeordnet. Zwei der Berliner Bundestagwahlkreise mit den wenigsten Wahlproblemen aber waren just Treptow-Köpenick (drei Prozent der Wahlberechtigten betroffen) und Lichtenberg (3,7 Prozent).
Zwei unantastbare Linke
Dass Gregor Gysi in Treptow-Köpenick unter keinen Umständen zu schlagen ist, sieht man auf den ersten Blick: Mit über 55.000 Erstimmen hatte Gysi mehr als 30.000 Stimmen Vorsprung vor der Zweitplatzierten SPD-Kandidatin Ana-Maria Trasnea. Von der Wahlwiederholung betroffen sind im Wahlkreis 84 aber gerade einmal 7.650 Wahlberechtigte.
Etwas genauer hinsehen mussten die Linken bei Gesine Lötzsch und ihrem Wahlkreis 86 in Lichtenberg. Von ihren gut 37.000 Stimmen entfielen mehr als 35.500 auf Wahllokale ohne Probleme, sie bleiben Lötzsch auf jeden Fall. Selbst wenn die fast 6.000 Lichtenberger Wiederholungswähler plötzlich geschlossen für die zweitplatzierte Anja Sigrid Ingenbleek von der SPD stimmen würden, hätte Lötzsch noch immer rund 2.500 Stimmen Vorsprung.
Völlig neu gemischt werden dagegen die Karten im Wahlkreis 76, der ganz überwiegend in Pankow liegt. Wegen der vielen Wahlfehler hat das Bundesverfassungsgericht die Ergebnisse von 181 der insgesamt 215 Pankower Wahllokale für ungültig erklärt. Anders gesagt: In Pankow dürfen mehr als 85 Prozent der Wahlberechtigten am 11. Februar ihre Wahlentscheidung vom September 2021 noch einmal neu treffen.
Problembezirk Pankow
Der grüne Wahlkreissieger von 2021, Stefan Gelbhaar, hatte damals die den Stimmenanteil seiner Grünen fast verdoppelt – aber von den damals über 46.000 Erststimmen kann er gerade einmal 3.695 wieder mit ins Rennen nehmen. Im Vergleich zur Konkurrenz ein Startnachteil, weil Wahllokale mit besonders hohem Grünen-Anteil stärker von Wahlfehlern betroffen waren.
Gelbhaars zuletzt schärfster Konkurrent, Klaus Mindrup von der SPD, geht mit 6.095 Stimmen ins Rennen, gefolgt von CDU-Stadträtin Manuela Anders-Granitzki (3.836) und dem damaligen Fraktionsvorsitzenden der Linken im Abgeordnetenhaus, Udo Wolf (3.824). Würde die Wiederholungswahl komplett boykottiert, müsste sich Gelbhaar mit Platz vier zufriedengeben – nur knapp vor dem AfD-Kandidaten Götz Frömming (3.486).
Entscheidend für einen Erfolg der Direktkandidaten dürfte zum einen sein, wie gut es ihnen gelingt, ihre potenziellen Wähler überhaupt an die Wahlurnen zu bewegen. Die Wahlbeteiligung am "Superwahltag" am 26. September 2021 lag in Pankow bei außerordentlich hohen 78,4 Prozent – und dürfte bei weitem nicht erreicht werden.
Wie wichtig wird der Bundestrend?
Mindestens genauso wichtig aber ist die Frage, wie weit der für die Ampel-Parteien ungünstige Bundestrend auch in Pankow durchschlägt. Legt man die jüngsten Deutschlandtrends von Infratest dimap als Maßstab an, könnte das Wahlergebnis der AfD auch doppelt so hoch ausfallen, die Werte der SPD und FDP sich halbieren. Die CDU würde zwar deutlich zulegen, aber auf einem in Pankow traditionell niedrigen Niveau von rund zwölf Prozent, so dass es für die im Vergleich zu 2021 fast stabilen Grünen vergleichsweise gut aussieht. Aber auch unabhängig vom Wahlausgang am 11. Februar kann Stefan Gelbhaar gelassen sein – selbst wenn er sein Direktmandat verliert, ist er über einen sicheren Listenplatz abgesichert.
Genauso geht es der CDU-Spitzenkandidatin von 2021, Monika Grütters in Reinickendorf. Ein Platz im Parlament ist ihr sicher, auch für den Fall, dass sie den denkbar knappen Vorsprung vor dem SPD-Abgeordneten Torsten Einstmann (1.876 Erststimmen) in ihrem Wahlkreis nicht halten kann. Möglich wäre es durchaus, denn im Wahlkreis 77 können rund 55.000 Wahlberechtigte bei der Wiederholungswahl ihre Stimmen neu vergeben. Deutlich wahrscheinlicher ist aber aufgrund des für die CDU günstigen Bundestrends, dass es für Grütters nach dem deutlichen Stimmenverlust 2021 (-9,3 Prozentpunkte im Vergleich zu 2017) wieder nach oben geht.
Manche sind über Listenplätze abgesichert …
Auch der ehemalige Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) kann froh sein, dass sein Platz im Bundestag auch über die Landesliste abgesichert ist. Wegen des ungünstigen Bundestrends seiner Partei dürfte er die schlechtesten Chancen haben, seinen Wahlkreis Charlottenburg-Wilmersdorf zu verteidigen.
2021 kam Müller mit nur knapp 10.000 Stimmen Vorsprung am langjährigen CDU-Wahlkreisgewinner Klaus-Dieter Gröhler von der CDU vorbei. Der war von gut 30 Prozent deutlich abgerutscht (-7,8 Prozentpunkte) und hat nun reichlich Spielraum, bei einem nun deutlich günstigeren Bundestrend seine Scharte wieder auswetzen: In Wahlkreis 80 sind mehr als 40 Prozent der Wahlberechtigten erneut zur Wahl aufgerufen. Hoffnung machen kann sich auch die heutige grüne Bundesfamilienministerin Lisa Paus: 2021 lag sie nicht einmal 6.000 Stimmen hinter Müller auf dem zweiten Platz.
Vergleichbar ist auch die Ausgangslage in Tempelhof-Schöneberg: Alle drei aussichtsreichen Direktkandidaten von SPD, CDU und Grünen sind über Listenplätze abgesichert – und die Abstände überschaubar. Der Wahlkreissieger von 2021 und heutige SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert lag gerade 2.500 Stimmen vor der grünen Konkurrentin Renate Künast und knapp 9.000 vor dem langjährigen Wahlkreisgewinner der CDU, Jan-Marco Luzcak.
Dessen Chancen für ein Comeback sind aber deutlich kleiner als für Parteifreund Gröhler in Charlottenburg-Wilmersdorf. Denn anders als dort war im angrenzenden Wahlkreis 81 von den "Chaos-Wahlen" nicht viel zu spüren, weniger als zehn Prozent der Wahlberechtigten sind von der Wiederholungswahl betroffen.
Selbst bei der unwahrscheinlichen Annahme, dass die Wahlbeteiligung ähnlich hoch sein könnte wie 2021 (76,9 Prozent) und Kühnert trotzdem keine einzige Stimme bekommen würde, müssten sich fast die Hälfte der Wiederholungswählenden für Luczak entscheiden, um ihn noch weit genug nach vorne zu bringen. Etwas besser sind die Chancen von Künast, aber selbst wenn die Grüne angesichts des schwierigen Bundestrends alle ihre Wähler halten könnte, müsste SPD-Mann Kühnert rund zwei Drittel seiner Wähler von 2021 verlieren.
… andere nicht
Die gute Absicherung der meisten Direkt-Kandidaten trifft allerdings diejenigen auf den unsicheren letzten Listenplätzen, die 2021 für den Einzug in den Bundestag gereicht haben. Wer am Ende (wieder) drin ist und wer draußen, hängt dabei nicht nur vom Wahlerfolg der eigenen Partei ab, sondern auch von der Wahlbeteiligung: Je weniger Stimmen in Berlin ausgezählt werden, desto weniger Plätze entfallen auf Berlin.
Sorgen müssen sich selbst Leistungsträger ihrer Parteien machen, wie die Generalsekretärin der Berliner CDU, Ottilie Klein oder die amtierende Landesvorsitzende der Grünen, Nina Stahr. Eine Wackelpartie werden kann die Wiederholungswahl auch für die erst im vergangenen Jahr in den Bundestag nachgerückte frühere SPD-Staatssekretärin Ana-Maria Trăsnea werden sowie Pascal Meiser von den Linken, Lars Lindemann von FDP und Götz Frömming von der AfD.