Verzerrte Studien im Sport - Die Sportlerin, das unbekannte Wesen

So 13.08.23 | 07:44 Uhr | Von Fabian Friedmann
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Die Ruderin Pia Greiten. (Bild: IMAGO / Eibner)
Bild: IMAGO / Eibner

In wissenschaftlichen Studien sind Frauen unterrepräsentiert. Diese "Gender Data Gap“ kann im Sport zum Problem werden, wenn Leistungsdiagnostik und Trainingspläne keine frauenspezifischen Bedürfnisse berücksichtigen. Von Fabian Friedmann

Die Ungleichheit der Geschlechter hat viele Ausprägungen. Zumeist hat ihre nüchterne Beschreibung einen Anglizismus zur Folge. Es gibt beispielsweise den "Gender Pay Gap", also das Lohngefälle zwischen den Geschlechtern. Die ist vielen in unserer Gesellschaft ein Begriff, nicht zuletzt durch die in der Öffentlichkeit diskutierten unterschiedlichen Prämien für Männer und Frauen in der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Ein weiterer Begriff, der nun vermehrt in den Medien in Zusammenhang mit Leistungssport auftaucht, ist das sogenannte "Gender Data Gap".

Diese Bezeichnung bedeutet, dass Frauen deutlich unterrepräsentiert sind in wissenschaftlichen Studien, die Datenlage entsprechend gering. Und das kann auf den Regelbetrieb von professionellen Sportlerinnen mehr Auswirkungen haben, als man es zunächst vermuten würde. Denn: "Die Daten, die wir an Männern gewinnen, können nicht auf Frauen übertragen werden", sagt die Sportwissenschaftlerin Jana Strahler von der Universität Freiburg.

Nur sieben Prozent der Studien frauenspezifisch

Im Leistungssport betreffen diese wichtige Themen wie Verletzungen, Therapien, Physiologie und Leistungsdiagnostik. Diese werden in der Regel an Männern erforscht. Die Studien, die sich in der Sportwissenschaft bewusst mit frauenspezifischen Fragen auseinandersetzen, machen dagegen aktuell nur etwa sieben Prozent aus. Ein viel zu geringer Anteil, findet Jana Strahler. Bei Versuchspersonen liegt der weibliche Anteil immerhin zwischen 35 und 40 Prozent - allerdings stellen viele Studien keinen Geschlechtervergleich her.

Das ist deswegen ein Problem, weil sich die weibliche Physiologie von der männlichen deutlich unterscheidet. Damit sind die Ergebnisse solcher Leistungsstudien häufig nicht auf Sportlerinnen anwendbar. Ein Beispiel verdeutlicht das: Auf Basis vieler Studien, etwa zur Leistungsdiagnostik, werden Pläne zur Trainingsgestaltung entworfen. Diese verfolgen zumeist einen Zyklus zwischen intensiver Belastung und folgender Regeneration. Die Erholungsintervalle zwischen den ersten Trainingseinheiten sind bewusst kurz gewählt, um den Belastungsreiz zu erhöhen. Erst die längere Erholungsphase danach führt zu einer weitgehend vollständigen Regeneration.

Mikrozyklus nicht auf Menstruationszyklus anwendbar

Dieser sogenannte Mikrozyklus ist aber mit dem weiblichen Menstruationszyklus, der zumeist 28 Tage lang dauert und vor und nach der Periode sehr schmerzhaft sein kann, kaum vereinbar. "Man kann beides nicht übereinanderlegen", sagt Jana Strahler, die als Sportpsychologin den Zusammenhang von sportlicher Aktivität mit Stress und mentaler Gesundheit erforscht hat.

Aber warum wird in Studien der Leistungsdiagnostik und der anschließenden Trainingssteuerung nicht mehr auf die Besonderheiten des weiblichen Körpers eingegangen?

Probleme auf Trainer- und Funktionärsebene

Eine erste Erklärung liefert die Datenerhebung selbst. Ein Argument, was laut Sportwissenschaftlerin Strahler häufig angeführt wird: "Studien an Frauen seien kosten- und zeitintensiv. Das bezieht sich vor allem auf die hormonellen Schwankungen einer Frau." Außerdem sei die weibliche Physiologie erst in den letzten zehn Jahren in den wissenschaftlichen Fokus gerückt. Das habe sicher auch etwas mit dem Bedarf zu tun, so Strahler. Waren 1996 bei Olympischen Spielen in Atlanta noch etwa 30 Prozent der Teilnehmenden weiblich, so werden in Paris 2024 die Hälfte aller Athleten Sportlerinnen sein.

Ein weiterer Grund für die geschlechtsspezifische Benachteiligung liegt auf der Trainer- und Funktionärsebene. Der Sport ist dort ein sehr männlich geprägtes Feld. Nur 20 Prozent des Führungspersonals in den Landessportbünden sind weiblich. "Trainer und Funktionäre sind aber häufig verantwortlich für Trainingspläne und bestimmen, was und wer gefördert wird", erklärt Jana Strahler.

Studie zum Zyklus am Ruderstützpunkt

Eine, die seit ihrer Jugend gefördert wird, ist die Ruderin Pia Greiten. Die gebürtige Niedersächsin hat an ihrer Schule in Osnabrück mit dem Rudersport begonnen und ist so in den Leistungssport gerutscht. Ihren Lebensmittelpunkt hat die 26-Jährige mittlerweile nach Berlin verlegt, wo sie am Bundestützpunkt der Frauen für ihr großes Ziel Olympische Spiele trainiert. Im Verein und in der Nationalmannschaft wird Greiten ausschließlich von Männern betreut. Für sie aber kein Problem. "Das, was ich ansprechen möchte, kann ich auch mit einer männlichen Vertrauensperson besprechen, sofern das Vertrauensverhältnis passt", sagt Greiten.

Die Ruderin engagiert sich aktiv bei Athleten Deutschland e.V., einem Verein, der die Interessen von deutschen Kaderathleten und -athletinnen unabhängig und professionell vertritt. Dort wurde bereits vielfältig über das Problem des "Gender Data Gap" diskutiert. Besonders beim Thema "zyklusbasiertes Training" gebe es laut Greiten sportartspezifisch viel zu wenige Daten. Darum habe man am Ruder-Stützpunkt eine Studie mit 20 Athletinnen durchgeführt unter Federführung von Kirsten Legerlotz von der Humbold-Universität zu Berlin. Keine riesige Stichprobe, "aber irgendwo muss man ja mal anfangen", sagt Greiten.

Zwischen eigener Optimierung und Mannschaftstraining

Das Ergebnis der Studie: Bei einigen Athletinnen gab es einen direkten Zusammenhang zwischen Leistungsfähigkeit und Zyklus, bei anderen nicht. Die Ergebnisse der Mini-Studie fließen nun individuell in die Trainingspläne der Sportlerinnen mit ein, auch wenn es in einem Mannschaftssport – Pia Greiten rudert im Vierer – den Trainingsbetrieb vor Herausforderungen stellt.

"Wenn es schmerzbedingt nicht geht, ist da aber Verständnis da", sagt sie. Die Sportlerin ist froh über diese Entwicklung, da sie bereits als Jugendliche Probleme mit Zyklusstörungen hatte: "Auf Basis der Werte kann ich jetzt noch spezifischer das Training anpassen." Man müsse aber immer die Balance zwischen der eigenen Optimierung und sinnvollem Mannschaftstraining finden.

Menstruation im Sport ist dennoch zu häufig ein Tabuthema, gerade in den Vereinen und im Jugendbereich. "Es braucht aber Frauen in den Verbänden, die es zum Thema machen", sagt Jana Strahler. Ein weiteres Problem sieht die Sportwissenschaftlerin bei den Medien. "In der Kabine unter den Leistungssportlern und im Austausch mit den Trainern ist das Thema angekommen. In den Medien zuckt man immer noch ein bisschen."

Je mehr aber das Thema präsent ist, desto mehr ist es in den Köpfen. Tabu und Scham würden dann abgebaut. Ruderin Pia Greiten findet darüber hinaus, dass das Thema auch Teil der Trainerausbildung sein sollte.

In der Kabine unter den Leistungssportlern und im Austausch mit den Trainern ist das Thema Menstruation angekommen. In den Medien zuckt man immer noch ein bisschen.

Jana Strahler, Sportpsychologin

Das Engagement der Emma Hinze

Eine weitere Leistungssportlerin, die offen über das Thema spricht, ist Emma Hinze. Die sechsmalige Bahnrad-Weltmeisterin hatte vor zwei Jahren öffentlich darauf aufmerksam gemacht, dass es eine Beeinflussung durch den Zyklus in Wettkampfphasen gebe und dass sie mit vielen Trainern darüber nicht wirklich reden könne.

Mittlerweile sieht sie eine positive Entwicklung im Umgang mit dem Thema im Leistungssport. "Es wird mehr und auch offener darüber gesprochen, sowohl unter den Sportlerinnen als auch mit den Trainern", sagte die 25-Jährige Ende Juni dem Nachrichtenportal t-online. Zuletzt hatten bereits internationale Spitzensportlerinnen wie Skirennläuferin Mikaela Shiffrin (USA) oder Tennisstar Iga Swiatek aus Polen offen darüber gesprochen.

Trotz dieser positiven Entwicklungen gibt es noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Nach wie vor zieht sich die Ungleichheit der Geschlechter durch alle Strukturen des Leistungssports hindurch. Aus der Sicht von Jana Strahler sind hier auch die Verbände gefordert, für mehr Gleichberechtigung zu sorgen. Denn ein falsch angewendetes Trainingsprogramm kann die Verletzungsanfälligkeit deutlich erhöhen. Stichwort: Kreuzbandriss.

Statistische Häufung von Kreuzbandrissen bei Fußballerinnen

Statistisch gesehen, sind Fußballerinnen sechs Mal häufiger von Kreuzbandrissen betroffen als ihre männlichen Kollegen. Die Häufung hat eine geschlechtsspezifische Ursache und hängt mit dem Körperbau zusammen. "Das breitere Becken der Frau erhöht das Risiko für einen Kreuzbandriss", so Kirsten Legerlotz von der HU Berlin im Interview mit der ARD-Sportschau.

Darüber hinaus neigen Frauen tendenziell zur X-Bein-Stellung, das erhöht die Gefahr, das Knie nach innen zu verdrehen. Muskelmasse und anderes Sprung- und Landeverhalten sind weitere Faktoren. Um hier entgegenzuwirken, gibt es spezifische Trainings, gerade für schnelle Richtungswechsel, bei denen die Bänder besonders hohen Belastungen ausgesetzt sind. "Die sind bei Männern erfolgreicher als bei Frauen, aber es senkt bei beiden deutlich das Risiko", erklärt Jana Strahler. Aber: Trainer müssten darüber auch erstmal Bescheid wissen.

In Zukunft zyklusangepasstes Training

Trotz der nach wie vor dünnen Datenlage gibt es in vielen Sportarten ein allmähliches Umdenken. Frauenspezifische Trainingsmethoden werden immer häufiger angewandt. Die Schweizer Fußball-Frauen trainieren beispielsweise zyklusorientiert, ebenso die Damen-Teams des SC Freiburg und des FC St. Pauli. Ein Modell, das Schule machen könnte, "gerade, was die Belastungs- und Regenerationssteuerung betrifft", meint Sportwissenschaftlerin Strahler. Zudem habe es positive Auswirkungen auf die Psyche: Sportlerinnen fühlten sich gesehen, gehört, wertgeschätzt.

"Im Spitzensport geht es ja vor allem um Leistungsoptimierung. Und da kann zyklusangepasstes Training eine weitere Stellschraube sein", sagt Strahler. "Aber jeder Zyklus ist einzigartig.“ Trainer könnten in Mannschaftssportarten nicht 20 verschiedene Trainingspläne entwickeln. Es brauche hier noch viele Studien mit ausreichend großen Stichproben, zudem müsse man laut Strahler noch mehr auf die Sportlerinnen hören: "Der Zyklus ist gut händelbar, werden Beschwerden aber nicht eindämmbar, dann hat er negativen Einfluss auf die sportliche Leistungsfähigkeit."

Neben dem weiblichen Zyklus gibt es aber noch weitere frauenspezifische Themen, die in Verbindung mit Leistungssport einer grundlegenden wissenschaftlichen Betrachtung bedürfen. Dazu zählen die Auswirkungen von Schwangerschaft, der Anti-Baby-Pille, Ernährung, aber auch geschlechtsspezifische Sportbekleidung.

Auch deswegen haben Jana Strahler und ihre Sportwissenschafts-Kolleginnen die Zusammenarbeit mit fast allen großen deutschen Sportverbänden intensiviert, um für das Thema noch stärker zu sensibilisieren. Das Bundesinstitut für Sportwissenschaft hat darüber hinaus den Forschungsschwerpunkt FeMaLe (Frauen und Mädchen im Leistungssport) ins Leben gerufen, um gezielt die geschlechterspezifischen Forschungslücken zu schließen.

Und vielleicht heißt es auch dank des Engagements von Frauen wie Jana Strahler, Pia Greiten oder Emma Hinze dann demnächst: "Gender Data Gap – problem solved!"

 

Mehr Informationen zum Thema Sport und Zyklus findet sich im Podcast "Blut, Schweiß und Training" von Athleten Deutschland e.V.

Sendung: rbb24|Inforadio, 11.08.2023, 15:15 Uhr

Beitrag von Fabian Friedmann

1 Kommentar

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  1. 1.

    Es ist schon schade und treibt nicht nur mir Falten auf die Stirn, dass es im Sport zunehmend um den Einstieg in den bezahlten Sport geht.
    So wurde es in Interviews bei der Fußball WM der Frauen zum Ausdruck gebracht. Die Bayern kaufen eine einzige Person für mal eben rd. 120 Millionen ein.
    Und selbstverständlich möchte der hier dargestellte Radsport mitmachen.
    Auch schade, dass die Begehrlichkeiten hier als "wir haben ggü. den männlichen Personen Nachholbedarf".

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