Bundesweiter Straftatbestand - Potsdam will bei Fahren ohne Fahrschein keine Anzeige mehr stellen - Berlin bleibt dabei

Do 25.07.24 | 08:44 Uhr
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Tram Haltestelle am Platz der Deutschen Einheit, Potsdam, aufgenommen am 12.07.2022. (Quelle: Picture Alliance/Karl-Heinz Spremberg)
Audio: rbb24 Brandenburg aktuell | 25.07.2024 | Roman Garthoff | Bild: Picture Alliance/Karl-Heinz Spremberg

Wer in Potsdam ohne Fahrschein unterwegs ist, soll keine Anzeige mehr bekommen. Die Grünen würden das auch gerne für Berlin übernehmen, die Justizverwaltung hat sich aber bereits dagegen ausgesprochen. Sie verweist auf das 9-Euro-Ticket.

Wiederholtes Fahren ohne Fahrschein soll in Potsdam nicht mehr zur Strafanzeige gebracht werden. "Die Verkehrsbetrieb Potsdam GmbH wird ab sofort auf eine Strafanzeige bei wiederholtem Fahren ohne Fahrschein verzichten", sagte ein Sprecher der Stadtwerke am Mittwoch.

Vorausgegangen war eine Entscheidung der Potsdamer Stadtverordnetenversammlung, in der der Oberbürgermeister dazu aufgefordert wurde, die Verkehrsbetriebe anzuweisen, zukünftig auf derartige Strafanzeigen zu verzichten.

Geahndet werden soll das Fahren ohne gültiges Ticket aber weiterhin: Auch künftig werde ein erhöhtes Beförderungsentgelt in Höhe von 60 Euro fällig, so der Sprecher. Laut dem Verkehrsbetrieb waren ohnehin nur wenige Fälle von in Potsdam in der Vergangenheit zur Anzeige gebracht worden.

Berlin lehnt Potsdamer Vorgehen ab

Die Berliner Senatsverwaltung für Justiz hat sich dagegen ausgesprochen, Fahren ohne Fahrschein im öffentlichen Nahverkehr künftig nicht mehr als Straftat zu bewerten. "Es würde eine falsche Signalwirkung entfalten, wenn diejenigen, die sich unsolidarisch verhalten, indem sie kein Ticket kaufen, künftig kaum Konsequenzen fürchten müssten", teilte die Justizverwaltung auf dpa-Anfrage mit.

"Neben der zu erwartenden deutlichen Zunahme von Fahrgästen ohne gültigen Fahrschein entstünde somit auch eine Gerechtigkeitslücke zwischen den zahlenden und nichtzahlenden Nutzern des Nahverkehrs", so die Verwaltung. Außerdem biete Berlin bereits ein 9-Euro-Sozialticket an, welches "den Personenkreis mit multiplen Problemlagen" in den Blick nehme.

Nach Angaben der Justizverwaltung wird eine Strafanzeige erst dann erstattet, wenn der betreffende Mensch dreimal innerhalb von zwölf Monaten ohne gültigen Fahrausweis angetroffen wurde. Bis 2023 galt dabei ein Zeitraum von 24 Monaten. "Nach Auskunft der BVG hat die Halbierung des Zeitraums die Zahl der Strafanzeigen erheblich gesenkt."

Grüne sehen Potsdam als Vorbild

Der Berliner Grünen-Fraktionsvorsitzende Werner Graf forderte, Berlin solle dem Potsdamer Beispiel folgen. "Die Strafverfolgung beim Fahren ohne Fahrschein verschärft soziale Probleme und Ungleichheiten, da häufig sozial und gesellschaftlich benachteiligte Menschen betroffen sind." Diese soziale Ungleichheit setze sich bei der Strafvollstreckung fort, wenn die Betroffenen die Geldstrafen nicht bezahlen könnten und deshalb eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen müssten.

Der verkehrspolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus, Tino Schopf, sagte der dpa, die Entscheidung aus Brandenburg bringe neue Bewegung in die Debatte darüber, ob es noch zeitgemäß sei, das Erschleichen von Leistungen als Straftat und nicht als Ordnungswidrigkeit zu verfolgen.

"Wer heute ohne gültigen Fahrschein erwischt wird, kann zur Zahlung eines sogenannten erhöhten Beförderungsentgelts verdonnert werden" sagte Schopf weiter. "Wer nicht zahlt, muss im Extremfall mit einer Ersatzfreiheitsstrafe rechnen."

Die Ampel-Koalition im Bund habe sich dafür ausgesprochen, das Strafrecht an der Stelle zu reformieren. "Das begrüße ich ausdrücklich und halte es für deutlich sinnvoller als lokal beziehungsweise kommunal begrenzte Einzellösungen."

"Erschleichen von Leistungen"

Hintergrund ist, dass das Fahren ohne Fahrschein oder "Erschleichen von Leistungen" in Deutschland generell als Straftat gilt und unter Bundesrecht fällt. Demnach droht hier eine Geldstrafe oder gar eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr. Insofern können die Kommunen zwar die Strafanzeigen aussetzen, nicht aber den Straftatbestand selbst ändern. Auch in anderen Städten wollen die Verkehrsbetriebe künftig auf Anzeigen verzichten.

Sendung: rbb24 Inforadio, 25.07.2024, 07:40 Uhr

 

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61 Kommentare

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  1. 61.

    >“ Schwarzfahren ist eine vorsätzliche Straftat…“
    Ja. Deshalb kann es vom ÖPNV Betrieb auch zur Anzeige gebracht werden. Die Strafe legt dann ein Richter fest.
    >“anstelle 60€ sollten die Strafen auf 250€ erhöht“
    Die 60 EUR sind keine Strafe, sondern ein erhöhtes Beförderungsendgelt, wenn man sich vor Fahrtantritt keinen Fahrschein gekauft hat. Steht in den Beförderungsbedingungen jedes ÖPNV Betriebes.

  2. 60.

    Dann machen Sie Teichert und mich doch mal schlau mit Ihrem Experten-Wissen !

  3. 59.

    Auch jetzt schon muss die BVG keine Strafanzeige stellen, denn Schwarzfahren ist ein Antragsdelikt. Dem ÖPNV Betreiber obliegt es, eine Anzeige zu machen. Die 60 Eus sind sowieso eine zivilrechtliche Angelegenheit und haben mit einer evtl. Strafanzeige nichts zu tun.
    Die Zuordnung Schwarzfahren als Erschleichen von Leistungen zu einer Ordnungswidrigkeit dürfte rechtlich schwierig werden. Denn eine Ordnungswidrigkeit ist die Verletzung von Ordnungsrecht / Verwaltungsunrecht. Das ist Schwarzfahren nicht, weil die Beförderungsbedingungen ÖPNV kein Verwaltungsrecht sind.

  4. 58.

    Sie lassen immer das Gleiche vom Stapel haben aber noch nie geantwortet wer das wie zu welchem Preis umsetzen soll.
    Welche Zusatzkosten verursachen denn Radfahrer gegenüber Fußgänger ? Sie meinen wohl nicht Radwege… die wären sonst Bürgersteig und der kostet nicht weniger.
    Was sie möchten sind Bürokratie und kosten ohne nutzen oder warum haben die Länder das alles wieder abgeschafft, wie sowas in der Art mal eingeführt hatten ?
    Meinen sie die Menschheit und alle Länder sind doof ?

  5. 57.

    Eine ähnliche Haltung bei den Steuern und der Schwarzfahrer hätte auf einmal nix mehr zu essen !

  6. 56.

    "Ich kann das Argument auch nicht nachvollziehen, dass dann wieder mehr Menschen ohne Fahrschein fahren würden, denn die 60 Euro Geldstrafe bleibt ja."

    Nebst zivilrechtlichen Folgen, sprich das Einklagen des erhöhten Beförderungsentgelts.

  7. 55.

    Was sie schreiben ist die juristische Betrachtung.
    Dieser liegt eine Einordnung zugrunde … was ist was….
    Bei allen anderen Dingen wie Parkhaus usw. Handel es sich um private Firmen/Betreiber die dann selbst entscheiden lohnt eine Strafanzeige.
    Auch die BVG kann selbständig entscheiden Strafanzeige ja oder nein.
    Es ist also kein MUSS. Wird das Gesetz geändert hin zur Ordnungswidrigkeit wird der BVG die Möglichkeit genommen selbst festzulegen wen zeigen wir wann an. Die 60€ sind trotzdem zu bezahlen.

  8. 53.

    >“ Und was ist es dann für Sie, wenn jemand ohne zu bezahlen in einer Parkzone parkt?“
    Er begeht eine Ordnungswidrigkeit, weil er den öffentlichen Parkraum unberechtigt nutzt. Diese Nutzungsart ist von der Kommune so bestimmt worden und ist nicht mit der Bereitstellung einer Leistung verbunden. Es ist kein gemieteter Parkplatz.

  9. 52.

    Da haben sie recht und trotzdem finde ich es unverhältnismäßig und sollte geändert werden.

  10. 51.

    Selbstverständlich ist eines der Motive des Falschparkens nicht nur die eigene Bequemlichkeit - möglichst nahe dran an der Haustür -, es geht auch darum, das raumgreifende Gefährt außerhalb von bewirtschafteten Bereichen abzustellen und das bei Umgehen festgelegter Regeln. Insofern ist es eine "Raumerschleichung", wer es so sehen will.

    Würde der knapp bemessene städt. Raum fiskalisch bewertet, käme da Einiges an Erschleichung zusammen.

    Es scheint zu selbstverständlich geworden, private Gerätschaften einfach auf öffentl. Grund & Boden abzustellen, Regeln hin & her; bei vorschriftswidrig abgestelltem Sperrmüll, bei dem eine Schublade des Schrankes noch eine Rechnung ggü. dem Urheber aufweist, würde jedenfalls anders verfahren, als in zugestellten Bereichen innerh. dicht besiedelter Wohngebiete, in denen Menschen nicht mehr von einem Bürgersteig zum anderen kommen.

    Bei unter 1 % Fehlverhalten wäre ja alles in Ordnung. Bei 90 % zugestellten Kreuzungen nicht.

  11. 50.

    Wie viele Menschen fahren bei einem Deutschlandticket oder einem 29-Euro-Ticket für Berlin denn wirklich noch ohne Fahrschein? Das werden wohl relativ überschaubare Zahlen sein. Ich finde die Entscheidung von Potsdam daher völlig nachvollziehbar und wünschte mir, Berlin würde auch diesen Weg gehen. Ich kann das Argument auch nicht nachvollziehen, dass dann wieder mehr Menschen ohne Fahrschein fahren würden, denn die 60 Euro Geldstrafe bleibt ja.

  12. 49.

    Im Endeffekt ist es doch ein spekulatives Geschäftsmodell. Wie oft kann ich fahren ohne zu bezahlen, und ab wann rechnet es sich, auch wenn ich erwischt werde. 60 € ist doch als Risikofaktor eine lächerliche Summe.

  13. 48.

    Es bleibt ja eine Straftat, weil sich das zugrundeliegende Strafgesetzbuch nicht durch wundersame Weise geändert hat. Hier gehts wohl eher auf den Verzicht der Strafanzeige, also "Wo kein Kläger da kein Richter".
    Das heißt das Schwarzfahren ist natürlich eine Straftat, die aber mangels einer Anzeige nicht geahndet werden kann. Nun könnten aber "schlaue" Mitfahrer auf die Idee kommen, selbst eine Strafanzeige gegen den erwischten Straftäter zu stellen; was passiert eigentlich dann und wie konsistent ist dann das Ganze überhaupt? Ist es wirklich so schlau, vorbei am Strafgesetz Dinge einseitig durch Unterlassung "regeln" zu wollen?

  14. 47.

    "Was hindert mich daran, nicht selbst schwarz zu fahren, wenn es keine Auswirkungen hat?"

    Es hat doch Auswirkungen, denn bezahlen müssen die ertappten Menschen die 60 Euro ja noch. Es wird dann lediglich nicht mehr zur Strafanzeige gebracht.

  15. 46.

    Mein Nachbar neben meiner Galerie hat 23 Ordnungswidrigkeiten wegen Falschparken gesammelt:() er wird es weiter tun.

  16. 45.

    "Ausserdem Fahrradfahrer sollten endlich auch zur Kasse gebeten werden. Ich finde es unglaublich das man als Fahrradfahrer nicht beteiligt wird an den verursachten Kosten. "

    Was haben ihre Fahrradfahrer mit Schwarzfahren zu tun? Aber schön, dass sie mal wieder themenfremd ihr Lieblingsthema abarbeiten konnten.

  17. 44.

    Ich bin da irgendwie gespalten, denn es verletzt mein Gerechtigkeitsempfinden. Wozu gehe ich dann eigentlich arbeiten, finanziere selbstverständlich über meine Abgaben und Steuern die Gesellschaft, zahle für ein Ticket im ÖPNV, wenn andere diese Solidarität als Einbahnstraße nutzen. Was hindert mich daran, nicht selbst schwarz zu fahren, wenn es keine Auswirkungen hat? Eine "high trust"-Gesellschaft funktioniert so nicht. Konsequent wäre dann ein kostenfreier ÖPNV.

  18. 43.

    "Schwarzfahren ist quasi wie Diebstahl. Es wird eine geltwerte Leistung genutzt, ohne dafür zu bezahlen wie es die anderen Nutzer es auch tun."

    Und was ist es dann für Sie, wenn jemand ohne zu bezahlen in einer Parkzone parkt? Ist das dann auch quasi Diebstahl für Sie? Alle anderen Autofahrer müssen dort schließlich auch bezahlen.

  19. 42.

    Ich fahre jeden Tag mit der ODEG von Potsdam nach Frankfurt/Oder in der 1. Klasse. Ich kenne somit alle Ausreden der Fahrgäste was das nicht bezahlen betrifft! „ Ach, habe ich gar nicht gesehen das ich in der 1.Klasse bin!? Oder einige Mitarbeiter von TESLA die jeden Tag sich einfach in 1. Klasse aufhalten und dann bei einer Kontrolle doof tun und wieder die Klasse verlassen!! Die Dummen sind die „ Zahler“ die dann im nächsten Jahr mehr zahlen werden! Was für ein Zeichen an die Nichtzahler ;-))

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