Interview | Petra Paus Abschied aus dem Bundestag - "Wir Demokraten haben eine Niederlage erlitten"
Als "gottlose Type" wurde sie einst beschimpft, nun verlässt Petra Pau den Bundestag als dessen dienstälteste Vizepräsidentin. Zum Abschied blickt sie mit Sorge auf die Lage der deutschen Demokratie - und sagt Antisemitismus von links den Kampf an.
Petra Pau, 1963 in Ost-Berlin geboren, wurde 1990 - damals noch für die PDS - Bezirksverordnete in Berlin-Hellersdorf. 1992 bis Ende 2001 war sie Landesvorsitzende der PDS. 1995 errang sie ein Direktmandat für das Berliner Abgeordnetenhaus. 1998 zog die Politikerin überraschend direkt in den Bundestag ein. Heute ist Pau nicht nur eine der bekanntesten Politikerinnen der Linken, sondern auch die dienstälteste Vizepräsidentin des Bundestages.
rbb|24: Frau Pau, Sie scheiden als dienstälteste Vizepräsidentin aus dem Bundestag aus. Sie haben aber schon jedem, der es hören wollte - und vielleicht auch manchen, die es nicht hören wollten - gesagt: Los werdet ihr mich nicht. Also doch kein Abschied?
Petra Pau: Ein bisschen schon. 27 Jahre im Deutschen Bundestag ist eine lange Zeit. Ich habe den Bundestag aus sehr unterschiedlichen Perspektiven erlebt: 1998 noch in Bonn am Rhein, dann der Umzug nach Berlin, die Zeit, in der ich mit Gesine Lötzsch allein, ganz hinten, fast draußen im Bundestag saß, als meine Partei, die damals noch PDS hieß, die Fünf-Prozent-Hürde verpasst hat. Und nun seit April 2006 als Vizepräsidentin des Bundestages. Da hat sich einiges angesammelt, und im Moment habe ich noch nicht so ganz das Gefühl, was es heißt, wenn ab Ende nächster Woche nicht mehr der Sitzungswochenkalender meinen Lebensrhythmus und den meiner Familie bestimmt.
Hat sich die Familie und haben vor allem Sie sich auf diese Zeit irgendwie mental eingestellt?
Naja, mein Kalender ist noch ganz gut gefüllt in diesem Jahr. Aber ja, das wird eine gewisse Umstellung. Ich habe es seit Jahren abgelehnt, in Vereine einzutreten. Zum Jahresbeginn habe ich eine Ausnahme gemacht: Mein Mann und ich sind gemeinsam in den Kleingartenverband Marzahn-Hellersdorf eingetreten, und tatsächlich werde ich ab April Gärtnerin.
Kleingartenvereine in Berlin sind durchaus politisch. Werden Sie sich auch politisch im Kleingärtnerwesen engagieren?
Es gibt ja im Moment eine aktuelle Auseinandersetzung hier in dieser Stadt über die Sicherung der Kleingärten. Das begleitet mich eigentlich seit 1990, als ich in der Bezirksverordnetenversammlung Hellersdorf begonnen habe, parlamentarisch zu arbeiten. Insofern werde ich mich da auch einmischen. Aber gleichzeitig freue ich mich, meinen kleinen Balkongarten jetzt zu erweitern.
Ihr Bundestagsbüro müssen Sie aber räumen. Was nehmen Sie mit?
Es stehen viele Umzugskisten mit dem Erbe der vergangenen 27 Jahre da, die in die Rosa-Luxemburg-Stiftung umziehen. Das war in den letzten Wochen schon ziemlich bewegend, diese 27 Jahre auch in Form von Akten, Fotos, Interviews und anderem nochmal vorbeiziehen zu lassen. Zum Besipiel die Debatte um das erste Einwanderungsgesetz in der Bundesrepublik, oder meine Tätigkeit in zwei NSU-Untersuchungsausschüssen, wo wir uns damit befasst haben, warum es möglich war, dass Nazis über zehn Jahre lang mordend und raubend durch die Bundesrepublik ziehen. Ich kann es hier auch sagen: Ich habe noch Bücher abzugeben!
Der Wochenzeitschrift "Die Zeit" haben Sie kürzlich gesagt, dass Sie sich durchaus unwohl fühlen, durch den Bundestag alleine zu gehen, weil die Stimmung sich durch den Einzug der AfD deutlich verändert hat. Was genau hat sich verändert?
2017, als diese Fraktion das erste Mal in den Bundestag einzog, haben wir plötzlich in den Gängen Menschen gegenüberstanden, denen wir ansonsten im Februar in Dresden gegenübergestanden, als europaweit Nazis das Gedenken an die Opfer der alliierten Bombenangriffe instrumentalisiert haben und versuchten, die Geschichte umzuschreiben. Die sind jetzt zum Teil Mitarbeiter dieser Fraktion.
Aber ich bemerke auch, dass sich die oftmals sehr aufgeregte, aufgeheizte und manchmal auch von Hass gekennzeichnete Stimmung in der Gesellschaft, beispielsweise mit Besuchergruppen auch dieser Fraktion, plötzlich im Bundestag fortsetzt. Das ist nicht gut, weil der Bundestag einerseits ein Ort der Debatte, der Auseinandersetzung sein soll, aber gleichzeitig natürlich für das Mittun in der Demokratie werben soll.
In was für einem Zustand befindet sich Ihrer Meinung nach derzeit die deutsche Demokratie? Ihr Parteigenosse Bodo Ramelow in Thüringen hat teilweise schon Vergleiche gezogen zu den 1920er und 1930er Jahren.
Erich Kästner hat in den 1950er Jahren einmal gesagt: Die Entwicklungen von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Ich habe lange darüber nachgedacht, was war 1928? Und dann bin ich auf ein Zitat gestoßen, von Goebbels, damals NSDAP-Reichstagsabgeordneter. Er beschrieb, was die NSDAP in den Parlamenten will: Mit den Mitteln, die ihnen durch eine demokratische Wahl in die Hand gegeben wurden, die demokratischen Institutionen und die Träger derselben zu zerstören. Dieses Zitat hat Herr Höcke in Anwesenheit von Herrn Gauland 2018 auf dem sogenannten Kyffhäuser-Treffen adaptiert, als er über die Zielstellung zu den damaligen Landtagswahlen in Thüringen, in Sachsen und auch in Brandenburg gesprochen hat. Und seitdem erlebe ich genau das auch im Agieren der Fraktion im Parlament.
Mein Fazit ist, dass wir, die Demokraten - auch aus den anderen Parteien - eine Niederlage erlitten haben. Es ist möglich geworden, demokratische Institutionen zu beschädigen. Parteien finden zum Teil für Kommunalwahlen keine Kandidatinnen und Kandidaten mehr, weil sie sich vor Übergriffen auch auf ihre Familien - fürchten, oder keine Wertschätzung für das - oft auch ehrenamtliche Engagement - erfahren.
Der 21. Bundestag ist gut beraten, endlich das seit zwei Legislaturperioden nicht umgesetzte Demokratiefördergesetz nicht nur zügig zu beraten, sondern zu beschließen. Es reicht nicht, an ehrenamtliches Engagement, an Zivilcourage zu appellieren, sondern es braucht Strukturen, die Prävention betreiben oder auch intervenieren. Das macht mir alles ein wenig Sorge, dass das nicht gelungen ist. Und die letzten Entscheidungen, die der 20. Bundestag noch getroffen hat, lassen im Moment auch nicht vermuten, dass das oben auf der Tagesordnung der wahrscheinlich zukünftigen Koalitionäre steht.
Sie selbst sind über die Parteigrenzen hinweg eine sehr anerkannte Politikerin, auch in Reihen der CDU. Warum wird bei der Brandmauer-Diskussion immer auch über die Brandmauer zwischen CDU und den Linken gesprochen?
Es gibt viel mehr Freundschaften zwischen Linken und CDU-Abgeordneten oder FDP-Abgeordneten, als man vermutet. Deshalb hoffe ich auch, dass in Zukunft die CDU ihre Unvereinbarkeitsbeschlüsse überdenkt. Wir sollten nicht ein solches Theater der Abgrenzung aufführen, wo eigentlich keine Abgrenzung da ist und wo wir gemeinsam auch viel stärker für die Demokratie streiten können.
Muss auch die Linke Brandmauern abbauen?
Ich habe mir vor einiger Zeit darüber Gedanken gemacht, was Links sein im 21. Jahrhundert bedeutet. Das kann man bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung nachlesen oder auch in der Kurzfassung auf meinem YouTube-Kanal nachhören. Schon bevor meine Partei sich selbst in eine große Krise in den vergangenen Jahren manövriert hat, gab es meine Forderung nach einer dritten Erneuerung: einer programmatischen Debatte, um Antworten auf die neuen Fragen des 21. Jahrhunderts von links zu geben. Das bleibt auch jetzt mit den Wahlergebnissen vom 23. Februar dringend notwendig.
Was verstehen Sie darunter? Dass sich die Linke zum Beispiel von Ideen des Sozialismus verabschiedet?
Nein. Ich bin überzeugte demokratische Sozialistin. Aber wir haben neue technologische Entwicklungen, die Digitalisierung durchdringt alle Lebensbereiche. Natürlich wird eine Linke immer die soziale Frage voranstellen. Aber sie muss auch linke Antworten dazu liefern, was das mit den Menschen macht und wie man soziale Gerechtigkeit und die Stärkung der Demokratie erreicht. Und ein Thema, welches nicht erst seit Beginn des verbrecherischen Angriffskriegs Russlands gegenüber der Ukraine auf der Tagesordnung steht, ist die Frage von Friedenspolitik im 21. Jahrhundert. Wir wollen nicht vergessen, wie viel kriegerische Auseinandersetzungen und Flucht - nicht nur vor Krieg, sondern auch vor den Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels – es gibt. Hier muss eine linke Partei ganz deutlich auch artikulieren, wofür sie ist und wie sie das mit möglichst vielen Mitstreitern erreichen will.
War die Linke in der Vergangenheit zu sehr darauf konzentriert, gegen etwas zu sein, als prädestinierte Oppositionspartei?
Opposition ist erstmal etwas ganz Wichtiges. Ich habe in den 1990er Jahren als Landesvorsitzende meiner Partei Wahlkämpfe verantwortet, da haben wir plakatiert: "Veränderung beginnt mit Opposition". Von 2002 bis 2005, als ich mit der Kollegin Gesine Lötzsch allein im Deutschen Bundestag saß, wurden unsere sozialen Sicherungssysteme komplett umgebaut. Stichwort Hartz I bis IV. Wenn ich damals am Redepult stand und die Einführung eines Mindestlohns gefordert habe, dann waren alle anderen im Bundestag vertretenen Parteien dagegen. Heute kommt kein ernstzunehmender Politiker um die Frage eines Mindestlohns herum. Das heißt, wir haben auch in der Opposition über all die Jahre in den unterschiedlichsten Konstellationen etwas erreicht. Opposition ist eine sehr verantwortungsvolle Tätigkeit und muss natürlich gesellschaftliche Debatten auch entsprechend befördern, sodass dann das später in Parlamenten auch abgebildet wird.
Die Kernthemen der Linken sind doch aber gerade überall präsent: Krieg in Europa, unbezahlbare Mieten in den Städten, mehr Armut. Stattdessen ist die Linke in eine tiefe Krise gerutscht, und auch der letztlich erfolgreiche Wahlkampf war zunächst vor allem ein Überlebenskampf. Wie kann das sein?
Ich glaube, wir müssen einerseits zur alten Stärke zurück. Das heißt, dass die Linke eine Kümmererpartei ist. Da hat sie in den letzten Monaten tatsächlich auch neue Instrumente entwickelt. Den Mietwucherrechner zum Beispiel. Wir haben hier Instrumente entwickelt, mit denen sich Menschen ganz konkret mithilfe der Linken wehren können. Ich hoffe sehr auf die Kreativität unserer Mitglieder und darauf, dass die Vorstände von der kommunalen Ebene bis zum Bundesvorstand das immer wieder zusammen denken.
Zur Krise der Linken gehört natürlich auch das Thema Nahostkonflikt und Antisemitismus. Im Oktober 2023 haben Sie den Landesparteitag, der über der Frage des linken Antisemitismus im Eklat endete, gemeinsam mit anderen prominenten Mitgliedern aus Protest verlassen, aber - anders als zum Beispiel Klaus Lederer - nicht die Partei.
Ich bedauere sehr, dass Klaus Lederer und Elke Breitenbach aus der Partei Die Linke ausgetreten sind. Beide haben unfassbar viel für diese Partei und die Stadt Berlin geleistet. Ich setze mich seit vielen Jahren nicht nur mit dem Thema Antisemitismus auseinander. Das habe ich über all die Jahrzehnte nicht nur begleitet, sondern an manchen Stellen zumindest für die Linke auch mitgeprägt. Das ist nicht ohne Auseinandersetzungen geblieben - und im Moment gibt es die wieder, auch auf der Grundlage von ziemlich viel Unwissen und historischen Irrtümern. Dazu gehört übrigens auch die Auseinandersetzung mit dem Grundirrtum, der meine Jugend in der DDR geprägt hat.
Ich bin mit dem Glauben aufgewachsen, und es wurde mir in der Schule vermittelt, dass Palästinenser Freiheitskämpfer sind und Bürgerinnen und Bürger des Staates Israels zum sogenannten imperialistischen Block gehören. Das ist sehr, sehr viel Unsinn und zeigt auch eine ganze Menge an Nichtwissen. Ich habe mir vorgenommen, diesen Kampf nicht aufzugeben innerhalb der Linken. Und meine Partei hat mich insofern nicht enttäuscht, dass sie auf den folgenden Bundesparteitagen die von mir eingenommenen Positionen bekräftigt hat.
Antisemitismus ist konstituierend für die Rechten. Es gibt Antisemitismus, der ist islamistisch geprägt. Und es gibt Antisemitismus quer durch die gesellschaftlichen Schichten - und ja, auch in der gesellschaftspolitischen Linken, was ich ablehne.
Und da werden Sie mich auch nicht los.
Welche Rolle spielen in dieser Diskussion die Palästinenser? Die sind - zumindest in der Darstellung vieler Linker auf israelkritischen Demos in Berlin zum Beispiel - die Schwächeren in diesem Konflikt. Und für die Schwächeren setzt sich die Linke doch immer ein.
Die Linke muss sich für alle Menschen, die unter Druck stehen, denen das Menschenrecht abgesprochen wird, entsprechend engagieren und diese auch unterstützen. Aber jemand, der Kinder entführt oder gar ermordet, ist für mich kein Freiheitskämpfer. Das sind auch die Grenzen, was das Thema Demonstrationen betrifft. Ich finde es unerträglich, was der Zivilbevölkerung in Gaza widerfährt, unter welchen Bedingungen sie dort leben.
Gleichzeitig begibt sich manch einer offensichtlich auch selbstbestimmt in Geiselhaft der Hamas. Und die Hamas nimmt sie eben auch als Schutzschild. Aber wir lösen all diese Fragen weder auf den Straßen Neuköllns, noch im Audimax der Alice-Salomon-Hochschule bei mir in Hellersdorf. Da, wo andere Menschen verächtlich gemacht werden, herabgesetzt werden, da ist eine Linke gut beraten, nicht nur das Stoppschild aufzustellen, sondern sich an die Seite genau dieser diffamierten Menschen zu stellen.
Gibt es irgendeine Chance, dass Ihnen die Welt in Marzahn-Hellersdorf in Ihrem Kleingarten doch noch mal zu klein wird und Sie kommen zurück, in die Berliner Landespolitik?
Auch darüber reden wir nicht. 1995 haben wir in Hellersdorf Geschichte geschrieben: Auf einer Couch, die der damals ganz junge CDUler Mario Czaja ins Kulturforum Hellersdorf getragen hatte, gab es die bundesweit erste inhaltliche Diskussion zwischen einem CDU-Politiker, Elmar Pieroth, und einer PDS-Politikerin, mir. Es lief die Rote-Socken-Kampagne der Bundes-CDU. Pieroth, damals Senator, kriegte Ärger in der CDU: Mit Kommunisten redet man nicht! Und ich kriegte Ärger in meiner Partei: Mit dem Klassenfeind redet man nicht! 1995 bin ich dann ins Abgeordnetenhaus gewählt worden. Und 1998, etwas unplanmäßig, das erste Mal direkt in den Bundestag.
Ich finde, nach all den Jahren sind jetzt erst einmal andere dran. Ich bin gern bereit, meine Erfahrungen zur Verfügung zu stellen. Aber jetzt schließe ich erst einmal meine Bundestagszeit ab. Zumindest lebe ich ab nächster Woche nicht mehr im Rhythmus der Sitzungswochenkalender.
Das Interview mit Petra Pau führte Sebastian Schöbel für rbb24 Inforadio.
Der Text ist eine redigierte und gekürzte Fassung. Das komplette Gespräch können Sie oben im Audio-Player nachhören.
Sendung: rbb24 Inforadio, 18.03.2025, 10:00 Uhr
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