Festivaleröffnung am Maxim-Gorki-Theater - Praktiken des Widerstands

Das Maxim Gorki Theater erinnert mit dem vierwöchigen Festival "Gezi - Ten Years After" an die Demonstrationen im Istanbuler Gezi-Park. Bei der Eröffnung am Freitag wird wenig diskutiert, aber viel Interessantes gezeigt. Von Barbara Behrendt
Vor genau zehn Jahren demonstrierten die Menschen im Istanbuler Gezi-Park zuerst gegen das Fällen von Bäumen - und dann gegen die einsetzende Polizeigewalt. Elf Menschen kamen ums Leben, Tausende wurden verletzt. Die Bäume stehen noch immer im Park, ein gutes Zeichen. Doch wie sieht es sonst zehn Jahre später mit dem Widerstand aus? Das will "Gezi - Ten Years After" mit Ausstellungen, Konzerten, Filmen, Diskussionen und Theater beleuchten und zugleich in die Zukunft weisen [gorki.de]. In einer gemeinsamen kuratierten Arbeit haben Journalist:innen, Künstler:innen, Aktivist:innen das Programm erstellt, ganz im Geiste des solidarischen "Gezi-Feelings".

Über die Stichwahlen wird kaum gesprochen
Die Eröffnung fällt auf den Tag vor den richtungsweisenden Stichwahlen in der Türkei - doch beim sogenannten "Opening Forum" am Freitag, bei dem dezidiert über Politik gesprochen werden soll, sind die Wahlen nur am Rande Thema. Inhaltlich bleibt die Eröffnung eine PR-Veranstaltung, bei der knapp zwei Stunden lang (!) das Festivalprogramm vorgestellt wird - mit Mini-Reden der rund 15 Kurator:innen, doch ohne jeden Austausch.
Es ist eine verpasste Chance, sich zu solidarisieren, über die Wahlen und die Auswirkungen zu sprechen. Selbst die Gorki-Intendantin Shermin Langhoff liest lediglich ab, was sie im Editorial des Programmhefts veröffentlicht hat: Wie sie damals, als sie vor zehn Jahren privat nach Istanbul reist, die Proteste zunächst vollkommen unterschätzt - und dann selbst eine Demonstrierende wird.
Einer der wenigen, der politische Gedanken äußert, ist der Journalist und Mitkurator Can Dündar. Der Abstieg der AKP, sagt er, habe 2013 begonnen und hänge mit den Gezi-Protesten zusammen. Die Folgen des Widerstands seien also oft erst viel später zu erkennen. Würden die Wahlen morgen verloren, sei das nicht das Ende. Er zitiert Beckett: "Wieder versuchen, wieder scheitern, besser scheitern". Die Stimmung bei dieser Eröffnung ist durchweg eine des herzlichen, optimistischen, solidarischen Kampfes.
Symbolische Geisteraustreibung
Eine kraftvolle politische Intervention gibt es danach draußen und mithilfe aller Zuschauenden zu erleben. Das Theater verteilt 150 Exemplare von Büchern, die 1933 auf dem Bebelplatz verbrannt worden sind, und führt eine Prozession von etwa 200 Menschen hinüber auf den Platz. Dort sind alle aufgerufen, aus den verbrannten Büchern vorzulesen: Brecht, Feuchtwanger, Zuckmayer. Eine starke und symbolische Böse-Geister-Austreibung. Bei der arg knalligen Performance "Eviction", also Räumung, jagen dann mitten unter den Zuschauenden Performer:innen in Polizeiuniform andere Performer:innen und imitieren Staatsgewalt.
Lohnt sich: „Museum der kleinen Dinge“
Als lohnenswert erweisen sich die vielen Ausstellungen im und ums Gorki-Theater. Das "Museum der kleinen Dinge" etwa, von Can Dündar mitkuratiert. Taner Şahintürk und Sesede Terziyan erzählen in kleinen Videos die Geschichten der Alltagsgegenstände von politischen Gefangenen, die hier ausgestellt werden. Etwa, wie Mitglieder der Musikgruppe Grup Yorum aus Einwegrasierern eine Panflöte und aus einem Röntgenbild ein Tamburin basteln und damit neue Lieder im Gefängnis schreiben. Zwei Mitglieder starben 2020 im Hungerstreik.
Uraufführung: „Alles wird schön sein“
Im Gorki-Studio folgt am Eröffnungsabend Hakan Savaş Micans Uraufführung "Alles wird schön sein". Ein kleiner, einstündiger Liederabend über einen Mann Mitte 40 namens Ali, den Taner Şahintürk spielt. Er wird an einem Gehirntumor sterben und möchte seiner ungeborenen Tochter ein Mix-Tape mit Liedern hinterlassen, wie man es in den 1980ern aufnahm. Dafür steht dieser Ali nun mit befreundeten Musiker:innen auf der Bühne und singt sich durch eine wilde Mischung aus Roberto Blanco und Depeche Mode bis hin zu türkischen Liedern, die Merve Akyildiz wunderbar sehnsüchtig interpretiert.
Mit den Songs steigen die Erinnerungen in Ali hoch: In Berlin geboren, an der Schwarzmeerküste aufgewachsen und nach 20 Jahren wieder zurück in Deutschland. Das Stück erzählt deutsch-türkische Migrationsgeschichte - mit sentimentalem Touch, wie immer bei Mican. Die Hauptfigur, das bleibt die Stärke der Geschichte, ist kein linker, oppositioneller Held. Stattdessen wächst Ali derart indoktriniert in der Türkei auf, dass er nationalistische Parolen schwingt, mit 15 seinen großen Bruder als "Kommunisten" verrät, und beim Massaker von Sivas 1993 auf der Straße applaudiert. 37 alevitische Künstler:innen wurden damals von einem Mob in einem Hotel lebendig verbrannt. Dafür schämt Ali sich heute und dafür hasst er die Türkei, wie bei der Aufführung deutlich wird.
Ein reichhaltiges politisches Festival
Am Ende ist es ein emotionaler, warmherziger Abend, der doch zum Nachdenken anregen kann; über die zerrissenen Biografien zwischen den Ländern, über die Entwicklungen der Türkei.
"Gezi – Ten Years After" präsentiert sich als wichtiges, reichhaltiges politisch-aktivistisches Festival, bei dem übrigens nicht nur der Widerstand in der Türkei im Zentrum steht, sondern auch in Iran, Syrien und überall auf der Welt.
Sendung: rbb24 Inforadio, 27.05.2023, 7 Uhr
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