Konzertkritik | Trettmann im Lido Berlin - Friede dem Wellblech, Krieg den Palästen

Früher sang Trettmann lustigen Reggae auf sächsisch. Erst als er seinen inneren Blues nach außen kehrte, kam der Erfolg – mit 44 Jahren wird der Leipziger nun für sein gefühltes Debüt "#DIY" gefeiert. Am Mittwoch ist er im ausverkauften Lido aufgetreten. Von Sebastian Schneider
Sie brüllen seinen Namen im Chor. Knapp 1.000 sind gekommen, seit Wochen ist das Lido ausverkauft. Heute haben noch ein paar Verzweifelte auf ebay um Karten gebettelt, vergeblich. Süßlicher Rauch steigt zur Decke. Plötzlich steht auf der Bühne ein schmaler, mittelgroßer Mann in weitem Shirt. Man hat ihn kaum kommen sehen. Die Augen hinter einer Sonnenbrille verborgen, den Kopf unter einer weißen Cap. Trettmann ruft "Hallo Berlin!", aber seine Worte werden vom Jubel verschluckt.
Gerade hat der in Leipzig lebende Sänger und Rapper sein erstes richtiges Soloalbum herausgebracht, "#DIY", "Do it yourself". Die gesamte deutsche Hip-Hop-Szene gönnt ihm seine späte Ernte. Denn gemacht hat Stefan Richter schon immer. Aber er musste erst 44 Jahre alt werden, bis die Leute ihn hörten.
Aretha Franklin beim Staubsaugen
Geboren wird Richter in Karl-Marx-Stadt, er wächst im "Fritz Heckert" auf, der zweitgrößten Neubausiedlung der DDR. Weil er im obersten Stock wohnt, kann er jeden Tag Westradio hören. Dazu kommt die Plattensammlung seiner Mutter: Stevie Wonder, Aretha Franklin, Fleetwood Mac. Zusammen mit ihr tanzt er durch die Wohnung, während sie staubsaugt. "Ich schreib'n Song und mach die Mutti stolz", singt er am Mittwoch. Ihr gefällt das - sagt er.
In den 80ern bleibt Richter wie so viele Kids auf dem Breakdance-Film "Beat Street" kleben. Er kann ihn bis heute fast komplett mitsprechen. "Wir haben uns unsere Adidas-Jacken mit Haushaltsband selbst genäht", erzählt er. HipHop im Osten sei geprägt davon gewesen, dass man sich Dinge erkämpfen musste. Do it yourself eben. Fotos zeigen ihn, wie er vor dem Karl-Marx-Denkmal Headspins dreht.
Als er nach der Wende zufällig einen Reisekatalog über Jamaika in die Finger bekommt, kauft er sich spontan ein Flugticket. Am ersten Abend schleppt ihn jemand auf ein Reggaefestival. Richter verliebt sich, vorher war er nur in Ungarn und der Tschechoslowakei - nach Jamaika ist er ein anderer Mensch. Als Künstlernamen wählt er eine eingedeutschte Version von "Dreadman" - einem Rasta mit Dreadlocks.
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Drake aus Karl-Marx-Stadt - und es funktioniert
All diese Erfahrungen sind auf Trettmanns Album geschwappt: Minimalistischer Hip Hop, getunkt in Dancehall und R’n’B. Im Lido lauscht man düsteren Synthies, zittrigen Hi-Hats, nickt zu einem Bass, der jeden Subwoofer plattwalzt. Der Sound des Kreuzberger Produzententeams "KitschKrieg" ist heruntergekühlt und offen. Deshalb funktioniert er im tiefergelegten Benz an der Tanke genauso wie beim erwachsenen Kochabend, der zum Besäufnis in der Küche ausartet.
Das Trap-Geboller kontrastiert Trettmann mit einem Effekt, den die meisten schon zur Hölle gewünscht haben: Autotune, die Stimmkorrektur, die Gesang glattbügelt, bis er nur noch klebrig süß durch die Boxen fließt. Man kann damit aber auch rumspielen. Weil Trettmann ein besonderes Gespür für Melodien hat, funktioniert das. Bei der Show im Lido verzerrt er seine Stimme, lässt sie sich überschlagen, brechen. In guten Momenten erinnert sie an den Superstar Drake - und es wirkt nicht peinlich. Nach ein paar Minuten nur sind die Leute im Lido viel zu warm angezogen. Trettmann wirft sein Handtuch ins Publikum.
Sein Wohnblock ist längst abgerissen
Als man das erste Mal von ihm hört, hat er sich gerade die sächselnde Kunstfigur Ronny Trettmann ausgedacht - nur, um die verkrampfte deutsche Reggaeszene zu ärgern. Sein Song "Der Sommer ist für alle da" schafft es 2006 ein paar Wochen lang ins Privatradio. Witzig finden das viele, ernst nimmt Trettmann keiner. Danach verbringt er Jahre als Suchender - erst als er aus seiner Vergangenheit schöpft, findet er ans Licht.
An die Wand auf der Kreuzberger Bühne werden schwarz-weiße Bilder geworfen. Sie zeigen die Plattenbauten, die im "Heckert" noch übrig sind. Richters Block steht längst nicht mehr, seine Mutter ist weggezogen.
Seine Jugend hat er im vielleicht stärksten Lied auf "#DIY" verewigt: "Folg dem Wendekind dorthin, wo Ma’ noch Hände ringt. / Unbeschwerte Jahre schnell zu Ende sind. / Dir niemand sagt, dass es’n gutes Ende nimmt", singt er da. "Grauer Beton" sei der Song, den er schon immer habe machen wollen, sagt er. Und den bisher niemand gemacht habe.
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Kein Wort zuviel
Das Lied, das ganze Album, sind noch keine vier Wochen alt, aber im Lido können die Fans fast alle Texte mitsingen. Trettmanns Geschichten sind anschlussfähig, weil er zwar genau beobachtet, aber angenehm im Ungefähren bleibt. Das unterscheidet ihn von vielen langweiligen, gesellschaftskritischen Rappern. Dass er früher regelmäßig von Neonazis auf die Fresse bekommen hat, muss er nicht überdeutlich erzählen. Kein Wort ist zuviel, jede Zeile trifft den Punkt - das hat in dieser Kombination zuletzt Peter Fox hinbekommen.
Trettmann beschreibt "Seelenfänger", die um den Block schleichen, den "Walking Blues", der ihn nachts auf die Straße treibt, Abrutschen und Tod eines geliebten Freundes in "Geh ran". Den Song spielt er am Mittwoch übrigens nicht. Wahrscheinlich passt er in seiner schwer erträglichen Traurigkeit einfach nicht zur Stimmung.
Das 18. Konzert in drei Wochen
Denn die lässt Trettmann dann noch gepflegt eskalieren. Er holt seinen Feature-Gast Megaloh auf die Bühne, die Menge formt einen Kreis. Der Hüne aus Moabit knattert Reimketten aus seinem Brustkasten, ohne Luft zu holen. Und graumelierte Männer in Karohemden, Bierverschütterinnen mit Skatermützen - sie alle pogen, wie bei den Deftones.
Die Show in Berlin ist Trettmanns 18. Konzert in drei Wochen. Er klingt inzwischen recht angeschmirgelt, aber er muss die Welle jetzt reiten, bis sie bricht. Was, wenn sie nie wieder kommt? Die Leute lassen ihn nicht von der Bühne. "Das heute Abend ist unfassbar. Das nächste Mal bauen wir an, damit alle reinkommen", sagt Trettmann, als er seine ganze Bande nach vorne geholt hat. Als letzte Zugabe spielt er nochmal seine Single - ein Song über die Dankbarkeit, es gesund aus dem Dreck geschafft zu haben.
Kurz nach der Veröffentlichung von "#DIY" freute er sich, die Einnahmen würden wahrscheinlich sogar für einen kleinen Urlaub reichen. Jetzt wird es eher ein größerer. Im Winter geht es zurück in die Karibik. Trettmann wird an einem Strand stehen und in die Sonne blinzeln. Knöcheltief im Wasser in den West Indies.
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