Ein Jahr Nahost-Krieg - Wie zwei Frauen in Berlin das Leid nach dem 7. Oktober verarbeiten

Di 01.10.24 | 07:36 Uhr | Von Tina Friedrich, rbb24 Recherche
Maya Wolffberg (li.) und Jaklin Schilbaya
rbb
Video: rbb24 Abendschau | 01.10.2024 | Annekathrin Ruhose | Studiogast: Shai Hoffmann | Bild: rbb

Angst um die Familie im Nahen Osten, zunehmender Rassismus und Antisemitismus auf Berliner Straßen: Zwei Frauen - eine mit israelischen, eine mit palästinensischen Wurzeln - haben Tina Friedrich erzählt, wie der Nahost-Krieg sie verändert hat.

"Nach dem 7. Oktober konnte ich wochenlang nicht kochen." Nachdenklich schneidet die Israelin Maya Wolffberg Tomaten in kleine Stücke. In dieser Zeit habe sie starke Magenprobleme gehabt - Maya vermutet den Überfall der Hamas auf Israel als Grund. "Ich habe von vielen Israelis gehört, die nach diesem Tag gesundheitliche Probleme hatten", sagt sie.

Für heute Abend aber hat Maya ein paar Freunde zu sich nach Hause in Mitte eingeladen. Es gibt Shakshuka. "Ich war wie alle Israelis zwei Jahre beim Militär. Das Essen da war nicht besonders. Aber wenn wir selbst kochen konnten, haben wir Shakshuka gemacht." Tomaten, Zwiebel und Paprika landen in der Pfanne. Es zischt und brutzelt.

Ein paar Kilometer weiter in Kreuzberg öffnet Jaklin Schilbaya ihrer Schwester Shirin die Tür. Shirin ist gekommen, um Jaklins Hände mit kunstvollen Schnörkeln aus Henna zu bemalen. In einer Woche wird Jaklin heiraten. Sie schiebt die Ärmel hoch. Ihre Schwester setzt die Farbtube an. "Das vergangene Jahr hat eine riesige Rolle dabei gespielt, meine Identität zu festigen", sagt Jaklin. Seit dem Kriegsausbruch sind ihr traditionelle Rituale wie eine Henna-Feier vor ihrer Hochzeit wichtiger geworden. "Je schnörkeliger, je arabischer, desto besser." Sie lacht ein bisschen verlegen. Als Kind habe sie sich für ihre Herkunft geschämt, sagt sie. "Ich habe den Rassismus internalisiert, der mir widerfahren ist. Ich wollte unbedingt eine 'gute' Araberin sein."

Maya und Jaklin - zwei Frauen in Berlin, eine israelische und eine palästinensische. Sie teilen die Erfahrung, den Nahost-Krieg aus der Distanz zu erleben, während er sie unmittelbar betrifft.

Wurzeln in Nahost – Leben in Berlin

Jaklin hat als Baby in Jordanien und im Westjordanland gelebt, bevor sie kurz vor ihrem zweiten Geburtstag mit ihren Eltern nach Berlin kam. Sie wächst in Kreuzberg auf, geht hier zur Schule und studiert Volkswirtschaftslehre. Nebenbei macht sie journalistische Praktika und Social-Media-Jobs.

Maya hat ihre Kindheit und Jugend in Israel verbracht. 2017 zieht sie nach Berlin. Ihr jüdischer Großvater hat hier in einem Keller versteckt als kleines Kind die Shoah überlebt. Ihre Familie lebt noch immer in Israel. Maya lernt etwas Deutsch, arbeitet in einem Verein, der sich für die Erinnerung an den Holocaust, die Verständigung innerhalb der israelischen Community und gegen Antisemitismus einsetzt.

"Man muss sein Gesicht zeigen"

Zwei Monate nach Kriegsbeginn konnte Maya zum ersten Mal wieder für Freunde kochen, erzählt sie, während sie das traditionelle Brot, die Challa, flicht und mit Sonnenblumenkernen und der Gewürzmischung Za’atar bestreut. "Wirklich zu 100 Prozent das Leben genießen kann ich aber nicht mehr." Ihr Mann schlägt Eier in die Pfanne mit dem Tomaten-Paprika-Ragout. Er erzählt, dass im Kiez Hakenkreuze aufgetaucht seien.

Die diffuse Bedrohung durch antisemitische Schmierereien wird für Maya spürbar größer. Im Lauf der Monate setzt sie sich mit ihrer Angst auseinander. "Ich habe gelernt, dass man Antisemitismus nicht im Verborgenen bekämpfen kann. Man muss sein Gesicht zeigen." Sie beginnt, bei Mahnwachen nicht nur teilzunehmen, sondern auch Reden zu halten. Sie nennt bei Interviews ihren vollen Namen.

Ihre Hochzeit im Juli feiert sie im "Bajszel", einer linken Kulturkneipe mitten in Neukölln, die immer wieder Ziel antisemitischer Angriffe ist. Die Wahl der Location ist kein Zufall. Mayas Großvater wurde 1940 in Neukölln geboren und verbrachte die letzten drei Kriegsjahre hier versteckt in einem Keller. "Es ist mein Sieg über die Geschichte: Ihm hat damals niemand wirklich geholfen, er konnte hier nicht aufwachsen, aber ich bin heute hier und ich heirate hier."

"Alles, was mit Palästina assoziiert ist, wurde kriminalisiert"

Jaklins Hände sind überzogen von blumigen Girlanden und Punkten. Ihre Schwester beginnt, ein stilisiertes Tatreez-Muster, palästinensische Stickereien, auf eines ihrer Handgelenke zu malen. Vor einem Jahr hat Jaklin dem rbb ein Interview gegeben, anonymisiert unter einem anderen Namen. Heute zeigt sie Gesicht. "Ich habe begriffen, dass ich nicht Teil dessen sein will, was ich ständig kritisiere: Dass wir nicht repräsentiert werden."

Nach dem 7. Oktober zieht sie sich zunächst zurück. "Ich habe das Gefühl bekommen, ich soll nicht existieren." Verwandte im Gazastreifen kommen bei einem Angriff ums Leben. Zu dieser Zeit arbeitet sie gerade in einer Berliner Redaktion. Bei einer Redaktionskonferenz erzählt sie, dass sie trauert. "Ich habe dann Sätze gehört wie: Deine Verwandten sind ein Kollateralschaden. Diese Tode dienen einem höheren Zweck." Die Reaktion der Kolleginnen trifft sie hart. "Das hat uns als Volk entmenschlicht."

Die Entmenschlichung wird Jaklins zentrale Erfahrung der ersten Monate nach dem Kriegsausbruch bleiben. "Niemand fragt uns: Was hört ihr eigentlich für Musik, was gibt es bei euch für Künstler?" Stattdessen: Fragen zu Terror und Antisemitismus. Viele bitten sie, sich von der Hamas zu distanzieren. Für Jaklin unverständlich. "Alles, was mit Palästina assoziiert ist, wurde kriminalisiert. Ich musste erst beweisen, dass ich nicht kriminell bin."

Gespaltene Gefühle zu Demonstrationen in Berlin

Maya macht seit vielen Jahren die Erfahrung, dass Menschen nicht wollen, dass ihr Volk existiert. Die Solidarität der Gesellschaft erlebt sie zunehmend weniger. "Nach dem 7. Oktober kamen etwa 1.000 Menschen zum Gedenken am Bebelplatz. Das war das erste Mal, dass ich in Berlin überhaupt so etwas wie Solidarität mit Juden gespürt habe." Seither nehmen die Angriffe zu und die Teilnehmerzahlen ab. Zu einer Mahnwache, die Maya im September besucht, kommen gerade einmal rund 70 Menschen, wie sie sagt. "Ich habe das Gefühl, dass hier etwas in der Gesellschaft versagt."

Bei den Demonstrationen auf palästinensischer Seite sieht es anders aus: Hunderte Teilnehmer mehrfach pro Woche. In die Berichterstattung schaffen es oft nur die Antisemiten, die die Demonstrationen für ihre Zwecke kapern. "Für mich bedeutet ein freies Palästina nicht die Nichtexistenz Israels", sagt Jaklin. "Die Rückkehr aller Palästinenser bedeutet für mich nicht die Verdrängung aller jüdischen Menschen. Ich bin für Koexistenz."

Jaklin hat keine Staatsbürgerschaft. Wie bei vielen Palästinensern gilt ihre Staatsangehörigkeit als ungeklärt. Dadurch kann sie beispielsweise nicht wählen gehen. "Aber das Recht zu demonstrieren kann ich wahrnehmen. Das ist meine Art, mich an der Demokratie zu beteiligen." Die Solidarität, die sie auf Demonstrationen empfunden hat, hat sie darin bestärkt, offener und selbstbewusster mit ihrer Identität umzugehen.

Fokus auf die eigene Community

Rückhalt hat Maya vor allem innerhalb der israelischen Community gefunden, erzählt sie, während ihr Mann den Tisch deckt. Im vergangenen Jahr seien diese Freundschaften noch enger geworden. "Wir hatten das Gefühl, nur wir könnten uns gegenseitig verstehen." Viele andere hätten etwas typisch Jüdisches nicht verstanden: "Wenn in Israel jemand ermordet wird, dann ist das für uns so, als ob ein Familienmitglied stirbt. Wir fühlen den Schmerz genauso." Mit ihren Freunden teilt sie an diesem Abend neben Shakshuka, Challa-Zopf und Wein auch dieses Grundverständnis.

Jaklin und Shirin sind im Festsaal angekommen. Letzte Vorbereitungen. Sie verteilen Geschenke in rot-glitzernden Körben. Am nächsten Tag werden in diesem Raum 200 Frauen aus aller Welt tanzen. Ein Safe Space, in dem sie ohne Männer und ohne Kopftücher Jaklins Übergang in einen neuen Lebensabschnitt feiern. "Tatsächlich werden morgen auch jüdische Freundinnen da sein", sagt Jaklin und schmunzelt. "Obwohl wir laut der Gesellschaft auf unterschiedlichen Seiten stehen, haben wir trotzdem sehr oft dasselbe empfunden." Sie sagt, antimuslimischer Rassismus sei in den letzten Monaten stark gestiegen, genauso wie Antisemitismus. Dass sie in Deutschland für ihre Identität angegriffen und konfrontiert werden, diese Erfahrung hätten sie gemeinsam.

Beitrag von Tina Friedrich, rbb24 Recherche

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